14. Sonntag nach Trinitatis / 22. Sonntag im Jahreskreis (2.9.18)

14. Sonntag nach Trinitatis / 22. Sonntag im Jahreskreis

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
1 Thess 1, 2-10 Dtn 4, 1-2.6-8 Jak 1, 17-18.21b-22.27 Mk 7, 1-8.14-15.21-23

Von Reinheit und Unreinheit – Jesus und das Gesetz (Mk 7)

Einleitung

Die Exegese von Mk 7, 1- 23 scheint auf die Schnelle (und traditionell) betrachtet einfach. Denn es liegt auf der Hand und ist einsichtig: Nicht durch Ă€ußerliche Verschmutzung wie z.B. ungewaschene HĂ€nde und GefĂ€ĂŸe wird der Mensch unrein oder fĂ€llt gar in Ungnade, sondern durch das, was der Mensch tut bzw. wie er sich anderen Menschen gegenĂŒber verhĂ€lt. Jesus stellt sich damit auch in die Reihe der großen Propheten und zitiert Jesaja: „Es ist sinnlos, wie sie mich verehren; was sie lehren, sind Satzungen von Menschen“. Jesus folgert daraus: „Ihr gebt Gottes Gebot preis und haltet euch an die Überlieferung der Menschen“ (Mk 7, 8).

Dagegen scheinen diese Worte Jesu (wie auch der gesamte Textabschnitt) wenig bis gar nichts mit dem Thema „Nachhaltigkeit“ zu tun. Abgesehen davon, dass sich fast alle große Unternehmen in ihren Werbetexten als „Weltmeister in Sachen Nachhaltigkeit“ prĂ€sentieren, wĂ€hrend sie sich in der Praxis als schlimme UmweltsĂŒnder erweisen, scheint es mir sinnvoll, das Thema „Nachhaltigkeit“ und auch die genannte Bibelstelle von einer anderen - theologischen - Perspektive aus zu beleuchten und zu verstehen. These: Gottes Gebot ist bestĂ€ndig (nachhaltig), menschliche Satzungen sind willkĂŒrlich.

Gottesgebot und menschliche Satzungen

Jesus unterscheidet zwischen einem „Gottesgebot“ und menschlichen Satzungen. Aber eine Unterscheidung zwischen göttlichen und menschlichen Geboten ist freilich mehr als problematisch. Denn wer unterscheidet oder bestimmt, was göttlich oder menschlich ist? In der christlichenTradition sind das die von Gott ausgewĂ€hlten FĂŒhrer des Volkes Gottes, vom Hl. Geist auserwĂ€hlt, berufen und erleuchtet. Diese FĂŒhrer legen fest, was das Volk zu glauben hat und was nicht. Das individuelle, ewige Heil bzw. die eigene Erlösung hĂ€ngen davon ab, ob und wie ich mich an diese Vorgaben halte oder nicht. Dieswird so auch in anderen Religionen geglaubt, wenn auch mit verschiedenen Begrifflichkeiten. Dies ist sogar eines der Wesensmerkmale von Religion ĂŒberhaupt. Eine solcheReligion hat sich einerseits als große Hilfe in schweren Zeiten erwiesen, andererseits aber auch als ein wesentliches Herrschaftsinstrument, das letztlich ein bestimmtes, von Menschen so eingerichtetes Gesellschaftssystem rechtfertigt und stabilisiert hat.

So wie schon die Propheten, so sprengt auch Jesus die bisherigen Vorstellungen von Religion. Denn das auserwĂ€hlte Volk Gottes (wie auch wir als Kirche) ist immer wieder vom Weg abgekommen. Es erschafft sich seine eigenen Götter und tötet die Propheten, weil diese den Willen Gottes verkĂŒnden. Jesus bringt nun kein neues Gesetz oder grĂŒndet gar eine neue Religion, im Gegenteil. Was bisher fĂŒr das Volk Gottes so wichtig erschien und was Schriftgelehrte und Hohe Priester als absolut notwendig fĂŒr die Erlangung des ewigen Heils verkĂŒndeten, z.B. kultische Reinheit, Gebetsvorschriften, Opfergaben, Tempelsteuern, usw., zĂ€hlt nicht. Das alles muss nicht falsch sein, ist aber fĂŒr Jesus sekundĂ€r. Wichtig ist allein Gottes- und NĂ€chstenliebe. Liebe verlangt nach SolidaritĂ€t. SolidaritĂ€t und Liebe aber verlangen, dass ich in die Situation derer eintrete, mit denen ich mich solidarisiere. Das ist der tiefere Sinn aller Gebote. Jesus zeigt dann, was konkret damit gemeint ist. Nicht nur in dem abschließenden Gleichnis vom Weltgericht (Mt 25, 35ff, „Denn ich war hungrig
“). In fast allen seinen Gleichnissen geht es ihm um eine radikale Umkehr – hin zum (notleidenden) NĂ€chsten und fĂŒr ein Leben in FĂŒlle fĂŒr alle, insbesondere fĂŒr diejenigen, denen man diese FĂŒlle vorenthĂ€lt oder gar raubt. Im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter wird deutlich: Von Menschen gemachte Vorschriften fĂŒhren an dem Menschen, der unter die RĂ€uber gefallen ist, vorbei. Denn ihr Ziel ist der „Tempel“. Priester und Levit gehen vorbei, sie „spĂŒren“ nichts. Doch der „unglĂ€ubige, unreine“ Samariter hat ein Herz
!

