20. Sonntag nach Trinitatis / 31. Sonntag im Jahreskreis
ev. Predigttext | kath. 1. Lesung | kath. 2. Lesung | kath. Evangelium |
Hld 8,6b-7 | Weish 11, 22 - 12, 2 | 2 Thess 1, 11 - 2, 2 | Lk 19, 1-10 |
„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ Mit diesem Wort aus dem Buch des Propheten Micha (6,8) läutet der 20. Sonntag nach Trinitatis die Woche ein. Die vorgesehenen Perikopen illustrieren auf je ihre Weise, was mit diesem Vers gemeint sein kann. Mal offensichtlich, mal subtil geht es um die große Kraft der Liebe: Gott als Liebhaber des Lebens, der eine ganze Welt aus Liebe erschafft mitsamt dem Menschen als geliebtes Gegenüber. Der Mensch, der aus dieser Liebe lebt, dieser Liebe entsprechen kann und seine Rolle als Mensch findet. Leider hängt der Haussegen oft schief, läuft Sehnsucht ins Leere, stellt sich Enttäuschung und Entfremdung ein. Aber wenn die Chemie zwischen Gott und Mensch stimmt, dann ändert das etwas, leben Menschen anders, sieht Welt anders aus.
Hoheslied 8,6b-7
Meine Mutter sprach gern von „bleibenden Werten“. Was sie damit meinte, waren Teppiche, Schmuck, Porzellan. Dinge dieser Art. Etwas, das nicht von der Zeit gefressen wird, sondern seinen Wert behält. Was war sie stolz darauf, uns Kindern „bleibende Werte“ zu hinterlassen. Nach ihrem Tod stellte sich schnell heraus, dass nichts von all dem für die Ewigkeit war. Die Teppiche waren von den Motten gefressen, der Schmuck war längst unmodern, und Porzellan gibt es wie Sand am Meer. Von all diesen Werten ist so gut wie nichts geblieben.
Und dennoch verdanke ich meiner Mutter den einzigen bleibenden Wert, auf den es wirklich ankommt. Sie hat uns geliebt, so richtig von Herzen. Und das hat uns geprägt. Deshalb sind uns Kindern Teppiche, Schmuck, Porzellan ziemlich egal, aber auf Menschen legen wir Wert. Die sind uns etwas wert. Die Liebe ist uns etwas wert. Und davon spricht das Hohelied der Liebe. Von einem Wert, der mehr wert ist als alles andere und den man deutlich besser über die Zeit retten kann als alles Gut der Welt. Sogar bis in die Ewigkeit.
Für diesen Wert plädiert das Hohelied der Liebe mit Leidenschaft. Hier begegnen wir der feurigen, temperamentvollen, unwiderstehlichen Liebe. Andere Facetten begegnen uns beim Apostel Paulus: geduldig, freundlich, gerecht, aufrichtig, vertrauensvoll (1. Kor. 13, 4 – 7). Aber in einem sind sich Erstes und Zweites Testament einig: Die Liebe ist eine große Kraft, ein nachhaltiger Wert, das beste Geschenk, das Gott uns macht. Wir können lieben. Die Liebe macht unser Leben wahrhaft reich und geht mit uns durch Feuer und Wasser. Sogar durch den Tod.
Aber sie ist ein Wert, den ich nicht machen oder beschaffen kann. Liebe stellt sich ein, widerfährt, überwältigt. „Wenn einer alles Gut in seinem Haus um die Liebe geben wollte…“. Das kann er wollen, soviel er will, es wird nicht gelingen, er wird es nicht zwingen können. Die Liebe ist kein Gegenstand von Handel. Aber es wollen, öffnet der Liebe die Tür. Wer bereit ist, alles Gut um die Liebe zu geben, der weiß um den Wert der Liebe. Der ist nicht mehr fixiert auf all das, was von der Zeit gefressen wird, steigt aus der Spirale des Haben-Wollens aus, nimmt seine Seele ernst, nimmt Gott ernst. Die richtigen Prioritäten setzen – ein Anfang für die Liebe. Und die geht einher mit Glaube und Hoffnung und hat mit Gottes Hilfe kein Ende.
