6. Sonntag nach Trinitatis / 15. Sonntag im Jahreskreis
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Jes 43,1-7 | Jes 55, 10-11 | Röm 8, 18-23 | Mt 13, 1-23 |
Gottes Kinder und der globale Blick - Jes 43,1-7 und Röm 8,18-23
Deuterojesaja ist für Paulus ein herausragend wichtiger Bezugspunkt im Alten Testament. Das wird auch in der Gegenüberstellung der beiden Texte aus Jes 43 und Röm 8 für den 6. Sonntag nach Trinitatis/15. Sonntag im Jahreskreis deutlich. Zwei Nachhaltigkeitsaspekte lassen sich in beiden Texten finden: Der globale Blick auf die ganze Schöpfung und der Fokus auf Kinder und damit auf Generationengerechtigkeit.
1) Der globale Blick
Jesaja wendet sich an Jakob, das Volk Israel im Exil, dem alles abhandengekommen ist, was ihm einst von Gott gegeben wurde, und was ihm religiösen Halt geboten hat: das verheißene Land, der gesalbte König, der Tempel, die Opferpraxis, die Feste, … Die Geschichte Israels mit seinem Gott scheint zu Ende. Alles, was den Menschen im Nahbereich Struktur gegeben hat, gibt es nicht mehr. Halt und Hilfe kann nur finden, wer die Augen hebt, wer von der Geschichte weg auf die Vorgeschichte – auf die Schöpfung – schaut, und wer über die Landesgrenzen hinaus den ganzen Kosmos in den Blick nimmt.
Paulus wendet sich an die Gemeinde in Rom. Er kennt sie nicht persönlich, aber er kann davon ausgehen, dass ihre Mitglieder genauso wenig auf Rosen gebettet sind wie die der Gemeinde in Korinth und der anderen Gemeinden, die er kennt: „Nach menschlichem Maßstab geurteilt, gibt es da nicht viele Weise oder Einflussreiche. Es gibt auch nicht viele, die aus vornehmen Familien stammen“ (1.Kor 1,28). Darum kann er sie in sein „Wir“ einschließen, wenn er von dem Leid schreibt, das wir gegenwärtig erleben und davon, dass wir seufzen und stöhnen in unserem Inneren.
Deuterojesaja und Paulus laden beide ein, den Blick zu heben und über die täglichen Sorgen und Verunsicherungen hinaus auf die großen Zusammenhänge zu schauen. Sie reden in Bezug darauf beide von der Freiheit, die Gott schenkt und die er wieder schenken wird. Gott hat uns geschaffen, wir sind Teil der Schöpfung, von Gott gewollt, gebildet und ins Leben gerufen. Das kann nicht in Frage gestellt oder rückgängig gemacht werden.
Bei Jesaja ist die Rede davon, dass das Volk Israel eingebettet ist in den Kosmos, der sich viel weiter in alle vier Himmelsrichtungen erstreckt als im Alltag wahrgenommen wird. Gottes Schöpfermacht reicht auch in die fernsten Winkel der Erde. Darum heißt es bei Jesaja zweimal: Fürchte dich nicht! Nichts kann dich von meiner Liebe trennen und aus meiner Hand reißen, weder Wasserfluten, noch reißende Ströme, noch Feuerflammen – nicht einmal, wenn du sie durch klimaschädliches Verhalten selbst verursacht hast.
