Erntedankfest / 16. Sonntag nach Trinitatis / 27. Sonntag im Jahreskreis (05.10.14)

16. So. n.Trinit. / Erntedank - 27. Sonntag im Jahreskreis

 

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
Hebr 10, 35-36 (37-38) 39 Jes 5, 1-7 Phil 4, 6-9 Mt 21, 33-44

 

Zur Stellung im Kirchenjahr: Erntedank – ein schwieriges Fest!

„Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land, doch Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand“ – es ist wohl der „Klassiker“ unter den Erntedankliedern. Aber wann immer ich es singe, komme ich ins Grübeln: Meine Mietwohnung in der Großstadt hat nicht einmal einen Balkon. Wer in unserer Gottesdienstgemeinde könnte überhaupt ehrlich von sich sagen: „Ich pflüge und ich streue?“ Mir begegnet der Sämann, der von Hand die Samen ausstreut, eigentlich nur noch auf Bildern in Kinderbibeln, oder auch auf dem bekannten Gemälde von Vincent van Gogh. Für uns Mitteleuropäer ist das händische Säen und Ernten für den Broterwerb heute wirklich nicht mehr Teil des Alltags. Und in der modernen Landwirtschaft ist die Aussaat ein hochtechnischer, GPS-gesteuerter Vorgang. Entsprechend finden sich auf modernen Erntedank-Altären auch andere Arten  Früchte menschlicher Arbeit – Kuscheltiere, Plastikspielzeug, Computer oder Smartphones.

 

Homiletischer Impuls: Die Fülle des Lebens – zum Staunen

Dennoch: Als Ökologin staune ich immer neu, welche Fülle des Lebens aus einem einzigen Samen erwachsen kann. Ich denke an einen wilden Weinstock, der die Fassade einer romanischen Kirche begrünt: Im Laufe seines jahrzehntelangen Wachsens und Gedeihens hat er – biologisch gesehen – die Aufgabe, ein bis zwei neue Weinstöcke in die Welt zu setzen. Aber dafür beschatten seine Blätter in der Sommerhitze die Außenwände und schützen sie vor starkem Regen. Dazu produziert er jeden Frühling Tausende von Blüten, jeden Sommer Hunderte neue Beeren.

Diese erfreuen nebenbei über Jahrzehnte lang einige Menschen – doch eigentlich unterhält der Weinstock, je älter er wird, ein ganzes Ökosystem: Zahlreiche Vogelarten finden einen Nistplatz zwischen seinen Zweigen. Unzählige Insektenarten leben nicht nur von den Beeren selbst, sondern auch auf und unter der Rinde, im Holz, im abgefallenen Laub und im Boden darunter – Ameisen, Käfer, Schmetterlinge, Fliegen, Springschwänze, Würmer; dazu jede Menge Pilze, Algen, Flechten, Bakterien, die man nur unter dem Mikroskop erkennt. Sie lockern den Boden, produzieren Humus, setzen Nährstoffe frei, so dass weitere Pflanzen wachsen und gedeihen können. Ein einziger Weinstock bringt eine unermessliche Vielfalt und Fülle des Lebens hervor – ein faszinierendes Wunder!

 

Aspekte von Nachhaltigkeit: Genug zu Essen ist nicht selbstverständlich

Aber wie im Lied von M. Claudius gilt: Wenn der Weinstock gedeihen soll, ist er angewiesen auf ein passendes Wechselspiel von Sonne und Regen. Im Frühjahr darf kein Frost die Blüten abfrieren oder eine Überschwemmung den Wurzelstock gar absterben lassen. Im Sommer sollte kein Hagel die Früchte zerstören, im Herbst, wenn sie reif werden, nicht Fruchtfliegen, Käfer, Würmer, Schnecken überhand nehmen und sie vor uns verspeisen.

Die schweren Überschwemmungen im Frühjahr 2013 nach einem langen, kalten Winter machen uns die Verletzlichkeit von Saat und Ernte bewusst: Das Jahr 2013 wäre in früheren Jahrhunderten sicher ein schweres Hungerjahr für die Bevölkerung Mitteleuropas geworden. Es ist nicht selbstverständlich, dass für uns Tag für Tag genug zum Essen bleibt! Der Dank für eine gute Ernte gehört wohl auch deshalb zu den ältesten Festen der Menschheit, die sich in fast allen Kulturen wiederfinden.

Segen Gottes liegt auf unserem Tun und Lassen

Doch ich denke, wir feiern heute mehr, als nur eine gute Ernte. Unser Erntedank knüpft auch an das Laubhüttenfest der Israeliten  (Dtn 16,13-15) an, das ebenfalls in dieser Jahreszeit gefeiert wird. Seit alttestamentlichen Zeiten erinnert es daran, dass Gottes Segen auf unserem Leben, auf unserem Tun und Lassen insgesamt liegt. Erntedank ist daher zu Recht das Fest des allgemeinen, großen „Danke!“ Danke für das scheinbar Selbstverständliche, das doch eigentlich etwas ganz Besonderes ist: ein Stück Brot, das Fortkommen im Beruf, eine gelingende Partnerschaft, das Gedeihen der Kinder – oder eben die Trauben, die vielleicht sogar am eigenen Haus hinaufgeklettert ist; ja, selbst der kleine Strohhalm und der Sperling aus dem Lied von Matthias Claudius.