Weisheit 11, 22 - 12, 2
Das ältere Ehepaar gehört zu denen, die sich ohne Worte verstehen. Siebzig Jahre sind sie verheiratet. Enorm. Geht das ohne Schwierigkeiten? Nein, sagen beide. Sie lächelt und legt ihre Hand auf seine: "Wir hatten es manchmal auch schwer miteinander." Und wie schafft man es dann trotzdem? Jetzt antwortet er: "Einmal habe ich meine Koffer gepackt. Ganz hinten im Kleiderschrank lag dieser kleine, alberne Hut, den sie getragen hat, als wir uns kennengelernt haben. Da bin ich geblieben." Ein kleiner, alberner Hut? "Um uns herum lag alles in Schutt und Asche. Und wie zum Trotz trug sie diesen Hut. Da wusste ich, mit dieser Frau will ich alt werden." Und was nützt das Jahre später? Ach was, die Antwort weiß ich auch so: Es ist die Erinnerung an einen guten Anfang. Den Anfang einer Liebe.
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Geschichte eines Anfangs. Erste Worte einer Liebesgeschichte, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Weil die Welt erst werden muss, die Ort solcher Liebe sein kann. Es muss Licht geben, in dem die Liebe sichtbar wird. Es muss Schönheit gestaltet werden, in der die Liebe sich entfalten kann. Es muss Geschöpfe geben, in deren Augen sich die Liebe spiegeln mag. Gott ist ein großer Liebhaber. Und er schafft eine großartige Welt als Ort seiner Liebe. In der Sonne und Mond sich abwechseln wie der Takt eines Herzens. In der Bäume und Blumen, Löwen und Libellen auf je ihre Art von so viel liebevoller Vielfalt sprechen, wie ein Schöpfer sie nur haben kann. In der ein Wesen sich tummelt, das Gott für würdig erachtet, seiner Liebe zu entsprechen: der Mensch.
Keine Liebesgeschichte ohne Enttäuschungen. Gegenseitige Enttäuschung. Der Mensch empfindet Gottes Liebe als Zumutung an seine Freiheit. Er sucht die Freiheit außerhalb dieser Liebe und verliert den Boden unter den Füßen, den er nur dieser Liebe zu verdanken hat. Er verwechselt gemeinsames Sorgen mit Einengung und Gottes Liebe mit Tyrannei. Er sucht das Weite vor einer Beziehung, die zu ihm gehört wie der Atem zum Leben, und stört das empfindliche Gleichgewicht des Lebens und der Liebe. Und Gott? Gott vergießt Tränen enttäuschter Liebe, aber er vergisst den Anfang nicht. Er vergisst die Liebe nicht. Und liebt unverdrossen weiter.
Manchmal reicht ein kleiner alberner Hut, um sich an den guten Anfang einer Liebe zu erinnern. Wir sind Geliebte des Herrn. Und die ganze Schöpfung ist Zeugnis dieser Liebe. Mag sein, dass wir einander aus den Augen verlieren, dass wir einander die Liebe nicht glauben können. Sie ist doch da, will zum Zuge kommen. Immer wieder. In guten wie in schlechten Tagen. Wie es sich für wahre Liebe gehört.
2 Thess. 1, 11 - 2, 2
Emma, sage ich zu meiner 15jährigen Tochter, ich soll etwas Sinnvolles zu ein paar Sätzen aus der Bibel sagen. Was denkst du dazu? Und dann lese ich ihr diese Passage aus dem Brief des Apostels Paulus an die Menschen in Thessaloniki vor. Meine Tochter ist ratlos. Dazu fällt ihr wenig Sinnvolles ein. Die sollen keine Angst haben, sagt sie schließlich. Und trifft eigentlich den Nagel auf den Kopf.
Die sollen keine Angst haben. Aber die haben Angst. Aus sehr verschiedenen Gründen. Die haben Angst, dass sie nicht gut genug sind für Gott. Das kenne ich. Das kannte schon Martin Luther. Kleine Menschlein und der große Gott. Der echt viel erwartet von seinen kleinen Menschlein. Die aber nur dann echte Menschen werden, wenn sie genau das begreifen. Der große Gott erwartet nicht, er schenkt. Er macht uns würdig. Bei ihm liegt Vollendung. Nicht bei uns. Keine Angst also.
Keine Angst auch vor all denen, die so ganz genau wissen, was Gott tut und wann er es tut. Der Tag des Herrn ist da. Behaupten einige, die sich im Auftrag des Herrn unterwegs wähnen. Stimmt nicht, sagen die, die im Auftrag des Herrn unterwegs sind. Dieser Tag steht noch aus. Der Tag, an dem aus Zeit Ewigkeit wird, der Seligkeit oder Verderben bringen kann. Für die Damaligen eine lebensentscheidende Frage. Am Tag des Herrn will ich auf der richtigen Seite stehen. Klar.
