4. Adventsonntag
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Lk 1, (26-38) 39-56 | Mi 5, 1-4a | Hebr 10, 5-10 | Lk 1, 39-45 |
Nachhaltigkeit und die „erfüllte Zeit“. 4. Advent
Lebensmöglichkeiten offen halten – ein wegweisendes Urteil
Welche Lebensmöglichkeiten halten wir zukünftigen Generationen offen? Werden sie die Chance eines erfüllten Lebens (frei nach Joh 10,10) haben? Unter dieser Leitfrage hat das Bundesverfassungsgericht über das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung verhandelt – und in seinem am 29. April 2021 veröffentlichten Beschluss Nachbesserungen gefordert, weil der Verzicht auf konkrete Zwischenschritte nach dem Jahr 2030 die Gefahr mit sich bringe, das zukünftige Generationen sich in ihren Lebensmöglichkeiten deutlich stärker einschränken müssen als gegenwärtige, soll das Leben auf dieser Erde lebenswert bleiben.
Der Skopus des 4. Advents
Auch wenn es im Trubel der Weihnachtsmärkte und im Stress der Besorgungen immer wieder unterzugehen droht: Adventszeit ist Zeit der Vorbereitung auf das Fest der Geburt Christi, ein Ereignis, von dem der Apostel Paulus als „Erfüllung der Zeiten“ spricht (Gal 4,4). In der protestantischen Tradition stehen im Mittelpunkt des 4. Advents Maria und ihr Lobgesang, in dem zum Ausdruck kommt, was diese Zeitenwende für die Menschheit bedeutet.
Lk 1, (26-38) 39-56 bzw. 39-45
Marias Besuch bei Elisabeth gipfelt in dem Lobgesang Marias. Von daher ist es befremdlich, dass die römisch-katholische Leseordnung bei Vers 45 und damit vor dem Magnifikat abbricht. Im Rahmen der Liturgie wird das Magnifikat vermutlich trotzdem erklingen, die Ansprache sollte es daher mit einbeziehen.
Wenn Nachhaltigkeit, wie dies das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil hervorgehoben hat, mit Chancengerechtigkeit zu tun hat, dann können wir das Magnifikat der Maria auch als Lobgesang der Nachhaltigkeit ansehen: Die Niedrigen, die ohne Wohlstand und gesellschaftliches Ansehen sind, waren und sind zu allen Zeiten der Geschichte diejenigen, die als erste ihrer Chancen und Lebensmöglichkeiten beraubt werden und dem Vergessen der Geschichte anheim gegeben werden. Die Folgen des Klimawandels treffen die einfachen Fischer und Bäuerinnen in den Ländern des Südens deutlich härter als uns Menschen in den wohlhabenden Industrienationen. Und die Diskussion um „bezahlbare“ Strompreise zeigt, dass auch bei uns Menschen mit niedrigem Einkommen die Folgen von Klimawandel und Klimaschutz schnelle deutlicher zu spüren bekommen können als andere.
Gott sieht die Niedrigkeit seiner Magd an, singt Maria – und die unmittelbare Folge davon ist, dass er sie vor dem Vergessen der Geschichte bewahrt. Denken wir also, wenn wir über Klimawandel und die nötige Transformation der Gesellschaft sprechen, nicht nur an uns und unsere Lebensmöglichkeiten oder unsere Einschränkungen, sondern gedenken wir derer, die unter den Folgen der Erderwärmung heute schon existenziell leiden. Und denken wir an diejenigen, die auf dem Weg der Transformation verloren zu gehen drohen: die Rentnerin in der Altbauwohnung, den Landwirt, der sich den Umbau seines Stalles nicht leisten kann. Gott sieht die Niedrigen!
