13. Sonntag nach Trinitatis / 21. Sonntag im Jahreskreis
ev. Predigttext | kath. 1. Lesung | kath. 2. Lesung | kath. Evangelium |
1 Mose 4, 1-16a | Jos 24, 1-2a.15-17.18b | Eph 5, 21-32 | Joh 6, 60-69 |
Vorbemerkungen zu den Lesungstexten
Die Grundidee und das Ziel nachhaltigen Lebens und Predigens: Leben in Fülle – für alle!
Ein erfülltes Leben, wer will das nicht? Vielleicht: Auf einer fernen Insel mit viel Geld und Luxus, mit schönem Wetter, leckerem Essen, einem guten Buch und mit netten Menschen um einen. Das heißt: Alles mitnehmen, was geht, genießen, ausschöpfen und zugreifen. Oder? „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben – und es in Fülle haben“ (Joh 10,10), heißt es in der Bibel. Was Jesus da nach den Worten des Johannesevangeliums sagt, gilt für alle zusammen - und jeden Einzelnen. Aber genau da liegt vielleicht das Problem: Wenn jeder Einzelne das Verheißungswort für sich persönlich und exklusiv nimmt – und nur selbst sieht, wo er bleibt, dann geht’s schief: Wenn die Starken und „Leistungsträger“ das „Leben in Fülle“ nur für sich beanspruchen, sich bedienen an den Gütern der Erde, so gut sie können, dann bleiben die Schwächeren auf der Strecke. Dann kommt das „Leben in Fülle“ schnell an Grenzen. Das „immer mehr“ ist irgendwann am Ende.
Diese Gedanken durchziehen auch die Lesungstexte von diesem Sonntag, wenn sie mit der „Nachhaltigkeits“-Brille gelesen werden. Und auch wenn das viel zitierte Wort aus dem Johannesevangelium (Joh 10,10) vom „Leben in Fülle“ da gar nicht explizit dabei ist – die Grundgedanken und die Grundfragen bleiben dieselben: Was ist ein Leben in Fülle – für alle? Wie ist es möglich? Wie sind wir gefordert, damit es möglich wird?
Vor einigen Jahren haben engagierte Christen einen Aufruf für eine prophetische Kirche verfasst*. Darin heißt es unter anderem: „Wir bekennen, dass die Situation unserer Welt uns heute verpflichtet, nach Lösungen globaler Gerechtigkeit zu suchen. Wir verpflichten uns, in unserem Beten, Denken und Handeln das Ziel eines Lebens in Fülle für alle voranzubringen. Wir halten es für unerlässlich, in der katholischen [erg. mutatis mutandis „den christlichen Kirchen“ - Anm. d. Verf.] Kirche in Deutschland auf allen Ebenen einen breit angelegten Prozess des gemeinsamen Nachdenkens über Schritte verantwortlichen Handelns in der Kirche einzuleiten und in die Gesellschaft hineinzutragen.“ „Leben in Fülle“ ist möglich. „Leben in Fülle – für alle“ ist das Ziel. Erreichbar ist es in kleinen, aber konkreten Schritten, nicht zuletzt durch die Kraft des Gebetes. Aber auch durch viele helfende Hände. – Dann ist es nicht nur schön zu lesen, sondern schön zu er-leben: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben – und es in Fülle haben“.
* Quelle: http://www.leben-in-fuelle-fuer-alle.de/aufruf_unsere_verantwortung.htm
Impulse zur Nachhaltigkeit aus einzelnen biblischen Texten
1 Mose 4, 1-16a
- Die Dynamik des Neides und des Egoismus, der vor allem den eigenen Vorteil, die Anerkennung und Befriedigung der eigenen Bedürfnisse sucht, führt ins Verderben.
- Aus der gekränkten Eitelkeit, dem Neid auf den Bruder, den Nachbarn, den Kollegen und der eingeschränkten persönlichen Wahrnehmung des eigenen Umfelds entsteht am Ende gar Mord und Totschlag. Die gesunden Maßstäbe verlieren ihre relativierende (=erdende und regulierende) Kraft. In der biblischen Erzählung wird das ganz drastisch geschildert. Diese Erfahrung gibt es aber auch im Alltag schon durch Worte, die verletzen und vernichten wollen - und scheinbar kleine Gehässigkeiten, die doch den Hass in sich tragen.