Bei Paulus dient der Blick auf die Schöpfung zunächst der Solidarisierung im Leid: Nicht nur wir Menschen leiden, seufzen und stöhnen, sondern alle Kreatur leidet Schmerzen – solche, die wir ihr zufügen durch umweltschädliches Verhalten, und solche, die aus unserem gemeinsamen Schicksal resultieren: der Vergänglichkeit. Paulus fordert uns auf, die Ohren für das Seufzen und Stöhnen der Schöpfung zu öffnen – es geht nicht nur um uns, sondern der Horizont ist viel weiter gesteckt. Wir sind nicht allein im Leid. Wir sind nicht einmal diejenigen, die am stärksten leiden: Am 21. Juli 2022 hat die Weltnaturschutzunion (IUCN) die neueste Aktualisierung der Roten Liste der bedrohten Tier- und Pflanzenarten vorgestellt. Insgesamt werden derzeit mehr als 147.500 Arten erfasst und von diesen sind fast 41.500 Arten in Bedrohungskategorien eingestuft worden.[1]
Aber wir sind auch nicht allein in der Hoffnung! Das ist die zweite Botschaft: Unsere Hoffnung ist es nicht, auf einem fernen Planeten in unberührter Umgebung noch einmal von vorne beginnen zu können. Stattdessen gilt: Auch in dem, was wir hoffen dürfen, stehen wir in einer unauflöslichen Solidargemeinschaft mit der ganzen Schöpfung.
2) Gottes Kinder
Paulus bezeichnet die christliche Gemeinde als Kinder Gottes, und er stellt diese Kindschaft als zweistufiges Verfahren dar. Jetzt schon haben wir den Geist Gottes empfangen, der uns zuspricht, Gottes Kinder zu sein. Diese Kindschaft ist nichts Neutrales, sondern mit ihr untrennbar verbunden ist die Herrlichkeit: die Herrlichkeit der Kinder Gottes. Weil wir den Geist haben, können wir Gott mit „Abba! Vater!“ anreden (Röm 8,15). Aber es ist jetzt noch eine Sache des Glaubens, dass wir Kinder Gottes sind. Unsere Erfahrung steht dem oft genug entgegen, wenn weit und breit nichts von der Herrlichkeit zu spüren ist, die mit der Kindschaft verbunden ist. Erst in der zweiten Stufe wird es offenbart, also für uns und für alle sichtbar, anschaulich und erfahrbar, dass Gott uns endgültig als seine Kinder angenommen hat. Dann erleben wir nicht mehr das Leid der Gegenwart, das seine Ursache in unserer Vergänglichkeit hat, sondern werden Anteil an Gottes Herrlichkeit haben.
Die Anrede Gottes als „Vater“ kommt zwar im Alten Testament vor, aber sehr viel seltener als im Neuen Testament. Das exklusive Verhältnis Israels zu seinem Gott wird in der Regel so gefasst: Ihr sollt mein Volk sein und ich will euer Gott sein. Auffallend ist jedoch, dass Deuterojesaja Gott zu seinem Volk Israel mit Worten sprechen lässt, die nur ein Vater oder eine Mutter gegenüber ihrem Kind verwenden: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst zu mir. Du bist kostbar und wertvoll für mich und ich habe dich lieb. Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir. Was darin zum Ausdruck kommt, ist mehr als ein Rechts- oder Bundesverhältnis, das ist Elternliebe. Auch ist bei Jesaja ausdrücklich von den Nachkommen, den Söhnen und den Töchtern die Rede. Der Fokus liegt also auch hier schon auf der Kindschaft.
Die Rede von den Kindern Gottes hat einen entscheidenden Zusatzaspekt gegenüber der vom Volk Gottes: Es geht um die nächste Generation, um die Zukunft, und damit um den Kern aller Nachhaltigkeit. Denn Nachhaltigkeit ist Eröffnung von Zukunft. Seine bis heute maßgebliche Definition hat der Begriff im Bericht der Brundtland-Kommission aus dem Jahr 1987 erfahren: Nachhaltige Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können. Es geht um die Gerechtigkeit zwischen den Generationen und auch innerhalb der Generationen. Wer in den Predigten über die Bibeltexte für diesen Sonntag als Kinder Gottes angesprochen wird, dem ist das Thema Generationengerechtigkeit als ein Anliegen in die Wiege gelegt.[2],[3]
Dr. Karin Bassler, Hildesheim