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Mk 12, 28-34 | Jes 66, 18-21 | Hebr 12, 5-7.11-13 | Lk 13, 22-30 |
Der 10. Sonntag nach Trinitatis ist einer der wenigen Sonntage in der evangelischen Perikopenordnung, der mit zwei Proprien, d.h. mit zwei möglichen Schwerpunkten, ausgestattet ist. Jedes Propium hat seine eigenen Texte und Wochenlieder. Der Grund für diese Dopplung liegt in der Geschichte des 10. Sonntags nach Trinitatis, der seit dem 16. Jahrhundert als Israelsonntag begangen wird und der Beziehung zwischen Jüdinnen*Juden und Christ*innen gewidmet ist. Nicht allein wegen der zeitlichen Nähe zum 9. Aw, dem jüdischen Trauertag anlässlich der Zerstörung des Tempels und Jerusalems, erinnerte der Israel-Sonntag an die Zerstörung und deutete diese meist antijüdisch als Zeichen der Verwerfung Israels. Im 19. Jahrhundert war er sogar der Sonntag, an dem die Judenmission, d.h. die spezifische Missionsarbeit unter Jüdinnen*Juden, im Mittelpunkt stand. Die neue Perikopenordnung der EKD trägt diesem Sachverhalt kritisch Rechnung: einerseits indem sie das Proprium „Gedenktag der Zerstörung Israels“ beibehält, jedoch vorschlägt, ihn solidarisch mit dem Judentum als Trauergottesdienst bzw. angesichts der eigenen antijudaistischen Verstrickungen selbstkritisch als Bußgottesdienst zu begehen, andererseits indem das Verhältnis zwischen Judentum und Christentum positiv in den Blick genommen wird. Letzteres geschieht unter dem Proprium „Israelsonntag: Kirche und Israel“.
Die Geschichte des Israelsonntags und ihre Vertiefung in zwei Proprien lenkt den Blick darauf, dass es Nachhaltigkeit nicht nur in einem positiven Sinne gibt, sondern dass es sie leider auch im Hinblick auf Vorurteile, schlechte Angewohnheiten und verachtungswürdige Traditionen gibt. In unseren Kirchen (evangelisch und katholisch) sind antisemitische und antijudaistische Worte und Einstellungen keinesfalls verschwunden, sondern halten sich hartnäckig, manchmal entgegen den eigenen Wünschen und Vorgaben.
a) Mk 12,28-34 (Proprium „Kirche und Israel“)
Das Gespräch zwischen Jesus und „einem von den Schriftgelehrten“ ist entgegen der landläufigen Bezeichnung kein Streitgespräch. Es geht weder um einen gnadenlosen Wettbewerb um die bessere Auslegung noch um ein argumentatives Aufrüsten im Kampf alternativloser Ideologien. Es geht um die fundamentale, weil grundlegende Einheit zwischen den beteiligten Sprechern der Erzählung. Weder ist das Schriftgelehrtentum der Feind Jesu noch ist das Judentum der Feind des Christentums. Vielmehr wird ein Konsens hergestellt: Der Kern des Judentums ist der Kern des Christentums. Die Ethik, die auf Gottesliebe und Nächstenliebe basiert, ist damit im besonderen Sinne nachhaltig. Sie ist relevanter als jegliche Form von Ritual und Liturgie – so der Schriftgelehrte (V 33: „das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer“) und die christliche Gemeinde, die diese Geschichte liest, antwortet gedanklich mit „Amen“. Angesichts der weitreichenden Klimakatastrophe, in der wir uns befinden, kann natürlich gefragt werden, ob die Gottesliebe und die Nächstenliebe durch eine Schöpfungsliebe erweitert werden müssten. Eine Ethik der Nächstenliebe könnte zu sehr anthropozentrisch verstanden werden, als ob es nur um die Menschen, nicht aber jedoch um Flora und Fauna, nicht um jede Art geschöpflicher Mitwelt gehen müsste. Andererseits ließe sich argumentieren, dass die Liebe Gottes „von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften“ auch den Schutz der Natur als Schöpfung Gottes impliziere.
