2. Adventsonntag (04.12.22)

2. Adventsonntag [V/A]

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
Hld 2,8-13 Jes 11, 1-10 Röm 15, 4-9 Mt 3, 1-12

„Unfriede herrscht auf der Erde, Kriege und Streit bei den Völkern" ..., so beginnt ein polnisches Friedenslied aus den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. SpĂ€testens seit den 80er Jahren ist es auch in unseren Breiten bekannt, wird es auch auf Deutsch, in der Vertonung von Zofia Jasnota, in den Gottesdiensten gesungen. In wenigen, aber erfahrungsgesĂ€ttigten Worten wird ein wieder sehr aktuelles Thema aufgegriffen: „UnterdrĂŒckung und Fesseln schwingen so viele zum Schweigen."

Seit Russland den Krieg gegen seinen Nachbarn vom Zaun gebrochen hat, stimme ich dieses Lied mit einer anderen Betroffenheit an, singe ich jede Silbe bewusster und inniger. Und mit jedem Ton durchfĂ€hrt mich ein Schauer: Wie kann es sein, dass die Menschheit es noch immer nicht begriffen hat? Dass ein Tyrann auf den nĂ€chsten gegen alle guten Prinzipien der zivilisierten Welt brutal verstĂ¶ĂŸt, verstoßen darf?

Advent riecht anders – Hld. 2,8-13 (ev. Predigttext)

In zwei Wochen, wenn die Christenheit Heiligabend feiern wird, steht die Ukraine seit genau 10 Monaten im Krieg: Am 24.02. dieses Jahres begann die von Wladimir Putin befohlene Invasion gegen den Nachbarn. Wie kann ein Advent unter diesem „Stern" aussehen? Das „Hohelied", das auf König Salomo zurĂŒckgefĂŒhrt wird, liefert Bilder, die zunĂ€chst irritieren. Die Metaphern aus der Natur, die darin verwendet werden, besingen die ideale Liebe in einer Partnerschaft, lassen sich aber auf Geschwister – wie es Russen und Ukrainer sind – und auf die Menschheit generell ĂŒbertragen. Was das Erste Testament in diesem alten Text beschreibt, ist die große LiebeserklĂ€rung an die Menschheit, zeugt vom Zutrauen Gottes in die FĂ€higkeit, Einsicht, ja Möglichkeit zur Weisheit des Menschen. Wie wenn der Schöpfer sagen wollte: So, meine Lieben, genauso hatte ich mir das fĂŒr euch ausgemalt. Seit Jahrzehnten verwenden Christen dafĂŒr „Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung" als Leitziel – ein Motto und eine Wertebasis, die aufs Neue von den RealitĂ€ten in der Welt eingeholt wurden. Vor dem aktuellen Erfahrungshintergrund gelesen, wirkt diese schöne Liebeslied wie eine Vision, vielmehr wie eine Utopie. Der Optimist mag darin die Hoffnung auf einen Gott erkennen, der den Glauben an die Welt noch nicht verloren hat. Und der nicht mĂŒde wird zu mahnen: „Friede soll mit euch sein. Friede fĂŒr alle Zeit! Nicht so, wie ihn die Welt euch gibt, Gott selber wird es sein." (Refrain ‚Unfriede herrscht auf der Erde')

Zeit fĂŒr Geistesgaben – Jes 11,1-10 (kath. 1. Lesung)