Diejenigen aber, die meinen, dass sie alles in der Hand haben, dass sie mit den Gütern dieser Erde umgehen können, wie es ihnen beliebt – die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn -, die zerstreut Gott im Lied der Maria. Die, die gewohnt sind, alles zu haben, gehen leer aus, die Hungrigen werden satt. Vers 53 singt von der Umkehrung der Verhältnisse, die so eigentlich nicht das Ziel der Transformation zu einer nachhaltigen Gesellschaft sein kann. Der biblische Gedanke der ausgleichenden Gerechtigkeit Gottes klingt hier durch. Von diesem Gedanken her ergibt sich dann aber doch wieder eine Nachhaltigkeitsperspektive: Klimagerechtigkeit bedeutet auch, dass diejenigen Nationen, die über Jahrzehnte den wesentlichen Anteil an den Treibhausgasemissionen gehabt haben, nun „leer ausgehen“ müssen: Die internationalen Vereinbarungen sehen vor, dass die Industrienationen ihren Treibhausgasausstoß deutlich schneller senken als die Länder des globalen Südens – um diesen zu ermöglichen, eine „nachholende Entwicklung“ zu nationalem Wohlstand zu durchlaufen. Hoffart aber zeigt sich heute nicht zuletzt im Umgang mit den Ressourcen unserer Erde: Wenn wir leben, als hätten wir einen zweiten Planeten in Reserve und die planetaren Belastungsgrenzen missachten, dann sind wir hoffärtig in unseres Herzens Sinn, denken nur an unser Wohlergehen, aber nicht an die Lebensrechte und Lebenschancen der anderen.
Mi 5,1-4a
Die „erfüllte Zeit“ ist auch Thema der Verkündigung Michas. Auch hier begegnet wieder der Aspekt des Niedrigen, Unscheinbaren, dieses Mal in Gestalt der kleinen Stadt Bethlehem, der eine große Verheißung zuteil wird.
Zentrales Moment der Verheißung ist, dass Menschen in dieser erfüllten Zeit in der Stadt sicher und in Frieden wohnen werden. Mehr und mehr Konflikte der Gegenwart sind auf Verteilungskämpfe zurück zu führen, die durch den Klimawandeln wenn nicht hervorgerufen, so doch verstärkt werden: Die zunehmende Trockenheit in vielen Regionen Afrikas führt dazu, dass nomadische Völker in Konflikt geraten mit sesshaften Landwirt*innen; Menschen verlieren durch die Trockenheit ihre Existenzgrundlage auf dem Land und drängen in die Stadt, viele werden zu Migrant*innen im eigenen Land und darüber hinaus… Die Auseinandersetzungen in Israel-Palästina sind nicht zuletzt auch Konflikte um die knapper werdende Ressource Wasser…
Die Vision der „erfüllten Zeit“ Gottes ist eine Erde, auf der alle Menschen – und mit Blick auf die große Vision des Jesajabuches (Jes 11,1-9) dürfen wir getrost sagen: alle Geschöpfe – in Frieden miteinander wohnen und genug zum Leben haben. Diese Vision kann uns leiten bei unserem Engagement für eine nachhaltige Welt: Ein anderes Leben ist möglich, ja mehr noch, es ist uns von Gott verheißen und zugesagt!
Hebr 10, 5-10
Was müssen wir alles opfern, um nachhaltig zu leben? Die Debatte um Verbote und Verzicht hat den Bundestagswahlkampf 2021 geprägt. In der Antike wurde ständig irgendetwas (meist ein Tier) für irgendeinen Zweck geopfert (gute Saat, gute Ernte, Reinigung etc.). In der extremsten Form des Opfers wurde ein Mensch geopfert, um einen bestimmten Gott seinem Volk wieder gewogen zu machen. Die moderne Form des Opfers heißt, dass wir uns für irgendeinen hehren Zweck „aufopfern“…
Der Hebräerbrief betont, dass diese Kultur des Opfers an ein Ende gekommen ist: Jesus Christus ist das Opfer, durch das Gott selbst ein für allemal erfülltes Leben möglich gemacht hat. Nichts und niemand muss mehr für Gott geopfert werden, niemand muss sich für Gott – oder göttliche Ziele – (auf-)opfern. Das gilt auch für die „Umkehr zum Leben“ (so der Titel der Denkschrift des Rates der EKD zum Klimawandel aus dem Jahr 2009: https://www.ekd.de/klimawandel.htm).
Die Konsequenz dieses Endes des Opfers ist freilich nicht Hoffart und Beliebigkeit, es ist vielmehr das Leben in der Freiheit der Kinder Gottes, wie der Hebräerbrief im weiteren Fortgang betont. Es ist ein Leben „frei vom bösen Gewissen“ (10,22), in Achtsamkeit füreinander und in der gegenseitigen Ermutigung zu guten Werken (10,24). Die von der Not zum Opfer befreiten Kinder Gottes sind frei zu einem neuen, erfüllten Leben – in Achtsamkeit für die Bedürfnisse der anderen. Verzicht geschieht hier nicht als Opfer, sondern als Akt der Liebe, die dem oder der anderen Lebensmöglichkeiten eröffnet.
Dr. Wolfgang Schürger, München