16. Sonntag nach Trinitatis / 25. Sonntag im Jahreskreis (19.09.21)

16. Sonntag nach Trinitatis / 25. Sonntag im Jahreskreis

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
Klgl 3,22-26.31-32 Weish 2, 1a.12.17-20 Jak 3, 16 - 4, 3 Mk 9, 30-37

 

Reden mitten aus der Krise

Die Autorin analysiert die vier Bibeltexte mitten in der Corona-Krise im April 2020. Soll, ja darf man mitten in einer Katastrophe von Hoffnung sprechen wie es der Sprecher im dritten Klagelied tut? Kann eine tiefgreifende Krise die Welt zum Guten verĂ€ndern oder fördert sie einen zynischen Hedonismus wie in den Reden des Buches der Weisheit ersichtlich? Die Markusperikope und der Jakobusbrief demonstrieren urchristliche Haltung: Das schwĂ€chste Glied der Gesellschaft ist Ausgangspunkt fĂŒr Glauben und Handeln. Jakobus prangert ökonomische Unrechtsstrukturen an, welche den Frieden in der Gemeinde gefĂ€hrden.

Klagelieder 3,22-26.31-32

Die Dichtungen der fĂŒnf Klagelieder geben Einblick in die Katastrophe der Zerstörung Jerusalems durch babylonische Truppen. In eindrĂŒcklichen Bildern beschreiben die Lieder die Not.

Dabei setzen die fĂŒnf Lieder unterschiedliche Akzente. In Lied drei spricht ein einzelner Mann, der anders als etwa in den beiden ersten Liedern auch Aspekte der Hoffnung formuliert: Gott verstosse nicht fĂŒr immer, er erbarme sich auch (3,31f.) Damit filtert sich eines der Grundthemen heraus: Wie kann man mitten in einer Katastrophe von Hoffnung reden? Ist es bloss ein beruhigendes Nach-dem-Regen-scheint-die Sonne? Oder ist es ein unerschĂŒtterlicher Glaube, der einem „Gott ist tot“ auch in der Not widersprechen muss?

Zweifelsohne ist die Not gewaltig. Da wird von MĂŒttern gesprochen, die ihre eigenen Kinder kochen (4,10), von jungen MĂ€nner, die zu Schwerstarbeit herangezogen werden (5,13), das eigene Wasser muss von Fremden, die in den HĂ€usern wohnen, die man selber mal bewohnt hat, teuer abgekauft werden, auf den Strassen verschmachten viele vor Hunger (2,19), Frauen werden als Kriegsbeute vergewaltigt (5,11). So kann in den Klageliedern Gott auch als Feind erscheinen, der nicht barmherzig ist und das Leid seines Volkes in Kauf nimmt: „
(du)hast sie abgeschlachtet, ohne Mitleid!“ (2,21)

Zu dieser Gratwanderung fordern uns die Klagelieder heraus. Die anklingende Hoffnung in den Versen aus Lied drei muss sich an der Beschreibung dieses Elends reiben. Vielleicht ist der einzige Ansatz des Trostes darin zu sehen, dass sie in der Klage erzÀhlbar gemacht, in der Dichtung verdichtet und gemeinsam gesungen und gehört werden kann.

Erster Impuls zur Gegenwart/Nachhaltigkeit

Ich schreibe diesen Predigtimpuls mitten in der Corona-Pandemie, Mitte April 2020. Seit Wochen bin ich in Fast-QuarantĂ€ne wie viele andere auch. Die Zukunft ist ungewiss. Das Leben ist fĂŒr alle anders, fĂŒr einige buchstĂ€blich auf den Kopf gestellt. Ganze Existenzen sind gefĂ€hrdet, die Arbeitslosigkeit steigt an. In FlĂŒchtlingslagern oder bei indischen Wanderarbeiter*innen zeichnet sich immenses Leid ab. Die Sehnsucht zur RĂŒckkehr in eine NormalitĂ€t wĂ€chst stetig. Was bedeutet es aber, zur NormalitĂ€t zurĂŒckzukehren? Werden die sogenannten Risikogruppen sich in einem Leben der Abschottung einrichten mĂŒssen bis irgendwann ein Impfstoff auf den Markt kommt? Wenn dieser Predigtimpuls nĂ€chstes Jahr aktuell sein wird, werden wir mehr wissen. Aber genau dies macht die Situation des aktuellen Nachdenkens aus: Es gibt jetzt nicht das Besserwissen des Danach.