Auch Jakobus, der Bruder des Herrn, spricht von der Reinheit und dem wahren Dienst, den Gott von uns verlangt: „FĂŒr Waisen und Witwen zu sorgen, wenn sie in Not sind“ (Jak 1, 27). In der 1. Lesung (Dtn 4,1-2.6-8) wird das Gesetz, dem der Mensch nichts hinzufĂŒgen darf, noch als „Garant des Heils“ fĂŒr das Volk Gottes bezeichnet. Aber erst Jesus legt das Gesetz aus, wie es sein Vater gemeint hat.

Heute liegt nicht nur ein Einzelner ausgeraubt im Straßengraben, im Dreck, sondern ganze Völker sind unter die RĂ€uber und Mörder gefallen - und wir schauen zu oder gehen vorbei. Aber wir beten vielleicht fĂŒr die Opfer. Ein derartiges Gebet aber wĂ€re eine Beleidigung Gottes. Dies gilt umso mehr, wenn wir selbst Menschen in den Hungertod treiben, weil wir immer mehr und alles billiger haben wollen. Bischof Fragoso aus Brasilien sagt dazu: „Unsere Gottesdienste und Gebete können Atheismus sein, wenn wir sozialen Ungerechtigkeiten gegenĂŒber gleichgĂŒltig bleiben. Wir können mit der Messe, mit den Sakramenten und der Liturgie Atheismus verkĂŒnden, wenn wir nicht fĂŒr mehr soziale Gerechtigkeit einstehen. Die uns im Gotteshaus versammelt sehen, sehen sie uns auch Hand anlegen im Kampf um mehr Gerechtigkeit, damit alle unsere BrĂŒder und Schwestern frei werden und in WĂŒrde leben können?“

In der Sackgasse – innerkirchlich und global?

Das, wogegen sich Jesus auflehnte, das er gar verwarf und das ihm folgerichtig den Tod brachte, ist wieder auferstanden und wurde ĂŒber Jahrhunderte hinweg gelehrt. Ist es auch noch heute aktuell und der „Normalfall“? Das „Gesetz“ und seine Einhaltung werden immer noch allzu oft als Heilsgarantie verstanden. So wurde es, auch heute in modernerer Form, lange gepredigt. Das ist auch verstĂ€ndlich. Es ist verlĂ€sslich, man weiß, an was man sich zu halten hat, gibt Orientierung und Sicherheit. Seit fast 2.000 (oder 3.000) Jahren weist es sichere Wege zu Gott, Erlösung und ewigem Heil. Und noch mehr: Kommen wir als Christen nicht schon als „Umgekehrte“ auf die Welt? Warum und wohin denn noch umkehren? Sind wir nicht schon lĂ€ngst erlöst, schon vor unserer Zeit? Wir sind zwar „in SĂŒnde geboren“ aber durch den Opfertod Jesu erlöst - ohne unser Zutun (Luther). Egal, was uns geschieht, wir sind schon lĂ€ngst in Gotteshand. Und diesen Glauben sollen wir aufgeben? Unmöglich!

Und immer wieder und noch ist die Versuchung da, menschliches Machwerk als göttliches Gebot zu erklĂ€ren und Gottes Gebot (siehe oben) preis zu geben. Historisch bedingte Gegebenheiten werden wie z.B. die griechische Philosophie (Josef Ratzinger: Ohne diese kein Zugang zur Botschaft Jesu), bestimmte Strukturen und Organisationsformen zu unverĂ€nderbaren weil göttlichen Ordnungen erklĂ€rt (Johannes Paul II.: Diskussionsverbot zu Frauenordination und Zölibat, oder Kardinal Wetter: „Wir wĂŒrden ja gerne die Zulassungsbedingen fĂŒr das Priestertum Ă€ndern, aber selbst wir haben nicht die Macht, diese göttlichen Gebote aufzuheben“). Auch die seit ĂŒber 40 Jahren andauernden und ergebnislosen Diskussionen um Gemeinde- und Strukturreformen, dienen eher dazu, das Ende des bisher so vertrauten Systems von Heilsgewissheit und Herrschaft kĂŒnstlich hinaus zu schieben. Es gilt weiterhin der Vorrang des Gesetzes vor dem (leidenden) Menschen – so hat es zumindest den Anschein, und manche gutwillige Menschen innerhalb des Systems möchten anders
Diese Kirche, so wie sie sich jetzt prĂ€sentiert – ob katholisch oder evangelisch – scheint gefangen zu sein in ihrem selbst geschaffenen „Goldenen KĂ€fig“. Dies ist alles andere als „nachhaltig“, es macht unfrei.