- Aus der Tat und dem schlechten Gewissen, das sich regt, setzt sich die Dynamik fort: Die Lüge ist die (fast logische) Konsequenz (V. 9), die schnell zur Lebens-Lüge wird. Das Ergebnis: Der „Ertrag“ (V. 12) bleibt aus, der eigene Vorteil ist nur von kurzer Dauer; die Dynamik der (Selbst-)Zerstörung ist in Gang gesetzt und kaum mehr aufzuhalten, wenn man nicht selbst ausbricht daraus. Rast- und Ruhelosigkeit machen das eigene Leben schwer und am Ende unerträglich. Es gibt keinen inneren Frieden, die Schuld nagt am Gewissen und ist in sich selbst die größte Strafe (V. 13).
- Gottes Dynamik ist genau entgegengesetzt: Er verzeiht dem reuigen Sünder. Er vergilt nicht nach menschlichem Maßstab, sondern durchbricht die „Logik“ und die Dynamik des Egoismus, indem er verzeiht, selbst dort, wo menschliches Verstehen an seine Grenzen kommt.
- Wer mit Gottes Hilfe aus dem eigenen Egoismus ausbrechen kann, der findet Heimat und Ruhe und Frieden (V 16).
- Gott ermöglicht die Umkehr und den Neuanfang; er schützt den, der sich ihm zuwendet und anvertraut. Der „Makel“ des sprichwörtlichen Kainsmals, der Inbegriff und Erinnerung an die Abkehr von Gott, an die Sünde, ist, wird für den Reuigen zum Schutz vor der zerstörerischen Dynamik des Neides, des Egoismus und damit des Todes. Daraus erwächst Segen.
→ Leben in Fülle ist möglich für den, der vom Egoismus ablässt und andere (Menschen/Maßstäbe/Meinungen) gelten lässt.
Jos 24, 1-2a. 15-17.18b
- Die Treue zu Gott zahlt sich aus, auch wenn sie anstrengend ist und Durststrecken, Zweifel und Anfragen aushalten muss.
- Nicht der schnelle Vorteil ist am Ende zielführend, sondern der lange Atem.
- Opportunistisches Ausrichten an der Mehrheitsmeinung oder am Weg des geringsten Widerstandes mag vordergründig zum schnellen Erfolg führen, zur Anerkennung, zum Lob, zu Beförderung und zu Titeln und Ehrungen. Ob sie nachhaltig sind, wirklich zufrieden machen können und Frieden schenken, steht auf einem anderen Blatt. Gottes Maßstab ist auch hier ein anderer als der menschliche. Er übersteigt menschliches Denken und irdische, gesellschaftliche und vor allem menschengemachte Rahmenbedingungen und politische Gegebenheiten.
- In der Kirchengeschichte gibt es immer wieder Beispiele von Menschen, die gegen den Strom geschwommen sind: Nicht, weil sie schlichte Trotzköpfe waren, sondern weil sie ihren Weg aus dem Glauben begründet haben, der inneren Frieden schenkt, auch wenn der Unfriede diese Menschenleben oft ausgelöscht hat – die Märtyrer, die Glaubenszeugen. Ein Gedanke von Papst Franziskus dazu: „Worauf es beim Glaubenszeugnis ankommt, ist nicht der Erfolg, sondern die Treue zu Christus.“ (Papst Franziskus auf Twitter – 9. August 2017 – zum Gedenken an die Ermordung von Edith Stein durch die Nazis vor 75 Jahren in Auschwitz / +1942)
- Widerstand gegen Ungerechtigkeit, gegen zerstörerische Tendenzen und gegen Hass und Spaltung ist kein Selbstzweck. Widerstand ist auch nicht von egoistischen Motiven geleitet, um Aufmerksamkeit oder Anerkennung – von wem auch immer - zu bekommen. Widerstand im Sinn des Glaubenszeugnisses ergibt sich aus Gottvertrauen UND Menschenliebe, aus echter Liebe zum Leben.
→ Leben in Fülle ist möglich für den, der den längeren Atem hat, weil er auf Gott vertraut.