Wie kann eine Krise auch nachhaltig etwas Gutes haben? Viele Aktionen der Nachbarschaftshilfe wie auch von Unternehmen oder Kunstschaffenden zeigen eine FĂŒlle von Ideen und KreativitĂ€t. Was davon wird auch nach der Corona-Krise gute FrĂŒchte tragen und sich weiterentwickeln? Doch wir sollten nicht in allem in die „NormalitĂ€t“ zurĂŒckkehren, die vor Covid-19 gewesen ist. Ich denke an den Abbau im Gesundheitswesen oder an entsprechende PlĂ€ne, an die totale Auslagerung von Produktionen wichtiger GĂŒter nach Asien, weil es so viel profitabler ist (in der Schweiz gab es bereits am Anfang der Pandemie rasch keine Schutzmasken und Desinfektionsmittel mehr zu kaufen), an den Druck auf die Löhne und Arbeitsbedingungen, speziell bei medizinischem Personal oder bei Angestellten im Versandhandel und in SupermĂ€rkten, die in dieser Krise so viel geleistet haben. Ein Umdenken in mancher Sparte muss kollektiv gestĂ€rkt und gefördert werden.

Wie verĂ€ndert es den einzelnen Menschen? Entsteht eine StĂ€rkung des Miteinanders und sozialen Denkens oder wird eher eine Lebenshaltung gefördert, die in einem Hedonismus gipfelt, bei dem der Genuss des Augenblicks zentral ist? Eine solche Haltung wird uns gerade in den Versen Weish 2,1a.12.17-20 drastisch vor Augen gefĂŒhrt. Es sind Reden von gebildeten Menschen am Ende des 1. Jhd. Sie scheinen den Menschen als ein Zufallsprodukt zu betrachten und lehnen den Glauben an ein Weiterleben nach den Tod ab. Sie propagieren ein carpe diem. Nichts soll ausgelassen werden, was die Sinne kitzelt. Ihre Rede von den Blumen, die es vor dem Verwelken zu geniessen gelte, verfĂŒhrt, ihre Haltung als jugendlich harmlos zu betrachten. Doch fĂŒhrt diese Lebenshaltung zu einer bedenklichen Ethik, die alle Gesetze ausser Kraft setzt. Diese geht nĂ€mlich vom Recht des StĂ€rkeren aus. Die Redner*innen geben kund, sowohl die Schwachen der Gesellschaft wie die Aufrichtigen – die Gerechten – quĂ€len und gar töten zu wollen. Warum? Die Schwachen – Witwen und Waisen – fĂŒhren ihnen das Verletzliche des Lebens vor Augen. Die Gerechten stören, weil sie ihnen den Spiegel fĂŒr die Schwachpunkte ihres Lebenswandels vorhalten und ihnen stattdessen die SolidaritĂ€t mit den Schwachen der Gesellschaft vorleben. Das „Alles-ist-mir- erlaubt“ besitzt keine soziale Nachhaltigkeit.

Zweiter Impuls zur Gegenwart/Nachhaltigkeit

Welche Haltungen werden sich nach der Pandemie kontrastreich gegenĂŒber stehen? Wird es Tendenzen geben, die Corona-Party nach dem Motto „Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot“? (Jes 22,13) als Lebenshaltung zu etablieren? WĂ€chst die Welt nĂ€her zusammen in einem Bewusstsein, dass wir alle voneinander abhĂ€ngig sind oder wird ein staatliches „Wir-zuerst“ gefördert? Wie gross wird der Druck werden, die Daten der BĂŒrger*innen fĂŒr das gesundheitliche Gemeinwohl zu ĂŒberwachen? Es wird interessant sein, sich dabei im Blick auf die Reden im Buch der Weisheit zu ĂŒberlegen, wie sich die einzelnen Entwicklungen mit welchen Argumenten darstellen. Als „Gerechte“, als „Hedonist*innen? Ohne sogleich in Gut oder Böse aufteilen zu wollen, können die Reden aus Weish eine hervorragende Vorlage fĂŒr ein Nachdenken ĂŒber die Entwicklungen in unserer Gesellschaft nach Corona sein.

Mk 9,30-37 zeigt auf, wie konsequent Jesus dem Denkansatz vom Recht der StĂ€rkeren und Angeseheneren die Lebenspraxis im Reich Gottes entgegensetzt. Er beschĂ€mt seine JĂŒngerschaft, die sich um ihre hierarchische Stellung streitet, indem er ihnen mit dem Kind in der Mitte aufzeigt, dass Gottes Reich vom SchwĂ€chsten her aufgebaut wird und nur so nachhaltig sein kann, nur so Gottes Wille getan wird.