Befreiende Alternative

Was meint also Jesus mit „Gottes Gebot“? : Seine Botschaft und feste Überzeugung, dass mit ihm eine neue Zeit beginnen wird. Diese neue Zeit, die mit ihm beginnt und die er seinen JĂŒngerinnen und JĂŒngern aufgetragen hat, wird eine völlig andere soziale und gesellschaftspolitische Werteordnung haben mĂŒssen. Oder umgekehrt gesagt: Die herrschenden VerhĂ€ltnisse – Gewalt, UnterdrĂŒckung, Verelendung – sind unvereinbar mit dem Kommen des Reiches Gottes. Zeichen der neuen Zeit sind u.a.: Brotteilen, Barmherzigkeit, Vergebung, Austreiben unserer „DĂ€monen“, Tischgemeinschaften mit Ausgeschlossenen, die Seligpreisungen, die sieben Bitten des Vater Unser, „Blinde werden sehen und Taube werden hören“. Das bedeutet: Jesus betrachtet und deutet die reale Welt aus der Perspektive der Hungernden, der Ausgegrenzten, der unter die RĂ€uber Gefallenen


Was bedeutet dies alles heute - zumal in Zeiten eines zunehmenden Fundamentalismus, wachsender Kluft zwischen arm und reich, Zerstörung des Planeten, eines Wachstums- und Machbarkeitswahns? Eigentlich wissen wir, aber verdrĂ€ngen es oft: So kann es nicht weitergehen! Denn lĂ€ngst sind die planetarischen Grenzen erreicht. Auf einer begrenzten Erde ist unbegrenztes Wachstum nicht möglich – eine Binsenwahrheit. Dennoch wird weiterhin auf Wachstum gesetzt. Selbst eingefleischte Kapitalisten bekennen, dass Kapitalismus ohne stetiges Wachstum (Produktion, Konsum) nicht funktionieren kann. Die Klimakatastrophe ist bereits voll im Gange,  dennoch gibt es – gerade auch in Deutschland – kein wirkliches Umdenken, nur Kosmetik. Die Kluft zwischen arm und reich wird grĂ¶ĂŸer. Auch die innigsten Verfechter dieser „alternativlosen“ Weltordnung ahnen vielleicht, dass dies ein schlimmes Ende haben kann. Und bevor die Party zu Ende geht, stĂŒrzt man sich umso heftiger auf die „letzten Ressourcen“. Wie Geier fallen Konzerne in die letzten Winkel der Erde ein, um noch zu holen, solange es noch etwas zu holen gibt: „AprĂšsnous le dĂ©luge!“

Wir haben aber eine Wahl: Eine Umkehr hin zu einer neuen „Sitzordnung“, einer Tischgemeinschaft im Geiste Jesu, in der die bisher Ausgegrenzten einen Ehrenplatz haben werden und in der die GĂŒter von „Mutter Erde“ allen ihren Kindern in ausreichendem Maße zugutekommt. Unsere Aufgabe ist es, immer menschlicher bzw. immer göttlicher zu werden. Und weil Gott Mensch geworden ist, begegnen wir ihm in der Geschichte der Menschen. Konkret: Wir erfahren ihn in der Gemeinschaft mit den Opfern der Geschichte, den in Armut und Elend gehaltenen Menschen, den UnterdrĂŒckten, den Verlassenen und Ausgestoßenen – nicht aber in Gemeinschaft mit den PharisĂ€ern und Hohen Priestern, den so genannten AnstĂ€ndigen, den Gesetzeslehrern und SprĂŒcheklopfern und den gesellschaftlichen Oberklassen.Denn all diese haben noch nicht einmal gemerkt, dass Gott in ihrer NĂ€he Mensch geworden ist, genauso wie sie auch nicht gesehen haben, dass Jesus inmitten der „Hirten von Bethlehem“ zur Welt kam. Sie sehen und sie hören nichts, weil sie sich selbst zum Maßstab machen. Und daher sehen sie auch nicht den Menschen im Straßengraben. Gott ist Mensch geworden und wie die brasilianischen Bischöfe bereits 1972 in einem gemeinsamen Hirtenwort sagten: „Indem Gott Mensch geworden ist, ist in Christus der Mensch, vorrangig der arm gemachte Mensch, zum Maßstab aller Dinge geworden“.

Dr. Willi Knecht, Ulm