violett: Röm 11,17-24; 5Mose 30,1-8; Lk 19,41-48; Röm 9,1-5; Jes 27,2-9; Klgl 5,1.11-22 [www.stichwortp.de]
10. Sonntag nach Trinitatis / 19. Sonntag im Jahreskreis
ev. Predigttext | kath. 1. Lesung | kath. 2. Lesung | kath. Evangelium |
Lk 19, 41-48 oder Mk 12, 28-34 |
1 Kön 19, 4-8 | Eph 4, 30 - 5, 2 | Joh 6, 41-51 |
Hören als ökologische Aufgabe
Im Hören übt sich der Mensch in der Selbstbeschränkung. Nicht was er will, denkt, sagt oder fühlt, steht im Mittelpunkt, sondern die Anderen sollen zunächst gehört werden. Eine Kultur des Respekts gegenüber der Umwelt beginnt mit dem Hören auf ihre vielen Stimmen. Luft und Wasser, Tiere und Pflanzen, das Klima und der Nahrung hervorbringende Boden haben ihr eigenes Recht. Sie sind nicht nur Mittel zum Zweck der Beherrschung oder Ausbeutung. Vertrauen untereinander beginnt damit, dass Menschen einander zuhören und dass sie auch auf ihre geschaffene Mitwelt hören. So nimmt auch der Glaube an Gott seinen Anfang im Hören auf ihn. An diesen zentralen Ausgangspunkt ihres Glaubens, der zentraler Bestandteil jüdischen Erbes ist, erinnert sich die christliche Gemeinde am 10. Sonntag nach Trinitatis, dem sogenannten „Israelsonntag“.
Kein Dialog war für die junge christliche Gemeinde von derartiger Bedeutung wie das Gespräch mit den jüdischen Gemeinden in ihrer Nachbarschaft. Denn eine große Zahl der frühen Anhängerinnen und Anhänger Jesu waren selber Jüdinnen und Juden. Sie mussten also in der Regel der Mehrheit der jüdischen Gemeinde erklären, warum sie an Jesus als den Messias glaubten und in seinem Leben, Sterben und Auferstehen Gott am Werk sahen. Der Text Markus 12,28-31 ist ein Ergebnis dieses Dialogs, der unmissverständlich an der Bedeutung des „Höre, Israel“ auch für die christlichen Gemeinden festhält.
Jesu Antwort auf die Frage des Schriftgelehrten nach dem wichtigsten Gebot ist durch und durch jüdisch. Jeder Jude und jede Jüdin würde bis heute genau so antworten. Für orthodoxe Juden gibt es 613 Gebote, aber auf die Frage nach dem wichtigsten, würden auch sie das „Höre Israel“ zitieren. In jedem jüdischen Gottesdienst kommt es vor – vergleichbar in seiner Stellung dem Vater- unser in den Kirchen. Um die Bedeutung zu unterstreichen, bedecken Juden, wenn sie das „Höre Israel“, hebräisch das „Schema“ zitieren, ihre Augen und an den Türpfosten der Wohnungen und Häuser werden kleine Kapseln, die Mesusoth, angebracht, in denen das „Schema“ als Schriftrolle enthalten ist. Es gehört zu jedem jüdischen Morgen- und Abendgebet.
Jesus zitiert das Herz des jüdischen Glaubens. Nur ein antijüdischer, gotteslästerlicher Geist kann ihn von seinem Volk trennen wollen. Die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten gehören für die jüdische Tradition gleichrangig zusammen. Wer die Gottesliebe von der Nächstenliebe trennt, der verfehlt in seiner Liebe auch Gott. Das „Höre, Israel“ ist Gottes väterliche Unterweisung als Muttermilch. In 5. Buch Mose 6,4-9 werden Mose diese Worte aufgetragen, bevor das Volk das „gelobte Land“ betritt. Gerade im „gelobten Land“ soll und darf die grundlegende Bedeutung des Hörens für das Miteinander nicht vergessen werden.
