Reminiszere / 2. Fastensonntag (17.03.19)

Reminiszere / 2. Fastensonntag (17.03.19)

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
Joh 3, 14-21 Gen 15, 5-12.17-18 Phil 3,17-4,1 oder Phil 3,20-4,1 Lk 9, 28b-36

Die Autorin betrachtet zunĂ€chst eingehend den Predigttext der EKD-Reihe im Spannungsfeld von Angst und Freiheit, welches bei sozialen UmwĂ€lzungen und Befreiungsbewegungen eine wichtige Rolle spielt. Sie benennt aktuelle gesellschaftliche und politische Beispiele, die man daran entfalten könnte.Die katholischen Lesungen sind kĂŒrzer kommentiert, schliessen aber an die vorhergehenden AusfĂŒhrungen an.

Joh 3, 14-21

Einordnung des Textes

Dieser Text ist durch den RĂŒckgriff auf die Geschichte von Moses’bronzenen Schlange komplex, da erst durch ein VerstĂ€ndnis des alttestamentlichen Textes die johanneische Interpretation des am Kreuze erhöhten Christus zu verstehen ist.Johannes verbindet seine Gedankenmit dem Exodus der HebrĂ€er/innen aus dem Sklavenhaus Ägyptens. Das Volk murrt gegen seine FĂŒhrer/innen, als es unter Hunger und Durst leidet. Die Sehnsucht nach Ägyptenwird laut. Durch eine Schlangenplage, die Gott gegen das murrende Volk schickt, wird das Leiden noch grösser. Moses fertigt eine bronzene Schlange auf einem Stab an. Ein Blick auf die Skulpturverhindert den Tod durch einen Schlangenbiss.Mit der Sehnsucht nach Ägypten stehen jedoch nicht nur die tödlichen Folgen einer verspielten Freiheit auf dem Spiel. Dieser Gott ist ihr Gott, gerade weil er dieses Volk aus dem Sklavenhaus Ägyptens herausgefĂŒhrt hat. Damit steht auch dieser Gott der Befreiung auf dem Spiel.So gesehen, bedeutet der Schlangenstab, sich der Angst zu stellen. Die ‚Schauenden‘ werden von dieser falschen Sehnsucht geheilt, die sie wieder in die Knechtschaft fĂŒhren wĂŒrde.Mit diesem RĂŒckgriff auf den Exodus kann Johannes von seiner Gegenwart reden. Sein Sklavenhaus der Gegenwart ist die Weltmacht Rom. Wie Ägypten bietet es fĂŒr einige Volksschichtenein angenehmes Leben. Doch der Messias Jesus verkörpert die Verlierer der Geschichte. Er ist selber Opfer geworden, hat an seinem Leib erfahren, was im jĂŒdisch-römischen Krieg (66 -70 n. Chr.) Massen seines Volkes erleben werden: Totale Vernichtung. Das Kreuz reprĂ€sentiert zunĂ€chst die Niederlage des Messias. Der erhöhte Messias am Kreuz aber konfrontiert die AnhĂ€ngerschaft Jesu mit ihren Ängsten. Es soll sie an den Menschen erinnern, der mutig und radikal solidarisch mit den Verlierer/innen der Gesellschaft gewesen ist. Ist es ein Aufruf zu einem zweiten Exodus – aus eben diesen Ängsten? Warnt er die Ekklesia davor, in einer finsteren Weltordnung aufzugehen, die sich militĂ€risch immer mehr LĂ€nder aneignet, und Unangepassten die brutalste Gewalt spĂŒren lĂ€sst?

Aspekte der Nachhaltigkeit

Eine Predigt zu diesem Text kann sich am Spannungsfeld Freiheit – Angst entwickeln. Wie die Menschen zur Zeit des Johannes befinden wir uns in einer Welt der grossen UmwĂ€lzungen. Die individuelle Freiheit ist ein kostbar errungenes Gut. Doch gibt es Entwicklungen, die diese Freiheit immer wieder beschneiden.

  • Es sind diverse Ängste, die unsere Gesellschaft zunehmend beherrschen, z.B. vor Terrorismus, Krieg, Arbeitslosigkeit, Überalterung und deren Folgen. Diese Ängste werden von den herrschendenEliten teils auch ganz gezielt geschĂŒrt, um Repressionen wie Überwachung der BĂŒrger/innen, Militarisierung, AufrĂŒstungoder Sozialabbau zu legitimieren.
  • Aktuelles Beispiel: Die Bereitschaft in der Bevölkerung steigt, ihre persönlichen Daten weiterzugeben. So ist es eine Frage der Zeit, bis Sensoren den Gesundheitszustand der Leute laufend aufzeichnen können. Krankenkassen wĂŒrden bei warnenden Anzeichen ein FrĂŒhalarmsystem auslösen, um teure Eingriffe und Behandlungen zu vermeiden. Das kann in einigen FĂ€llen sinnvoll sein. Aber was geschieht, wenn ein solches System nicht mehr freiwillig ist, sondern Bedingung wird und WiderstĂ€ndige bestraft werden mit immensen PrĂ€mien? Das ‘Schlangenbild’ am Stab, das ja auch im Zeichen der Medizin erscheint, wĂ€re ein reines Angstbild in Bezug auf den defekten und anfĂ€lligen Körper. Es gaukelt zudem Sicherheit vor, als ob der Tod so zu vermeiden sei. Ein solches System, bei dem die Fittesten die ‚guten GlĂ€ubigen‘ sind, muss aus christlicher Sicht mit grossen Bedenken betrachtet werden. Es haftet ihm etwas UngnĂ€diges an. Letztlich steht dahinter wirtschaftliches KalkĂŒl.