Eph 5, 21-32
- Biblische Texte sind aus ihrer Zeit und ihrem Kontext zu verstehen. Wörtliche Auslegungen und 1:1-Übertragungen ins Heute verkennen den Geist, der in ihnen steckt und verdrehen am Ende schlimmstenfalls die Botschaft ins Gegenteil von dem, was mit dem Text ausgesagt werden sollte.
- Der Umgang miteinander im menschlichen Leben ist keine Einbahnstraße. Er ist Beziehung zwischen zwei Menschen oder zwischen Gruppen.
- Über- und Unterordnung sind Kategorien, die jeweils nur eine einseitige Perspektive betrachten. Beziehung ist wechselseitig ausgerichtet.
- Menschen in schlichte und allgemeingültige Kategorien einzuteilen, um daraus Werturteile oder einschränkende Vorgaben zu gewünschten oder geforderten, angenommenen oder erwarteten Verhaltensweisen zu machen, widerspricht dem christlichen Menschenbild. Als Ebenbild Gottes hat jeder Mensch gleiche Würde – unabhängig von Herkunft, Geschlecht und vielen weiteren „Kategorien“.
- Der Mann, der seine Frau liebt; die Frau, die für ihren Mann da ist – und umgekehrt – sind zwei Seiten derselben Medaille: Die Liebe kennt kein „Maß“, das sich bemessen und abgrenzen lässt. Sie ist „maß-los“. Damit ist sie Sinnbild für Gottes maß-lose, unendliche Liebe zu den Menschen. „Die Liebe Christi drängt uns!“ (2Kor 5,14).
- Wo Regeln und Gesetze gelten, müssen sie dem Wohl aller Menschen dienen. Gottes Gebote haben das zum Ziel, sie sind kein Selbstzweck oder Instrument für kleinliche Wächter über andere: „Das Gesetz ist für den Menschen da, nicht der Mensch für das Gesetz“ (nach Mk 2, 27). - Solche Regeln ermöglichen das friedliche Miteinander – auf Augenhöhe: zwischen Menschen, zwischen Völkern.
→ Leben in Fülle ist möglich für den, der liebt und sich nicht über andere erhebt.
Joh 6, 60-69
- Gottes Botschaft ist eine Herausforderung für das eigene Denken und Leben. Sie fordert immer wieder zum Überdenken und zur Umkehr. Unerträglich, also nicht zu tragen, ist es nur für den, der das falsche Joch aufgeladen hat: durch eigene Verstrickungen, durch falsche Lasten, durch das, was mich und andere niederdrückt: „Denn mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht.“ (Mt 11,30).
- Gottes Geist macht lebendig, er knechtet nicht unnötig und schränkt nicht um der Einschränkung willen ein. Er ist kein Instrument zur Unterdrückung oder Machtausübung. Der Geist macht lebendig: Er setzt nur dort Grenzen, wo die eigene Maßlosigkeit zur Selbstüberschätzung führt; wo Egoismus und eigener Vorteil das bestimmende Gesetz sind. Ziel ist das Leben in seiner Fülle – für alle.
- Der Mensch ist frei in seiner Entscheidung. Er kann sich für und gegen Gott entscheiden, zu ihm bekennen oder ihn verraten mit dem eigenen Lebensstil und der eigenen Lebensentscheidung. Diese Freiheit muss aber die jeweiligen Konsequenzen bedenken und tragen: für sich selbst und für die kommenden Generationen. Gott will das Leben – er lenkt weg von der Logik des Egoismus und des Immer-Mehr, das zur Selbstzerstörung führt, wie auch die anderen Texte vom heutigen Tag auf ihre Weise aufzeigen (s.o. - z.B. die Erzählung von Kain und Abel)
- Gott ist im guten Sinn alternativ-los. Das heißt auch: Alle Wege führten zu ihm (zurück) für den, der sich an ihm ausrichtet, den eigenen Lebensstil und die eigenen Denkmuster überdenkt und neu denkt.
→ Leben in Fülle ist möglich für den, der sich der „Unerträglichkeit“ Gottes aussetzt, sie erträgt und mitträgt – und der dabei entdeckt, dass er von Gott getragen wird.
Dr. Michael Kinnen, Mainz