Die Vision gleichsam paradiesischer ZustĂ€nde findet sich auch im Buch Jesaja wieder. Nach der Prophetie der Zerstörung Assurs im vorangegangen Kapitel wird ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit in Aussicht gestellt. Verkörpert wird dieser neue Stil von Herrschaft durch den „FriedensfĂŒrsten", der durch den „Geist der Weisheit und der Einsicht, den Geist des Rates und der StĂ€rke, den Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn" (V. 2) charakterisiert wird. Nach der Prophetie des Jesaja soll dieser Herrscher dem Stamm Davids entspringen, er wird die Völker in ihrer Vielfalt zusammenfĂŒhren und eine Gesellschaftsordnung errichten, die sich – in der Sprache heutiger Deutungen – auf den Prinzipien Gerechtigkeit, Gleichheit in Verschiedenheit und SolidaritĂ€t – grĂŒndet. Die Vision des Propheten Jesaja wurde in der christlichen und theologischen Deutung bald messianisiert und eschatologisiert. Beides fĂŒhrt in der gegenwĂ€rtigen Situation nicht weiter. Erstes nicht, weil ein russischer Patriarch nicht davor zurĂŒckschreckt, Werte des Christentums zu verraten und eigene Rituale zu instrumentalisieren – und damit letztlich den Namen Christi fĂŒr die Kriegsideologie zu missbrauchen. Zweites nicht, weil durch den Verweis auf die „Endzeit" (Eschaton) neue gefĂ€hrliche weltanschauliche Ideologien auf den Plan gerufen werden können. Stattdessen geht es um Erkenntnisse und um weise Lösungen im Hier und Jetzt.

Die „Geistesgaben", die Jesaja bei der Qualifizierung des „FriedensfĂŒrsten" anfĂŒhrt (s. oben und im Text V. 2), lassen sich durchaus aktuell ĂŒbertragen: AltbundesprĂ€sident Joachim Gauck sprach im Herbst in einer Fernsehsendung von der „gefallenen Welt". Und rechtfertigte gegen das an sich erstrebenswerte pazifistische Ideal sehr deutlich einen Verteidigungskrieg als legitimes Mittel „gegen die Gewissenlosen, die sich diese Frage [der Verteidigung mit der Waffe] nicht stellen". Zeitlich parallel textete Lars Reichow: „Wie wĂŒrdet Ihr entscheiden: Wer macht dem Mörder seiner Kinder ein Friedensangebot?" In beiden Statements lĂ€uft es einem eiskalt den RĂŒcken herunter. Weil Fragen der Menschheit, zum Frieden, zur Heilung und zur Nachhaltigkeit unseres Zusammenlebens in aller Klarheit gestellt werden. Niemand kann diesen Fragen des Menschseins heute noch ausweichen. Und nur durch den Geist der Weisheit und der Einsicht, des Rates und der StĂ€rke, der Erkenntnis und der Gottesfurcht – so Jesaja –können sie aufrichtig und wertegeleitet beantwortet werden. Denn die WĂŒrde und die Freiheit des Menschen – als und weil Ebenbild Gottes – sind nicht verhandelbar. Ethische Prinzipien sind mehr als Theoreme. Die aktuelle Kriegslage in der Ukraine und damit die GefĂ€hrdungslage fĂŒr Europa und die ganze Welt machen dies in aller HĂ€rte deutlich.

EinmĂŒtigkeit neu definieren – Röm 15,4-9 (kath. 2. Lesung)

Die Mahnung zur „EinmĂŒtigkeit" (V. 5) ist ein Erbe in der verfassten Kirche, das oft schwer wiegt. Denn mit dieser sei es dahin, klagte der aktuelle Vorsitzende der Dt. Bischofskonferenz. Wer kirchenhistorisch die Bedingungen in diesem Gremium untersucht, dem wird klar, dass in Krisenzeiten (wie bspw. auch in der Zeit des Nationalsozialismus) die Bischöfe in Deutschland so gut wie nie zu einer Meinung gefunden haben. Kann dies vielleicht daran liegen, dass „EinmĂŒtigkeit" und „Einheit" – als nicht hinterfragbare Pfeiler des römischen Katholizismus – anachronistisch und damit nicht zielfĂŒhrend ausgelegt werden? Die amtskatholisch verwendeten Begriffe drĂŒcken ein BinnenverstĂ€ndnis von Einheitlichkeit aus, das dem in vielem dichotomen Welt- und Menschenbild dieser Kirche entspricht: gut gegen böse, schwarz oder weiß. Zwischentöne sind dabei nicht vorgesehen, wie die Debatte um die sexuelle IdentitĂ€t wieder offenbart hat.

