Judika / 5. Fastensonntag (13.03.16)

Naurath MunchSchrei

Judika / 5. Fastensonntag

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
Hebr 5, 7-9 Jes 43, 16-21 Phil 3, 8-14 Joh 8, 1-11

Kirchenjahr und Themenstellung

Leiden und Sterben Jesu werden an „Judika“ („Schaffe mir Recht, Gott!“, Ps 43,1), dem fünften und vorletzten Sonntag in der Passionszeit, unter Aspekten des Gehorsams betrachtet – zum einen als die herausragende, heilschaffende Tat des Gottessohnes, zum anderen mit der Aufforderung an die Gemeinden, diesem Retter ungeteilten Glauben zu schenken. Gemeinsam ist den Texten dieses Sonntags, dass sie gegenwärtiges und zukünftiges Heil kontrastierend oder überhöhend anhand vorausgegangener Erfahrungen beschreiben.

Wenn Gott mit dem Recht zugleich Heil und mit dem Heil zugleich Recht schafft, dann versteht sich Gehorsam nicht als servile Haltung Untergebener, sondern als letztendliche Anerkennung und Einwilligung gegenüber der Gnade Gottes.

Hebr 5,7-9

Exegetische Überlegungen

In gehobener, beinahe rhythmischer Sprache mit Anklängen an einen Hymnus stellen diese Verse einen Einschub innerhalb der Perikope (4,14-5,10 Christus der wahre Hohepriester) dar. Die beinahe gleichlautenden Verse 6 und 10 (Melchisedek) bilden den Rahmen. Der Übergang zu V. 7 mit dem Verweis auf den Leidensweg Jesu geschieht unvermittelt - überraschend ist auch die Betonung der Tränen Jesu und seines lauten Schreiens. Aber im Unterschied zum irdischen Hohenpriester, der „maßvoll mitleidet“ (5,2) nimmt der Hohepriester Christus das Leid der Menschen auf sich (V.8). Das Schema Erniedrigung – Erhöhung erfährt dadurch eine zusätzliche Steigerung. Das Sprachspiel „emathen“ (aor. lernen) – „epathen“ (aor. leiden) drückt aus, dass die Leiderfahrung einen Lernprozess in Gang setzte, der Jesus zuletzt in das Passionsgeschehen einwilligen lässt. Darin besteht der Gehorsam Jesu. Sein Ziel findet er in der Bestätigung durch Gott, wonach das Heil aus eben dieser Leiderfahrung hervorgegangen ist.

Predigtimpulse

Wer nah am Hebräerbrief und dessen zahlreichen alttestamentlichen Bezügen predigt, wird die umliegenden Verse miteinbeziehen, dabei vermutlich das Beispiel des Hohenpriesters aufgreifen und zur christologischen Deutung hinführen wollen. Statt kontrastierend zu einer Abwertung des Ersten Bundes zu gelangen, könnte ein Schwerpunkt auf der Reflexion liegen, wie in unseren Gemeinden Ämter und Aufgaben wahrgenommen werden: Von Auftrag und Dienst, von Enttäuschung und Anerkennung, vom guten Willen und von den Grenzen unseres Tun wäre dann zu sprechen. Mit dem Blick auf die Passion Jesu, seine Erniedrigung, und auf das durch ihn erworbene Heil, seine Erhöhung, verbindet sich die befreiende Zusage, dass unser Handeln aufgehoben ist im Geschick und Werk Jesu.

Naurath MunchSchreiWer eher einen ästhetischen oder psychologischen Zugang wählt, könnte die These von Dorothee Sölle in den Raum stellen: „Ich halte Jesus von Nazareth für den glücklichsten Menschen, der je gelebt hat“ und dann in Anlehnung an Hebr 5,7 (lautes Schreien Jesu) mit dem berühmten Bild von E. Munch „Der Schrei“ einen Spannungsbogen entwickeln. Zwischen 1893 und 1910 hat der norwegische Maler dieses Motiv wiederholt aufgegriffen und darin existenzielle sowie visionär-apokalyptische Themen verarbeitet. Wie wir mit Leiderfahrungen umgehen, welche Bedeutungen Tränen und Schreien zukommen, ob mit Gehorsam stilles Leiden gemeint ist – kritische und tröstende Stimmen könnten zu Wort kommen. Dem Leid Ausdruck geben und ebenso der Freude – das zu teilen, dazu will uns der Glaube ermutigen.