Wenn wir dankbar sind, handeln wir verantwortungsbewusst

Wofür wir dankbar sind, damit gehen wir pfleglich, behutsam und verantwortungsbewusst um – und das hat Konsequenzen auch für unseren Alltag: Nach einem Erntedankfest können wir, wenn wir es ernst nehmen, eigentlich nicht am Sonntag aus der Kirche gehen und am Montag gedankenlos im nächsten Supermarkt die billigsten Weintrauben, das billigste Schnitzel, den billigsten Pullover einkaufen. Billigtrauben wachsen meist unter hohem Pestizideinsatz – zum Schaden für die Umwelt ebenso, wie für die Gesundheit von uns Konsumenten. Das Schwein, dessen Fleisch beim Discounter zum Dumpingpreis verkauft wird, hat vermutlich eher kein gutes Leben gehabt. Und unter welchen Bedingungen unsere Billig-Klamotten entstehen, konnten wir im vergangenen Jahr im Fernsehen verfolgen, als bei Fabrikbränden in Bangladesh mehrere hundert Näherinnen zu Tode kamen. Menschenfreundlich, schöpfungsfreundlich ist das nicht!

 

Homiletische Hinweise

Jes 5, 1-7 (Das Lied vom unfruchtbaren Weinberg)

Das Lied des Jesaja singt von einem Freund und dessen Weinberg – im Orient ein Bild für die Pflege und Freude an der Geliebten. Ein Liebeslied? Die harmlose Stimmung kippt, denn trotz vieler Mühe bringt der Weinberg nur schlechte Frucht. „Er hoffte auf Rechtsspruch und erntete Rechtsbruch“; in anderen Übersetzungen heißt es „Bluttat statt Guttat“ oder „Schlechtigkeit statt Gerechtigkeit“. Gott ist der Freund und Besitzer des Weinbergs, der Weinberg sein Volk in Jerusalem – wie wird das ausgehen? Der Text interpretiert nachträglich den Fall Jerusalems als Konsequenz daraus, dass die Menschen auf das Liebeslied Jahwes nicht mit Zuwendung, sondern mit Abkehr reagierten. Der Prophet Jesaja sieht als Folgen Dürre, Rechtlosigkeit, niedergerissene Zäune und Mauern, Disteln und Dornen, die sich ausbreiten. Gott entzieht dem Weinberg, also dem Volk Israel und Jerusalem, seine Sorge, seine Pflege, seinen Schutz, ja sogar den zum Wachsen notwendigen Regen.

Aber das muss ja nicht so laufen. Jes 7 beschreibt die Gegenvision: „Zu der Zeit wird es heißen: Lieblicher Weinberg, singet ihm zu! Ich der Herr, behüte ihn und begieße ihn immer wieder. Damit man ihn nicht verderbe, will ich ihn Tag und Nacht behüten. Ich zürne nicht, denn sie suchen Zuflucht bei mir und machen Frieden mit mir, ja Frieden mit mir.“

 

Mt 21,33-44

Das Gleichnis Jesu im Evangelium knüpft an das alttestamentliche Bild vom Weinberg an. Auch hier ist Gott der Besitzer, baut Turm, Zaun, Kelter und wartet vergeblich auf gute Frucht. Aber der Weinbergbau Gottes hat sich verändert: Gott macht nicht mehr alles selbst. Er hat Verwalter Haushalter, sendet Knechte als seine Stellvertreter vor Ort, hat außerdem einen Erben eingesetzt. Nicht der Weinberg verweigert Gott die Früchte wie im Jesajatext, sondern die Pächter erkennen den Eigentümer nicht an; sie vertreiben seine Knechte, töten seinen Sohn – ein Bild für den Kreuzestod Jesu. Israel gefährdet mit der Verwerfung Jesu Christi seine Erwählung, stattdessen werden Heiden zu Kindern Gottes – so die die Botschaft der Allegorie.

Allerdings assoziiere ich – ein wenig abseits der allegorischen Intention des Textes – auch den Aspekt von „Atheismus“. Man schaut in einen Abgrund, wenn man sich in dieser Weise von Gott „befreit“ und Gott aus der Welt zu verbannen sucht. Jesu Botschaft ist dem gegenüber: Für mein Handeln ist nicht wichtig, wie der andere mich behandelt. Unsere Aufgabe ist prinzipiell, der Welt liebevoll, friedfertig, mit Güte und Respekt zu begegnen. Das durchbricht den Kreislauf offener und verborgener Gewalt.

