12. Sonntag nach Trinitatis / 21. Sonntag im Jahreskreis
ev. Predigttext | kath. 1. Lesung | kath. 2. Lesung | kath. Evangelium |
Mk 7,31-37 | Jos 24, 1-2a.15-17.18b | Eph 5, 21-32 | Joh 6, 60-69 |
Auf den allerersten Blick legen sich mir keine direkten Anknüpfungspunkte für nachhaltige Aspekte in den vier biblischen Texten für diesen Sonntag nahe. Ich trete einen Schritt zurück und überlege einen anderen Zugang. Ich lese gerade Ingolf Dalferth: Sünde. Die Entdeckung der Menschlichkeit (Leipzig 2020). Das Buch regt mich an, von hier aus auf die Texte zu schauen.
Wenn ich den Begriff Schöpfung nicht vorschnell mit „Natur“ identifiziere, dann hilft mir das einen ersten Schritt weiter. Schöpfung meint dann, die Welt als einen lebendigen Organismus wahrzunehmen, in dem alles mit allem verbunden ist, aber nichts existiert, ohne dass Gott es will. Alles »ist«, weil Gott es will, und er hat »alles gut« geschaffen. Sünde ist dann, um es mit Dalferth zu sagen, „die Grundformel für den Modus einer verfehlten menschlichen Existenz vor Gott. Sie bezeichnet diejenige Weise, als Gottes Geschöpf in Gottes Gegenwart zu existieren, in der man nicht mit Gott rechnet, obwohl man das könnte.“ (41) Und weiter: „Sünde ist nicht nur ein lokaler Schmerz, sondern eine Krankheit, die das ganze Leben infiziert und verändert, und sie ist nicht nur eine individuelle Erkrankung, sondern eine kollektive Pandemie.“ (63)
Das finde ich interessant, weil Dalferth diese Zeilen noch lange vor Corona geschrieben hat, sie aber auf dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie eine besondere Aktualität erhalten. Nachhaltiges, ganzheitliches Leben kann eine Folge des Glaubens sein, durch den ich mich als Mensch so existierend erkenne und in einen anderen Horizont gestellt sehe: In den Horizont, dass Gott „existiert“ und ich und die Welt nur existiere, weil er es will. Schöpfung umfasst dann aber nicht nur die natürliche Mitwelt, sondern auch die von Menschen geschaffene Kultur. Glaube an und durch den sündenvergebenden Gott ermöglich mir dann, mich als Geschöpf in dieser Welt wieder- und einzufinden: indem ich meine Eingebundenheit in natürliche Prozesse ebenso akzeptiere wie die Gestaltungsmöglichkeiten, die sich mir als Mensch unter Menschen eröffnen. Von hier aus ergeben sich dann Spuren, nachhaltiges Leben als Folge dieses Glaubens in den vier biblischen Texten des Sonntags auszumachen, ohne vorschnell zu metaphorisieren. Dazu einige Assoziationen.