Genesis 15,5-12.17-18

Dieser Text ist aus verschiedenen GrĂŒnden schwierig zu erfassen: Verschiedene ErzĂ€hlstrĂ€nge sind ineinander verwoben; das Zeremoniell rund um den Bundesschluss wirkt schamanistisch-archaisch (Tieropferung, rauchender Ofen, brennende Fackel). Zudem ist in der Forschung die zeitliche Ansetzung Ă€usserst umstritten. Es ist mit einer geschichtlich rĂŒckwĂ€rts gerichteten Projektion zu rechnen, welche das theologische GerĂŒst von Nachkommen, Landbesitz und Bundesschluss mit Gott in der Zeit Abrahams verortet.In jedem Fall geht es um eine Auseinandersetzung mit der eigenen IdentitĂ€t als Volk.

Aspekte der Nachhaltigkeit

  • Bedeutung der Mythenbildung von Völkern: Verleihung von IdentitĂ€t, Macht und Legitimation (Bsp. der Mythos von Wilhelm Tell in der Schweiz). Inwiefern dienen solche Mythen den Interessen von Staaten und Herrschenden? Inwiefern dienen sie friedlicher Koexistenz, inwiefern kriegerischen Absichten?
  • Problematik religiös begrĂŒndeten Landbesitzes (Bsp. Konflikt PalĂ€stina – Israel)
  • Worin ist der Schrecken bzw. die grosse Finsternis zu sehen, die mit dem Tiefschlaf Abrams einher geht? Gerade die in der Lesung nicht vorgesehenen Verse wĂŒrden diesem einen verstĂ€ndlichen Grund geben: Gott verspricht keinen Rosengarten. Stattdessen: Lange Fremdherrschaft, Völkerkonflikte und Gefangenschaft fĂŒr die verheissenen Nachkommen! Abram wird ein Nomade bleiben und kein Land besitzen. Erst fĂŒr das Grab seiner Frau Sara wird er Land erwerben. Gottes Verheissung liegt im Kampf mit ungerechten VerhĂ€ltnissen. Sich auf einen Gott einzulassen,der aus ‚SklavenhĂ€usern‘ herausfĂŒhrt, ist nichts, was historisch abgeschlossen ist. Es macht wach fĂŒr die aktuellen Ungerechtigkeiten der Gegenwart.

Phil 3,17 - 4,1

Paulus ermutigt in seinem Brief die messianischen BrĂŒder und Schwestern in Philippi, sich nicht von ihrem Weg abbringen zu lassen, was vor allem auch die Gemeinschaft von jĂŒdischen und nicht-jĂŒdischen Leuten betrifft. Einen Vers vor der Lesung (V.16) ermuntert Paulus, in dem Erreichten aufrecht/sicher zu gehen. Damit skizziert er seinen Hauptgedanken. Es gibt Prediger, die auf die Gemeinde Einfluss nehmen und ihre Auflösung anstreben. Vieldeutig ist sein Ausdruck: ‘Ihr Gott ist der Bauch’ und ‘Schande’. Sind es Libertinist/innen? Möglich sind Prediger, die das Befolgen von Speisevorschriften fordern, was das Zusammenleben von Juden und Nicht-Juden verunmöglichen wĂŒrde. Damit wĂŒrde die Ekklesia im Innersten gefĂ€hrdet. Auch politische Bedenken (‘Gemeinwesen’, politeuma) stehen im Vordergrund. Wie geschieht Befreiung von der Besatzungsmacht Rom? Paulus kennt die kontroversen AnsĂ€tze im Volk. Er selbst setzt darauf, angesichts der immensen Macht Roms die Lage wohl richtig einschĂ€tzend, dass eine Umwandlung derGesellschaft von innen her erfolgen muss. Umso bedeutungsvoller (und machtvoller) wird das einvernehmliche Zusammenleben von jĂŒdischen und nicht-jĂŒdischen Menschen im Namen des Messias. Erkennt Paulus die Nachhaltigkeit einer solchen gesellschaftlichen Umwandlung?

Aspekte der Nachhaltigkeit

FĂŒr eine Predigt wĂ€re genau dieser Aspekt spannend. Welche gesellschaftlichen Widerstandsbewegungen und Revolutionen waren in der Geschichte, sind in der Gegenwart nachhaltig? Und warum?

Lk 9, 28b-36

In der sog. VerklĂ€rung tauchen zwei fĂŒhrende Gestalten aus der jĂŒdischen Geschichte auf, Moses und der Prophet Elija. Die Jesusbewegung bzw. das Projekt der messianischen Ekklesia wird in die Geschichte Israels eingebunden. Petrus aber scheint den schmerzhaften Wandlungsprozess zu verkennen. Er möchte diesen Moment festhalten (‘HĂŒtten bauen’). Er stellt sich seiner Angst nicht und verdrĂ€ngt wohl die Anzeichen, dass Jesus schon bald von denfĂŒhrenden Eliten beseitigt wird. Die Angst ĂŒberkommt ihn daher unvermittelt.

Aspekte der Nachhaltigkeit

Diese schliessen an die Gedanken zum johanneischen Text an. Wandel, gesellschaftliche UmwĂ€lzungen lösen Ängste aus. Die Versuchung ist gross, sich diesen Ängsten nicht zu stellen, sondern um sie herum vermeintliche Sicherheiten aufzubauen. Wo sind wirversucht, „HĂŒtten zu bauen“? Uns abzuschotten, einzulullen, in das rein Private zurĂŒckzuziehen?

Sara Kocher, ZĂŒrich