Edvard Munch, Der Schrei (1893)

Nachhaltigkeitsbezüge

Hans Jonas empfiehlt in seinem Hauptwerk „Prinzip Verantwortung“ (1979) eine Heuristik der Furcht, mit der er den wachsenden technischen Möglichkeiten und Gefährdungen der Menschheit Einhalt gebieten möchte. Bei der Entscheidung für oder gegen die Freigabe eines Verfahrens ist jeweils der denkbar nachteiligste Effekt in Betracht zu ziehen. Jede Katastrophe bringt die Menschheit dem Abgrund näher. Sie birgt aber zugleich die Möglichkeit, zu lernen und umzudenken. Ziel ist, künftigen Generationen das Weiterleben zu sichern. Ist das Seufzen der Schöpfung (vgl. Röm 8,22ff) für die Welt hörbar? Treten wir stellvertretend mit „lautem Schreien“ für sie ein? Gewinnt Gehorsam eine ökologische Dimension?

Jes 43,16-21

Exegetische Überlegungen

Nach der einleitenden Botenspruchformel folgt ein Heilswort, das dem Volk die Rückkehr aus dem babylonischen Exil ankündigt. Dies ist ein Wunder Jahwes, der die Feinde mittels des aufstrebenden Perserkönigs Kyros besiegt. Zur Veranschaulichung dienen zentrale Traditionen der Geschichte Israels: Exodus und Schilfmeerwunder, Heiliger Krieg und Wüstenwanderung, Schöpfung und Bund. Ungebrochen ist die Zuverlässigkeit Jahwes, der auch die Zukunft bestimmt – Baltzer (S. 230) übersetzt V. 19a: „Seht mich als einen, der Neues macht“. Der Weg, der in der Wüste gebahnt wird, nimmt Bezug auf den Prolog in Kap. 40, aber erst Wasser ermöglicht das Überleben. Der neue Zug durch die Wüste wird nicht von Entbehrung, sondern von Jubel getragen sein. Das alles kommt so sicher, wie das Wachstum einer sprossenden Pflanze und ist so überwältigend, dass keine Tradition dies umfänglich zu beschreiben vermag. Der Text sei ein „Lehrstück zur Funktion biblischer Tradition“ (Baltzer, 231), indem er auf Erfahrungen der Vergangenheit zurückgreift, sein Ziel aber besteht in der Verständigung über die Gegenwart.

Predigtimpulse und Nachhaltigkeitsbezüge

Die Wanderungsbewegungen unserer Gegenwart sind oftmals Fluchtwege. Solange Krieg, Gewalt und Not an der Tagesordnung sind, werden Menschen ihre Heimat aufgegeben. Wege unter Einsatz des eigenen Lebens sind sehr weit entfernt von den Verheißungen eines Deuterojesajas. Legale Wege zu Wasser und zu Land sind notwendig, damit das Sterben im Mittelmeer ein Ende nimmt. Hilft in den Zielstaaten die Erinnerung an frühere Fluchterfahrungen, an gelungene Verständigung und Integration in Zeiten, als die ökonomischen Verhältnisse schwieriger waren? Klage kann sich in Jubel verwandeln, wenn Transformationsprozesse gelingen und Alt- und NeubürgerInnen gegenseitig voneinander profitieren.