Die Entscheidung, die Gottesliebe und die Nächstenliebe ins Herz des Glaubens zu stellen, hat auch politische und ökologische Konsequenzen. Aus der Liebe zu dem einen Gott und der Liebe zum Nächsten erwächst eine Praxis, die zunächst auf die Not des Menschen hört und in diesem Hören das Seufzen der Schöpfung mithört. Dabei ist festzuhalten: Das Volk Israel ist und bleibt das von Gott auserwählte Volk seiner Weisung. Die Kirche hat in ihrer Geschichte immer wieder versucht, selber dieses auserwählte Volk zu sein und an die Stelle Israels zu treten.
Diese Verdrängung Israels durch die Kirche ist eine der wesentlichen Quellen des christlichen Antijudaismus, ohne den der massenmörderische Antisemitismus der Neuzeit nicht gedeihen konnte. Indem die Kirche Israel nicht als ersten Adressaten dieses „Höre“ verstanden hat, hat sie nicht zugehört. Götzen wir Rasse, Volk und Macht waren ihr wichtiger. Heute heißen die Götzen wirtschaftliches Wachstum, technischer Fortschritt und Wohlstand, denen oft genug die natürlichen Lebensbedingungen geopfert werden.
Es gibt keine Heilsgeschichte ohne das Bündnis Gottes mit Israel, zu dem als äußerer Rahmen die Schöpfung gehört. Wie sehr die Welt auf diesem Willen Gottes zum Leben beruht, haben bereits die Rabbiner in ihrer reichen Auslegungstradition der Tora betont. Im Kapitel I der „Sprüche der Väter“, einer Sammlung rabbinischer Gelehrsamkeit, heißt es: „Mose empfing die Tora vom Sinai und überlieferte sie Josua und Josua den Ältesten und diese den Propheten und diese den Männern der großen Versammlung. Diese sprachen drei Dinge aus: Seid vorsichtig im Urteil! Nehmt viele Schüler an! Macht einen Zaun um die Tora! Simon der Gerechte war einer der letzten Männer der großen Versammlung; er sprach: Auf drei Dingen beruht die Welt: auf der Tora, auf dem Gottesdienst und auf den Liebeserweisungen.“
Zurückhaltung im Urteil und stetige Lernbereitschaft sowie eine Begrenzung des eigenen Handelns durch Hören auf Gottes Weisung sind Kennzeichen einer ökologisch nachhaltigen Lebenshaltung.
Hören verlangt Hingabe und ist ein ganzheitliches Geschehen. Im jüdisch-christlichen Dialog kann auch die gemeinsame Verantwortung für die Schöpfung eingeübt werden. Wie dies gelingen kann, zeigt das ökologische Zentrum „Green Faith, Interfaith Partners in Action fort he Earth“ im US-amerikanischen Bundesstaat New Jersey (www.greenfaith.org). Geleitet von einem Rabbiner und einem protestantischen Pfarrer wird hier versucht, ein breites interreligiöses Bündnis für umweltbewusstes Handeln zu schaffen.
Dabei beginnt alles damit, dass aufeinander gehört wird. Dass dieses Hören auf Gottes Weisung auch stets der Ermutigung bedarf, machen die Texte aus der katholischen Lesereihe deutlich. Der erschöpfte Elia, der gegen die Fruchtbarkeitsgötter seiner Zeit kämpfte, braucht den Zuspruch „Steh auf und iss“, um sich erneut auf den Weg zu Gott zu machen (1. Kön. 19,4-8). Barmherziges und gütiges Miteinander und Vergebung in der Gemeinde sind nötig, damit Menschen immer wieder neu zum Hören auf Gottes Wort eingeladen werden (Eph. 4,30-5,2).
Schließlich stellt sich beim Hören immer wieder die Frage, ob das Gehörte „Brot zum Leben“ ist, d.h. auch über die eigene Endlichkeit und Begrenztheit hinausweist auf Gott, der als Schöpfer des Lebens auch den Tod in seine Schranken verweist (Joh. 6,41-51). So wird die Kunst des Hörens auf Gott zu einer ökologischen Aufgabe, bei der ein rücksichtsvoller Umgang mit der Schöpfung genauso eingeübt wird wie die Liebe zum Nächsten. Wo jedoch nicht gehört wird, gilt: Wer nicht hören will, muss fühlen. Der Geist der offenen und lernfähigen Ohren kann manches Leid und manche Katastrophe vermeiden helfen.
Werner Schneider-Quindeau, Frankfurt am Main