Der Tag des Herrn steht immer noch aus. Er steht schon so lange aus, dass wir uns daran gewöhnt haben, nicht mehr darauf zu warten. Was aber nach wie vor beängstigend ist, sind die vielen widerstreitenden Stimmen, die alle die Wahrheit gepachtet haben wollen, wenn es um Gott geht. Den einen ist er ganz egal, andere basteln sich ihren Herrn, wie es ihnen passt. Entweder niedlich, dauerlieb, handzahm. Oder zornig, strafend, nachtragend. Und immer ist es der ganze Kuchen Wahrheit. Dabei kriegen wir als Menschen doch gar nicht mehr als eine passable Anzahl Krümel.
Weil Gott der Herr des Kuchens ist. Sagt Paulus. Er allein kennt die Wahrheit, ist die Wahrheit. Er tut, was er will. Er kommt, wann er will. Sein Geist weht, wo er will. Natürlich wüsste ich es gern genauer. Wüsste gern, wie Gott tickt. Aber was hätte ich davon? Was hätte ich von einem Gott, der von mir komplett berechenbar ist? Wäre das dann noch Gott? Wohl kaum. Also traue ich dem Apostel, der es auch nicht besser weiß. Und trotzdem etwas weiß. Zum Beispiel, dass ich keine Angst haben muss. Weil Gott weder niedlich-machtlos noch zornig-strafend ist, sondern der Herr, der mich will, der mit mir ist und für uns alle Heil im Sinn hat. Dem traue ich. Das finde ich sinnvoll. Findet auch die Emma.
Lk. 19, 1-10
Schöne Geschichte. Die man gerne Kindern erzählt. Die hören das auch gern. Da ist einer so klein, dass er auf einen Baum steigen muss, damit er sehen kann. Und ausgerechnet der wird von Jesus gesehen. Weil der eben auch die Kleinen sieht. Die man ja wirklich gerne übersieht. Alter, Körpergröße, Bildungsgrad, Wirtschaftskraft. Klein kann man sich aus vielen Gründen fühlen. Klein will keiner sein. Gepriesen sei Zachäus, die Galionsfigur der Kleinen und Benachteiligten. Gepriesen sei Jesus, der ein Herz für die Kleinen und Schwachen hat. Und sie sieht.
Wer diese Geschichte so sieht, übersieht aber etwas Wesentliches. Zachäus ist nicht klein. Kann sein, dass er kein Gardemaß an Körpergröße zu bieten hat. Aber dafür ist er ein großer Trickser mit einem großen Geldbeutel. Der Tag für Tag an den Toren der Stadt sitzt und seine Landsleute über den Tisch zieht. Im Getriebe des römischen Staatsapparates mag er nur ein kleines Rädchen sein, aber für die Seinen ist er ein großer Verräter. Ein Kollaborateur mit der fremden Großmacht, der sich selbst groß macht, indem er andere klein macht. Den kann keiner leiden.
Verflucht sei Zachäus, die Galionsfigur von Fremdherrschaft und Korruption. Gepriesen sei Jesus, der ihn entlarvt und vorführt. Der mit dem Finger auf ihn zeigt und diesen Gernegroß zurechtstutzt. Jesus zeigt mit dem Finger auf Zachäus und lädt sich bei ihm zu Essen ein. Jesus zeigt mit dem Finger auf den Verräter, Kollaborateur, Gernegroß. Entlarvt ihn, führt ihn vor. Wie er in der Astgabel hängt. Neugierig, zweifelnd, trotzig, sehnsüchtig. Und lädt sich bei ihm zum Essen ein. Das nenne ich paradoxe Intervention.
Natürlich weiß Jesus, wen er vor sich hat. Einen, der kleinlich ist. Der ein enges Herz hat. Aber irgendwo in diesem Herzen ist die Sehnsucht nach Weite, nach Größe. Würde Zachäus sonst in dieser Astgabel hängen? Seinen Finger legt Jesus exakt in diese Wunde. Spricht seine Worte in eine Sehnsucht hinein. Und durchbricht die Spirale der Erwartungen, Zuweisungen, Projektionen. Nichts ist unabänderlich, alles kann sich ändern. Jeder kann sich ändern. Große können klein sein, und Kleine können groß sein. Verkehrte Welt. Vor Gott richtige Welt.
Erzählen wir also weiter diese Geschichte unseren Kindern. Nicht als Gute-Nacht-Märchen für selbstbewusste Kita-Knirpse. Sondern als Evangelium. Als die gute Nachricht, dass der Finger in der Wunde liegt. Größe bemisst sich nicht mit dem Metermaß, nicht mit dem Intelligenzquotienten, nicht mit dem Geldbeutel. Größe zeigt der, der auf einen Baum klettert, weil er eine Sehnsucht hat. Der sich entlarven, vorführen lässt. Sich klein macht, damit Gott ihn groß machen kann.
Dorothee Wüst, Speyer