Phil 3,8-14 

Exegetische Überlegungen

In der Ketzerpolemik ab 3,2ff dienen die biografischen Angaben des Paulus als Paradigma für eine Gesetzesobservanz, die ihr Ziel verfehlt. Dagegen ermöglicht die Gerechtigkeit aus Glauben eine fundamentale Neuorientierung, die Paulus mit Anklängen an hellenistische Mystik (3,10) als Sehnsucht nach Teilhabe an Christi Tod und Auferstehung (vgl. Röm 6,1-6) identifiziert. Theologia viatorum bedeutet, Vergangenes hinter sich zu lassen und sich auszustrecken nach dem noch ausstehenden Ziel (3,13f).

Predigtimpulse und Nachhaltigkeitsbezüge

Während Paulus im Philipperbrief situationsbedingt in polarisierender Weise auf sein Damaskus-Erlebnis zurückblickte, ermöglicht die Predigtsituation einen neuen Blick. Nicht das Faktum eines Bruchs im Lebenslauf, sondern was einen Menschen antreibt, welche Kraft und Zuversicht ihm zuwachsen, sobald die Wirklichkeit Gottes seine Existenz berührt, können die Erfahrung des Paulus und vieler Christen bis heute würdigen. Ob der Zugang meditativ (Bewegung, Weg) oder in Form eines Bekenntnisses, assoziativ (dem Siegespreis nachjagen) oder argumentativ (Freiheit eines Christenmenschen zum Dienst für andere ist der Gewinn) gewählt wird, die Zusage der vorbehaltlosen und unbedingten Liebe Gottes bedeutet einen Lebensgewinn.

Joh 8,1-11

Exegetische Überlegungen

Die Perikope fehlt in zentralen Handschriften des Joh.-Ev. Sie bietet synoptisch geprägten Stoff in einer Mischform aus Novelle und Streitgespräch. In dieser idealisierten Szene folgen nach längerer Einleitung zwei Gesprächsgänge, die mit der Vergebung einen Grundzug der Jesusverkündigung aktualisieren. Die Erzählung könnte einerseits als Korrektiv gegenüber rigiden Missionspredigern gedient haben, zum anderen aber zielt sie darauf, dass Vergebung eine neue Lebensgestaltung ermöglicht.

Predigtimpulse und Nachhaltigkeitsbezüge

Die Geschichte bietet keine Erörterung der rechtlichen, religiösen oder zeitgeschichtlichen Fragen im Umgang mit Ehebruch. Vielmehr geht es Jesus in den Dialogen darum, eine unmittelbare Beziehung zu seinen Gesprächspartnern aufzubauen. Damit legt sich eine seelsorgerliche Auslegung der Predigt nahe, in der die Zuwendung, das Nachfragen und Zuhören, das Zeitgeben und Zeitnehmen, die Annahme und das Vertrauen wesentlich sind. Auch der kategoriale Unterschied einer Kollektiv- bzw. Mehrheitsmeinung gegenüber einem Vier-Augen-Gespräch kann aufzeigen, wie etwa Vorurteile zementiert oder im günstigen Fall überwunden werden können. Schließlich ist Zivilcourage erforderlich, damit im öffentlichen Raum sogenannte Selbstverständlichkeiten hinterfragt werden. Alternativlos bliebe so allein das vorbehaltlose Vertrauen, dass Not und Schuld gewendet werden können, wo Barmherzigkeit geübt wird.

Pfr. Joachim Naurath

Literatur:                 

Martin Karrer, Der Brief an die Hebräer, ÖTB-Kommentar zum NT, Bd. 20/1, 2002
Klaus Baltzer, Deutero-Jesaja, Kommentar zum AT, Bd X,2, 1999
Jürgen Becker, Das Evangelium nach Johannes, ÖTB-Kommentar zum NT, Bd. 4/1, 1979
Bernhard Mayer,  Philipperbrief/Philemonbrief, Stuttgarter kleiner Kommentar, NT, Bd. 11, 1968
Hans Conzelmann, Andreas Lindemann, Arbeitsbuch zum NT, 8. Aufl., 1985
Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, 1979