Markus 7,31-37 Heilung eines Tauben und Stammelnden
Es geht um Heil und Heilung. Um Gesundheit. Es handelt sich um eine Krankheit, die seinerzeit allgegenwärtig war, ebenso wie Blindheit oder Lepra. Der Text spricht davon, dass Jesus real heilt: „Gut hat er alles gemacht. Die Tauben verwandelt er in Hörende und Stumme in Sprechende“ (Bibel in gerechter Sprache). Von Glauben oder Sünde ist nicht die Rede. Wenn ich Taubheit nicht metaphorisch verstehen möchte, dann bleibt als Fakt stehen, was Ulrich Bach so beschreibt:
„Tatsächlich heilte Jesus Kranke; das war nötig, weil er nur so als Messias gepredigt werden konnte (vgl. Mt 11,2ff u.a.). Das Reich Gottes ist aber nicht da zu uns gekommen, wo Jesus heilt, sondern da, wo er Dämonen austreibt (…). Niemals ist körperliches Intaktsein Voraussetzung für die Teilhabe an Gottes Sache (…) Gottes Heil kann also in seiner irdischen Gestalt durchaus ohne des Menschen Gesundheit Gottes ganzes Heil sein, ohne jeden Punkte-Abzug. Dass sich für Behinderte in Gottes kommendem Reich einiges ändert, ist uns verheißen, aber das ist den Nichtbehinderten genauso verheißen: Gott wird ‚alles‘ neu machen.“ (http://ulrich-bach.de/html/heilungsgeschichten.html)
Allerdings: Heilung und ja, auch Heiler*innen gibt es. Und es gibt Debatten darüber, was Gesundheit ist und was Krankheit. Und darüber, was krank macht in dieser Welt. Ich folge nicht der Spur zu fragen, wie Jesus das gemacht hat, dies führt nicht weiter, denn, wie gesagt, Heilung und Heiler*innen gibt es in der Welt. Auch den Sprung in die Metaphorik halte ich für verfehlt, also zu sagen: Es handelt sich hier „zwar“ um eine reale Heilung eines Tauben und Stammelnden durch Jesus, aber wir verstehen das heute symbolisch. Jesus öffnet unsere durch Unglaube verschlossenen Ohren, sodass wir erlöst und vor Gott heil werden. Ich bleibe lieber bei der knallharten Tatsache, dass Jesus Heilung, Gesundheit als mögliches Ziel im Leben ernst nimmt und tut, was er kann, ohne Gesundheit mit Heil gleichzusetzen. Und ohne nach Schuld oder gar Sünde im Leben des Tauben als Grund für seine Krankheit oder Beeinträchtigung zu fragen. Für mich auf den Punkt gebracht: nachhaltig über diesen Text zu predigen heißt für mich, die falschen Spuren aufzuzeigen und diese Wege zu versperren, um aus falschen Schuldzuweisungen oder Fehlschlüssen („Ich bin ja nicht Jesus“) herauszukommen. Unter der Nachhaltigkeitsperspektive kann ich dann schon bewusst danach fragen, was macht uns krank, wieso ist ein Virus wie Corona so gefährlich und wirksam und was hilft. Aber ich merke, um es poetisch zu sagen, ich bin hier auch ein „Tauber und Stammelnder“.
Josua 24,1-2a.15-17.18b Bundesschluss
Bundesschluss heißt: ich akzeptiere die Sicht Gottes auf mich und die Welt, die Sicht Gottes, dass er diese Welt geschaffen hat, und wir zugleich als Sünder*innen in dieser Welt existieren. Josua verpflichtet das Volk Israel auf diesen Gott, erinnert an die Befreiung aus der Knechtschaft und schreibt (etwas später im Kapitel) all das in das „Buch des Gesetzes Gottes“. Vom Gedanken der Tora her lassen sich dann einzelne Aspekte von nachhaltigen Themen beispielhaft beschreiben, hier bieten sich Erfahrungen aus dem lokalen oder regionalen Umfeld an, um die eigene Handlungsfähigkeit zu unterstützen. Die Tora eröffnet den Weg zum guten Leben.
Epheser 5, 21-32 Haustafel
Die Sozialordnung, die hier als Hintergrund erkennbar ist, unterscheidet sich von der in unseren Tagen. Wir leben in Deutschland in einer Gesellschaft, in der nicht (mehr) der Mann im Haus der Patriarch ist, der über alles, jede und jeden zu entscheiden hat. Eine direkte Übertragung ist nicht möglich. Eine Predigt über diesen Text muss aus meiner Sicht immer diesen Kontrast zur Sprache bringen.