 

Hebr 10,35-36.(37-38.)39

„Müde, verzagt, entkräftet, wankend“ – so charakterisiert der Hebräerbrief seine Adressaten. Begeisterung und Leidenschaft für Jesus Christus ist gewichen; Jesu Anhänger sind „müde und leer zum Beten und Denken und Schaffen“. Dem hält der Brief entgegen: „Werft euer Vertrauen nicht fort! Werft die Freude am Glauben nicht fort! Denn es wartet doch reicher Lohn auf euch!“ Für den Briefschreiber damals war vor allem die Zukunft bei Gott im Blick, das ewige Leben, die himmlische Heimat. Ungern möchte ich mich allerdings auf ein fernes Jenseits vertrösten lassen. Aber unsere Welt leidet doch schon auch sehr unter den Folgen unserer radikal auf das Diesseits orientierten Gesellschaft: Verantwortungslosigkeit, weil viele Menschen schlicht keinen mehr kennen, dem sie Antwort geben müssen am Ziel ihres Lebens. Versuche, mit Geld und Leistung die Begrenztheit des Lebens zu leugnen, weil man mit „ewigen Leben“ nichts anfangen kann.

Direkt im Anschluss an die Perikope heißt es: „Glauben besteht darin, dass ein Stück des Erhofften als geheime Kraft schon wirklich ist.“ (Hebr 11,1a nach Klaus Berger). Was Gott vollenden wird in unserem Leben, das hat er schon begonnen – auch wenn es noch nicht fertig ist. Wir können seine Leben schaffende Kraft schon heute erfahren und weitergeben – durch unseren lebensfreundlichen Umgang mit unseren Mitmenschen, unserer Mitwelt insgesamt. Und wenn wir angesichts der realen Erfahrung in der Welt verzagen und aufgeben möchten, können wir auch unsere innere Leere und Glaubensmüdigkeit voll Vertrauen in Gottes Hände legen.

 

Phil 4,6-9

Die kurze Perikope an die vermutlich erste christliche Gemeinde auf europäischem Boden endet mit dem Hinweis: „Was ihr gelernt und empfangen und gehört und gesehen habt an mir, das tut; so wird der Gott des Friedens mit euch sein.“

Lernen und Empfangen, Hören, Sehen und Tun– darum geht es.

Lernen – das mag das Lernen aus der Geschichte sein, eingebunden in eine Erinnerung, die offene Augen hat für Licht und Schatten in der Welt.

Empfangen – da denke ich an Gottes Weisung über das, was (wie Paulus es sagt) „wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert, was einen guten Ruf hat“. Wir haben Weisung empfangen in den Geboten der Tora des Alten Testaments und im Vorbild Jesu. Diese Weisung ist und bleibt unser Maßstab.

Hören – das bedeutet für mich wirkliches Zuhören, das Verstehen sucht und nicht Besserwisserei.

Sehen – da assoziiere ich wache, offene Augen, die hinsehen, wenn Unrecht geschieht.

Tun – da fallen mir die inzwischen über 800 Kirchengemeinden und Einrichtungen in Deutschland ein, die ein kirchliches Umweltmanagement eingeführt haben. Mit ihrem Zertifikat „Grüner Gockel“, „Grüner Hahn“ oder auch EMAS zeigen sie, dass sie die Verantwortung für ihre Mit-Schöpfung ernst nehmen.

Lernen und Empfangen, Hören, Sehen und Tun – vielleicht kann das ein Schlüssel dazu sein, sich „nicht vom Bösen überwinden zu lassen, sondern das Böse mit Gutem zu überwinden“ – wie Paulus es ausdrückt. Diese führen zum Schalom, zum allumfassenden Frieden Gottes, das Gleichgewicht mit den Mitmenschen und der Mitwelt, der uns umgibt wie ein Mantel.

 

Auf dem Weg zu mehr „Schalom“

Erntedank – das ist ein Fest, sich der vielen guten Gaben Gottes bewusst zu werden, mit denen wir oft ebenso selbstverständlich wie unachtsam umgehen. Das gilt für die Gaben und Geschenke des Alltags. Es gilt umso mehr für mein eigenes Leben und Dasein. Mit dem Erntedank verbindet sich daher für mich auch ein großes persönliches „Danke!“: Das „Danke“ dafür, dass Gott mich selbst wachsen und gedeihen hat lassen und weiter gedeihen lässt – als Teil des Ökosystems Erde, inmitten einer Fülle von Lebewesen, die – wie ich! – Teile von Gottes Schöpfung sind. An Erntedank wird mir in besonderer Weise bewusst, was Albert Schweitzer so ausdrückt: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das Leben will.“ Dankbarkeit und Respekt vor dem Leben der Mit-Geschöpfe in ihrer verschwenderischen Vielfalt – das ist es, was Erntedank für mich ausmacht.

 

Christina Mertens