In einer funktionalen Organisation hat man dieselben Werte, auf denen man sein Handeln grĂŒndet. Dieselbe Meinung muss man nicht haben. Das ist im Prinzip in jeder Partnerschaft so, ansonsten bleibt die Weiterentwicklung einer Verbindung – und auch die jedes und jeder einzelnen – auf der Strecke. In dieser Form katholischer Vorstellung von Einheit und EinmĂŒtigkeit indes schwingt ein vormodernes – ja kleinkindliches – VerstĂ€ndnis mit. Hier könnten demokratische Organisationen und Prozesse als Korrektiv fungieren: Die GrĂŒnen bspw. besitzen ein gĂ€nzlich anderes GrundverstĂ€ndnis, die besten Lösungen kommen durch möglichst viele Sichtweisen zustande. Die katholische Kirche befindet sich in einem Lernprozess der SynodalitĂ€t. Dabei geht freilich nichts â€žĂŒber Nacht", alte GlaubenssĂ€tze lassen sich nicht so leicht â€žĂŒber Bord werfen". VerĂ€nderung ist mit Angst verbunden und bei nicht wenigen wird der synodale Geist als Bedrohung empfunden, als Angriff auf ihre traditionellen Vorstellungen, aber auch auf ihre Macht als KirchenfunktionĂ€re.

Der Brief an die Römer kann als „Testament" des Paulus gelesen werden. Denn in ihm sind alle Fragen und Aspekte, die dem „Apostel der Völker" wichtig waren, wie unter einem Brennglas verdichtet. In ihm bĂŒndelt Paulus seine zentralen Aussagen. Insofern ist dieser Brief auch fĂŒr die heutigen Nachkommen der Apostel wesentlich. Wenn sie die Kirche nachhaltig in eine Zukunft fĂŒhren wollen, sind sie gut beraten, ihr Sinnen und Handeln an dem auszurichten, den Paulus als Maßstab in Erinnerung ruft: Jesus Christus und den Heiligen Geist. Das schließt fĂŒr alle Betroffenen unchristlicher Taten unter dem Dach der Kirche aber ein, dass sie endlich Gerechtigkeit und Anerkennung erfahren. Sie zu ĂŒberhören und – ausstehende – Verantwortung fĂŒr erlittene heillose Macht spirituell zu relativieren, heißt im Letzten Jesus Christus und seine Wunden am Kreuz zu verhöhnen (Mt 25,40).

So geht's nicht weiter – Mt 3,1-12 (kath. Evangelium)

Das seit einiger Zeit vielfach verwendete Wort der „Zeitenwende" kann als Grundlage fĂŒr das (katholische) Tagesevangelium verwendet werden. Der große und laute Weckruf Johannes des TĂ€ufers lautet: „Kehrt um" (V. 2). Der „Rufer in der WĂŒste" ist klarer denn je im Tonfall: ein Volk – das Volk Israel – steckt in einer ausweglosen Lage und auch der Rekurs auf den Stammvater Abraham (V. 9) Ă€ndert daran nichts. Was es braucht, ist eine gĂ€nzlich neue Perspektive. Von dieser jedoch haben weder Johannes noch der Evangelist MatthĂ€us eine konkretere Vorstellung. Sie wird wenige Passagen spĂ€ter in der Metapher vom „Reich Gottes" vorskizziert (vgl. http://www.nachhaltig-predigen.de/index.php/predigtanregungen/2021-22/62-predigtanregungen-2021-22/1177-drittl-sonntag-i-kirchenjahr-32-sonntag-im-jahreskreis-06-11-22). Ein Traum, der bis heute wachgehalten werden konnte; der insbesondere heute zu neuem Leben zu erwecken ist. In Worten und in Werken. Denn die zarten Keime des Reiches Gottes sind vielfach bedroht.

Dr. Thomas Hanstein, Erbach/Donau

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