Quinquagesimae – Estomihi / 7. Sonntag im Jahreskreis (23.02.20)

Quinquagesimae - Estomihi / 7. Sonntag im Jahreskreis


ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
Lk 18,31-43 Lev 19, 1-2.17-18 1 Kor 3, 16-23 Mt 5, 38-48

Im ev. Predigttext Lk.18, 31-43 geht es um die dritte Leidensankündigung Jesu. „Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, …“ Seine zwölf Jünger, seine engsten Vertrauten, verstehen nicht. Als sie in die Nähe von Jericho kommen, sitzt ein Blinder am Weg und bettelt. Er ruft: „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Er will, dass Jesus ihn sehend macht. Und Jesus sagt: „Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen“

Oberthema der Texte der katholischen Leseordnung ist die Heiligung:

Lev.19,1-2.17-18: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr euer Gott.“

1.Kor.3,16-23: „Wisst Ihr nicht, dass Ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“

Matth.5,38-48: „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.“

Gemeinsam haben alle Texte, dass es ganz konkret um den menschlichen Körper geht.

Lukas 18, 31-43: Jesus erzählt davon, dass er, der Menschensohn, „verspottet, misshandelt und angespien werden“ wird. – Und dann wird vom Blinden bei Jericho erzählt, dass er „forschte, was das wäre“, rief „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ und dann schrie.

Auf Jesu Leidensankündigung hin begriffen die Jünger „nichts davon, der Sinn der Rede blieb ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war“. - eine dreifache Reaktion (bzw. Nicht-Reaktion) auf das Verspotten, Misshandeln und Angespien werden.

Auf die dreifache Anstrengung des Blinden hin, bleibt Jesus stehen, lässt ihn zu sich führen und fragt ihn, was er für ihn tun kann. – Auch hier also das 3-fach Schema.

Diese Stilistik hebt m.E. die Ganzheitlichkeit von Verstehens- und Veränderungsprozessen hervor. Die Dreiteilung Körper – Seele – Geist, die in unserem westlichen Denken vorherrschend ist, lässt sich in den biblischen Texten nicht nachweisen. Veränderungsprozesse werden prozesshaft erzählt. Sehen – urteilen – handeln. Oder: stehenbleiben – zuhören – weitergehen.

Es braucht seine Zeit, Dinge zu verstehen. Und Verstehen ist nicht nur Kopfsache. Verstehen geht über Ohren, Augen, Hände, Füße, Zunge, den ganzen Körper. Wer es nicht am eigenen Leibe erfährt, der tut sich zumindest schwerer mit dem Begreifen. Lernprozesse sind ganzheitlich.

Was lernen wir von Menschen, die misshandelt wurden, die verspottet werden, die rumgeschubst werden? Warum tabuisieren wir so häufig die konkrete Körperlichkeit? Gerade die Passionsgeschichte ist an vielen Stellen drastisch erzählt. So, dass man nachempfinden kann, was Jesus durchgemacht hat, was Menschen heutzutage durchmachen.

Die dritte Leidensankündigung Jesu geschieht auf dem Weg von Jericho nach Jerusalem, dort wo auch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter angesiedelt ist, Auch hier geht es um Verletzung, um Verwundbarkeit, um Zupacken und Heilen, aber eben auch um Verstehen und Begreifen, um grundsätzliche Glaubensaussagen, um die Bezogenheit auf Gott, den Schöpfer, und die Verbundenheit mit der ganzen Schöpfung, mit der leidenden Kreatur.

In Lev.19,1-2.17-18 wird das Gebot der Nächstenliebe ganz explizit als ein Ausfluss der Verbundenheit mit dem Heiligen, mit Gott, dargestellt, in Matthäus 5, 38-48 das Gebot der Feindesliebe. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit haben alle Menschen. „Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Heute müssen wir hinzufügen: „über Tiere und Pflanzen, über die ganze Kreatur“. Ich fokussiere mich hier aber auf die Menschen, s.u. Andere Beispiele sind denkbar.)

Schon im Alten und Neuen Testament findet sich also, worum wir in der heutigen Welt des 21. Jh.s wieder kämpfen müssen: der Anspruch aller Menschen auf Nahrung, Gesundheit, Gewaltfreiheit, Unantastbarkeit. Wir denken, wir leben in einer zivilisierten Welt, und Rache, Grausamkeiten, Menschenopfer gehören nicht mehr zu unserem Repertoire. Das Gegenteil ist der Fall! Der Ton ist rauer geworden. Hassparolen und Diffamierungen werden vielfach in den sozialen Medien geteilt. Gewalttaten werden in unserem Staat zwar polizeilich verfolgt und juristisch geahndet, aber es gibt eben viele Bereiche, wo Ermittlungen nicht gründlich genug durchgeführt werden, wo Polizei und Justiz auf einem Auge blind sind, wo Beweismittel verschwinden können und Misshandlung, Verspottung, sexuelle Ausbeutung, moderne Sklaverei, Mobbing etc. ungeahndet weitergehen.

Es gibt viele aktuelle Beispiele und Besorgnis erregende Geschehnisse in Kirche und Gesellschaft, um am Sonntag Estomihi über das Blindsein zu predigen. Und über Jesus, der all das, was Menschen erleiden müssen, auf sich genommen hat, um sie – die Leidenden – zu erlösen und uns – den Verantwortlichen – die Augen zu öffnen für das eigene Versagen.

Im Kontext von Missbrauch in der Kirche, von Vergehen an Heimkindern, von Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung höre man selbstkritisch 1. Kor. 3, 16-18: „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wenn jemand den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben, denn der Tempel Gottes ist heilig; der seid ihr. Niemand betrüge sich selbst. Wer unter euch meint, weise zu sein in dieser Welt, der werde ein Narr, dass er weise werde.“

Die Frohe Botschaft besteht darin, dass es nicht so bleiben muss. Durch seinen Tod und seine Auferstehung hat Jesus die bösen, zerstörerischen Mächte besiegt. Auch in uns. Wir sind befähigt, mit zu leiden und mit zu helfen, die Leidenden zu befreien. Aber der Weg bis zur Feier der Auferstehung ist noch weit…

Annette Muhr-Nelson, Dortmund