Dennoch durchbricht der Text die herkömmliche Sozialordnung und verlangt aus christlicher Perspektive von den Männern, den Patriarchen und Hausherren, „freiwillig“ auf ihre Macht zu verzichten und ihre Frauen zu lieben wie sich selbst. „Niemand hat je sein eigenes Fleisch gehasst, sondern hegt und pflegt es, wie auch Christus die Kirche.“ (29) Ist das eine Brücke für eine nachhaltige Auslegung, besser, Übertragung des Textes auf gegenwärtige Verhältnisse? Wo bin ich in einer Situation, in der mir die heutige »Sozialordnung« Macht verleiht? Und wo es Sinn macht, mir dieser meiner Macht bewusst zu werden und sie genauso bewusst zu brechen? Unser Umgang mit der Mitwelt, sei sie menschlicher Natur, belebter Natur oder unbelebter Natur entspricht häufig einem absoluten Machtanspruch. Wir gehen mit uns, unseren Mitmenschen, Tieren und Pflanzen, Steinen, Wasser usw. nicht so um, „wie Christus die Gemeinde nährt und pflegt“. Erweitere ich den Text in doppelter Hinsicht, von Frau/Mann und von Gemeinde/Schöpfung auf alle Beziehungen und behalte die notwendigen Dekonstruktionen und Fehlschlüsse im Blick, eröffnet sich eventuell eine nachhaltige Perspektive. Aber, zugegeben, es ist etwas um die Ecke gedacht und für Predigthörer*innen vielleicht weniger geeignet als für die eigene theologische Reflexion.
Johannes 6, 60-69 Harte Rede und Spaltung unter den Jüngern
Wenn Jesu harte Rede mir die Sünde, mir meine verfehlt Existenzweise vor Augen stellt, dann habe ich grundsätzlich zwei Reaktionsweisen: ich kann diese Sicht Gottes auf mich und die Welt, den Gesamtzusammenhang der Schöpfung, akzeptieren oder nicht. Diese neue Sicht, diese erlösende Sicht, gibt dann den Blick frei, mich der Welt neu und anders zuzuwenden. Noch einmal Ingolf Dalferth: „Die Aufdeckung der Sünde durch Gott wird so zum Anfang der Entdeckung unserer Menschlichkeit – der Möglichkeit, als endliche Wesen ein wirklich menschliches Leben zu führen und sich nicht mit einem Leben abzufinden, in dem die Chancen der Mitmenschlichkeit verspielt und die Übel der Unmenschlichkeit durch Rücksichtslosigkeit, Ausgrenzung, Unterdrückung und Ausbeutung weiter perpetuiert werden. (…) Was es heißt, mitmenschlich zu leben, und was man konkret tun könnte oder müsste, um entsprechend zu leben, das müssen wir selbst erkunden, entdecken und umsetzen.“ (418)
Petrus bezeugt diesen Glauben: „Du hast Worte des ewigen Lebens und wir haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes!“ Das Johannesevangelium schärft diesen Gegensatz zwischen Glaube und Unglaube immer wieder ein. Die Wahrheit, dass ich im Kern abhängig von Gott bin, ist nicht angenehm, aber heilsam. Sie zeigt mir meine Verstrickung in die „kollektive Pandemie“ auf und ermöglicht den befreiten Blick auf die Welt, ohne zu moralisieren. Gerade das Corona-Virus zeigt uns in, wie eng wir miteinander verbunden und verwoben, ja, verstrickt sind. Einsatz für ein nachhaltigeres Leben ist möglich, entspricht aber nicht automatisch dem Glauben, genauso wenig wie „Umweltsünden“ irgendetwas direkt mit Sünde im biblischen Sinn zu tun hat. Corona ist daher für mich eine „Gelegenheit“, Schöpfung und Sünde der biblischen Tradition entsprechend zu beschreiben, allen vorschnellen Identifizierungen entgegenzutreten und den Blick frei zu machen für den „fröhlichen Dienst“ an und in der Welt, der aus dem Glauben fließt (Luther). Der Unglaube dagegen erkennt genau darin die harte Rede, die niemand hören kann – ohne zu glauben.
Dr. Matthias Jung, Hannover