Die Schöpfung Gottes ist das eine. Ihre Existenz langfristig und nachhaltig zu sichern, ist Teil einer Ethik, die auf Gottesliebe und Nächstenliebe beruht und gegebenenfalls sachgemäß in Richtung Schöpfung erweitert werden kann. Aber ist das Reich Gottes (V 34) nachhaltig? Zugespitzt könnte man sagen: Das Warten auf das Reich Gottes und seine Nähe („Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.“ Mt 3,2) ist auf jeden Fall nachhaltig. Und: Wer Gottesliebe und Menschenliebe ins Zentrum seines Redens und Handelns stellt, ist dem Reich Gottes „nicht fern“ (V 34), er*sie steht dem nachhaltig erhofften Reich Gottes selbst nahe.
b) Lk 19,41-48
Die Perikope mit ihren beiden Teilen (Jesus weint über Jerusalem / Jesus treibt die Händler aus dem Tempel) ist in der christlichen Tradition in der Regel antijudaistisch gedeutet worden. Dieser negativen Nachhaltigkeit gegenüber sollte der Text selbstkritisch gedeutet werden. Weder wird in der Klage über Jerusalem das Judentum dem Christentum gegenübergestellt noch stehen die Händler symbolisch für Jüdinnen*Juden. Auch lässt sich der häufig genannte Titel „Tempelreinigung“ nicht am Wortlaut des Bibeltextes festmachen, sondern gibt vielmehr schon eine antijudaistische Interpretation wider. Dass in der Klage in V 42 die mangelnde Akzeptanz Jesu unter den damaligen Bewohner*innen Jerusalems gemeint sei, lässt sich angesichts des großen Zulaufs des Volks zu Jesus (V 48) nicht halten. Selbstkritisch könnte eher gefragt werden: Erkennen wir, „was zum Frieden dient“? Vernachlässigen wir, dass Kirchen in erster Linie Gebetsstätten sind (V 46), nicht Event-Locations? Einsicht in das eigene Versagen einerseits und Trauer über Fehler sowie Verluste der Vergangenheit andererseits sind notwendig, um nachhaltig neue kooperative Verhaltensweisen einzuüben.
c) Lk 13, 22-30
Die Bildworte von der engen Pforte und der verschlossenen Tür sind ebenfalls Texte, die an der Tradition der negativen Nachhaltigkeit des christlichen Antijudaismus partizipieren. Die, die „von Osten und von Westen, von Norden und von Süden“ kommen (V 29), wurden und werden nur allzu leicht mit uns Christ*innen gleichgesetzt, während die, die draußen vor der verschlossenen Tür stehen werden, vorschnell mit Jüdinnen*Juden identifiziert werden. Doch dies ist bereits Interpretation des Textes. Auch hier sei empfohlen, selbstkritisch zu fragen: Wer steht aus welchem Grunde vor der Tür? Siehe dazu auch das Theaterstück „Draußen vor der Tür“ von Wolfgang Borchert.
d) Jes 66,18-21
In seinen prophetischen Worten ist Tritojesaja einer der Vordenker eines Universalismus, der Jüdinnen*Juden einbezieht und die Hoffnung auf die Restitution Jerusalems mit der Sammlung aller Völker verbindet. Die vorgeschlagene Abgrenzung des Textes ist irritierend. Weder die Hoffnungsworte für Jerusalem (V 10-13: „Freuet euch mit Jerusalem!“ / „“Ich will euch trösten.“) noch die Gerichtsworte über die Völker (V 15-16) sind aufgegriffen. Ebenso geht es der wunderschönen, Nachhaltigkeit betonenden Rede von „neuem Himmel und neuer Erde“ (V 22). Allein bleibt die Vision, dass alle Völker am Heil Jerusalems partizipieren werden und auch die in alle Völker zerstreuten Israeliten (V 20: „eure Brüder“) zurückkehren werden.
e) Hebr 12,5-7.11-13
Kryptisch ist auch hier die Textauswahl. Der Text beginnt mitten im Satz und stellt eine schwarze Pädagogik in den Vordergrund (V 7: „Wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt?“). V 12-13 sind etwas versöhnlicher, warum aber ist V 14 („Jagt dem Frieden nach mit jedermann“) nicht einbezogen? Die „müden Hände und die wankenden Knie“ zu stärken (V 12) und dem Frieden nachzujagen, ließe sich unter der Perspektive der Nachhaltigkeit gewinnbringend auslegen.
Ralf Lange-Sonntag, Ev. Kirche von Westfalen