In dieser Jesustradition argumentiert der Schreiber von Jak 3,16-4,3. Am Ende des 1. Jhds. setzt er sich mit einer Tendenz in der Gemeinde auseinander, die von Neid und der Gewichtung von sozialem Status geprĂ€gt ist. Im Kontext wird deutlich, dass Jakobus als Katalysator fĂŒr diese Zersetzung der jesuanischen Nachfolge ausbeuterische ökonomische Faktoren erkennt. Er konkretisiert diese einerseits mit den Kaufleuten, die als rĂŒcksichtslose Handlanger im verheerenden Kreislauf tĂ€tig sind, wo Ware in Geld und Geld in Ware verwandelt wird, anderseits mit den Reichen, die den Erntearbeiter*innen ihren Lohn zurĂŒckhalten. Diese schreien ĂŒber dieses Unrecht und werden von Gott gehört (5,4). Die Zirkulation von Geld und Ware beeinflusst auch Gedanken und Sitten der Menschen. Das ökonomische Planen erhĂ€lt den Anstrich des ewig so sein MĂŒssenden, unabhĂ€ngig von den BedĂŒrfnissen von Mensch, Tier und Natur. Diesem setzt Jakobus einen ewigen Gott entgegen, der zugleich die VergĂ€nglichkeit von allem Geschaffenen vertritt. Glaube und Handeln, hier ausdrĂŒcklich auch ökonomisches Handeln, gehören fĂŒr Jak untrennbar zusammen. Nach Jak kranken die Menschen daran, dass sie von Gott Dinge erbitten, die bloss ihre Gier stillen, statt um das wirklich Gute zu bitten (4,3). Ich verstehe den Schreiber so, dass sich dieses Gute als nachhaltig lebensförderlich und Konflikte verhindernd fĂŒr die Gemeinschaft erweist.

Dritter Impuls zur Gegenwart/Nachhaltigkeit

Der Evolutionsbiologe Rob Wallace zeigt, wie Pandemien in einem engen Zusammenhang mit der Nahrungsmittelproduktion und der ProfitabilitĂ€t der multinationalen Konzerne stehen. Die industrielle Landwirtschaft hat sich die letzten UrwĂ€lder und von Kleinbauern bewirtschafteten FlĂ€chen angeeignet. Damit wird der Boden bereitet, dass immer neue Krankheiten entstehen können. Es wĂŒrden Krankheitserreger freigesetzt, die vorher durch das ursprĂŒngliche Ökosystem gebunden waren. Insbesondere die globale expansive Viehzucht mit Tieren auf engem Raum fördert nach Rob Wallace das Freisetzen immer neuer Krankheitserreger.

„Solche beengten VerhĂ€ltnisse beeintrĂ€chtigen die AbwehrkrĂ€fte des Immunsystems der Tiere. Ein hoher Durchlauf von Tieren, der Teil jeder industriellen Produktion ist, versorgt die Viren mit stĂ€ndig neuen Wirtstieren, was die AnsteckungsfĂ€higkeit der Viren fördert. Mit anderen Worten: Die Agrarindustrie ist so auf Gewinn ausgerichtet, dass die Entscheidung fĂŒr ein Virus, das eine Milliarde Menschen töten könnte, das Risiko wert zu sein scheint.[1]

Lee Humber, Aktivist im Gesundheits-und Sozialwesen, beschreibt diese Problematik anhand der GeflĂŒgelindustrie. China etwa steigerte die GeflĂŒgelproduktion in den letzten Jahrzehnten in einem gigantischen Mass. Solche intensive industrielle Nahrungsmittelproduktion, in welchem Land immer, bietet Viren viel Raum zu mutieren. Mit dieser Viehzucht verbunden sind Monokulturen, die die Ausbildung von Resistenzen gegen neue Viren hemmt. Die desaströse Tierhaltung mit immer noch schnellerem Durchlauf der Tiere fördert die Übertragung. Fast 75 Prozent der weltweiten GeflĂŒgelproduktion befindet sich bei einer Handvoll von Unternehmen, welche die Regeln diktieren. Um aus dieser Spirale auszubrechen, benennt Lee Humber Massnahmen wie z.B. Förderung der Artenvielfalt bei Tieren und Pflanzen, eine strategische Wiederaufforstung, ein gerechter Warenkreislauf, in dem die ZwĂ€nge solcher Produktion durchbrochen werden. [2]

Sara Kocher, ZĂŒrich

 

[1] Interview mit Rob Wallace, «Coronavirus: â€žDie Agrarindustrie wĂŒrde Millionen Tote riskieren“,» 11. MĂ€rz 2020, https://www.marx21.de/coronavirus-gefahren-ursachen-loesungen/)
[2] Lee Humber, Corona Fried Chicken – Megaviren, Massentierhaltung und MillionenstĂ€dte, in: marx21.de, 1. April 2020, https://www.marx21.de/corona-fried-chicken-megaviren-massentierhaltung-und-millionenstaedte/