10. Sonntag nach Trinitatis / 21. Sonntag im Jahreskreis
ev. Predigttext | kath. 1. Lesung | kath. 2. Lesung | kath. Evangelium |
Mk 12, 28-34 | Jes 66, 18-21 | Hebr 12, 5-7.11-13 | Lk 13, 22-30 |
Mk 12,28-34
‚Und keiner wagte mehr, Jesus eine Frage zu stellen‘ - so der letzte Satz der Perikope. Aber wollten wir das? Müssten wir nicht diesem Jesus noch ganz viele Fragen stellen können, gerade wir, die wir kaum mehr verstehen, was wir mit der wunderbaren Formel des Liebesgebots eigentlich sagen. Was ist ein ‚Nächster‘? Diese Antwort gibt die Parallelstelle bei Lk 10,25-28 mit der Geschichte vom Barmherzigen Samariter. Nicht die Praxis, aber die Theorie dazu ist ja einfach. Was hingegen ist ‚Gott‘ und was ist ‚ich selbst‘? Zwei Fragen, die für den damaligen Fragesteller überhaupt keine waren, für uns heute aber umso mehr:
Ganz selbstverständlich war Gott der Schöpfer, und ‚ich‘ das Geschöpf wie alles um mich herum. Hinter dieser schlichten Gewissheit sehen wir heute lauter Fragezeichen, wenn überhaupt. ‚Wer bin ich?‘ist seit gut hundert Jahren ein richtig grosses Rätsel geworden, nicht nur dank der Psychoanalyse. Und mit den heutigen und morgigen Möglichkeiten, in das Erbgut und in das Lebensuhrwerk zu greifen, und durch das mutmasslicheVerfliessen der Grenzen zwischen menschlicher und maschineller Intelligenz, werde nicht nur ich als Mensch infrage gestellt, sondern auch Gott als Schöpfer. Man braucht kein Kreationist zu sein um unruhig zu werden. Die Schöpfungserzählungen sind nicht nur wahr, wenn sie wörtlich genommen werden. Wir beginnen den Pharisäer vor 2000 Jahren zu beneiden. Er wusste nichts von den Möglichkeiten und Fragen unserer Zeit. Schlagen sie Gott, bildlich gesprochen, das letzte Krümelchen Schöpfungserde aus der Hand? Oder beweisen sie, dass Gott schon immer bloss ein Mensch war? Darüber sollten wir ernsthaft nachdenken. Und Fragen stellen!
Jes 66,18-21, Hebr 12,5-7.11-13, Lk 13,22-30
Apokalyptik drückt durch in den Texten, und wie Föhnwetter bekommt sie uns schlecht. Die einen verfallen der Hoffnungslosigkeit, weil sie doch nicht so recht glauben können, zu den Auserwählten zu zählen, die noch vor Feierabend durch die enge Tür schlüpfen können. Sie verlieren den Mut oder beginnen sich in froher Erwartung des Lohns selber zu züchtigen. Andere besinnen sich ihrer Ellbogen und lassen sich nicht zweimal sagen: Bemüht euch mit allen Kräften, durch die enge Tür zu gelangen. Wer schon das rücksichtslose Vorarbeiten der Leute an speziellen heiligen Orten beobachtet hat, weiss, was gemeint ist.
Anders die abschliessende Vision im Jesajabuch: Von überallher strömt das Volk, ja strömen alle Völker und Nationen nach dem verklärten Jerusalem. Überwunden ist alle Rangelei, lächerlich alle Judenpolemik, wie sie zur Zeit der Evangelisten nahelag. Die Vision ist ganzheitlich. So, wie einst die Sintflut die ganze Erde ertränkte, wird auch das Ganze zum Gottesreich. Es geht nicht um das Heil des Individuums aus eigener Leistung. Vor diesem Hintergrund werden die Metapher mit der engen Tür und das Bild mit dem Vater, der aus Liebe seinen Sohn verhaut, zu katechetischen Lehrstücken.
Obwohl: Gerade aus der Pflege der Schöpfung, aus dem Kampf gegen den gedankenlosen Ressourcenverschleiss und die rücksichtslose Verschmutzung und Vermüllung, aus dem Einsatz für eine gerechtere Welt, aus der Einübung von Zivilcourage wissen wir, dass es eben für das Ganze jeden Einzelnen und jede Einzelne braucht. Das Meer besteht aus lauter einzelnen Wassertropfen. Sie mögen miteinander flliessen, nicht gegeneinander.
Zeno Cavigelli, Zürich