20. Sonntag nach Trinitatis / 30. Sonntag im Jahreskreis
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Mk 2,23-28 | Ex 22, 20-26 | 1 Thess 1, 5c-10 | Mt 22, 34-40 |
Mk 2,23-28 – Menschenwichtiger als der Sabbat
Exegetische Hinweise
Die im Dekalog verankerte Sabbatruhe wurde von den Gemeinden zurzeit Jesu heftig diskutiert, weil sie je nach jüdischer Richtung unterschiedlich streng ausgelegt wurde. Humane Züge der Auslegung sprachen davon, dass alle Lebensgefahr den Sabbat verdrängt, andere wiederum hielten die Sabbatruhe so strikt ein, dass sie es noch nicht einmal wagten ein Blatt abzuschneiden, geschweige denn eine Frucht zu pflücken.
Im Streitgespräch zwischen Jesus und den Pharisäern um die Frage des Ährenabreißens am Sabbat, was im Sinne einer Erntearbeit natürlich verboten war, kontert Jesus mit einem Beispiel aus den Davidserzählungen (V. 25f, vgl. 1 Sam 21,2-7). Es zeigt auf, dass eine echte Not Vorrang hat vor allen religiös gutgemeinten Regeln. Jesus möchte den religiösen Profis seiner Zeit, die die Übertretung der Sabbatruhe maßregeln, eine ganz neue und andere Sicht eröffnen. David und Jesu vereint, dass sie andere Menschen zu freiem Handeln ermächtigen. Das Verhalten der Jünger wird durch Jesu Autorität und Auslegung des Sabbatsgebots legitimiert. Der Mensch darf nicht zum Sklaven der Gesetze gemacht werden. Im Gegenteil, das Liebesgebot muss immer das höchste Ziel sein (siehe auch heutige katholische Lesordnung Mt 22,34-40). Jesu Maßstab ist die bedingungslose Liebe, was jedes Gesetz übersteigt, ohne es jedoch aufzuheben.
Theologische Impulse
Religiöse Regeln müssen kritisch hinterfragt werden, ob sie noch in Beziehung stehen zu den Bedürfnissen der Menschen heute. Das erfordert eine neue Haltung der Liebe fern ab von jeglichem Buchstabengehorsam. Denn Jesus versteht die Sabbatruhe als Geschenk Gottes an den Menschen und ordnet sie ihnen dienend unter, frei von jeglichen Forderungen. Gleichwohl soll sie fest verankert bleiben, um den lebensnotwendigen Rhythmus von Ruhe und Arbeit zu garantieren. Der Mensch soll demnach wenigstens einen Tag in der Woche haben, an dem er ausruhen darf und Zeit für das hat, was tiefe Erfüllung bringt.
Interessanterweise fordert gerade am Ruhetag Jesus auf, den Mund aufzumachen für Menschenwürde und Gerechtigkeit, da wo gemobbt wird, da wo Hass gesät wird, da wo Stammtischparolen en vogue werden. Es geht darum, die freie Zeit zu nutzen für das, was zu mehr Leben führt, nicht nur für sich, sondern auch für die anderen. Jesus will also mehr als ein Arbeitsverbot am Sonntag. Er will Lebensfreude, Freiheit und Wohlergehen schenken. Und zwar für alle. Jeder Sonntag erinnert neu daran, wo und wie wir uns für Menschen in Not einsetzen können.
Nachhaltigkeitsaspekte
Hunger ist nach wie vor eine große Menschennot. Viele, allzu viele quält er auch heute immer noch und sie haben nicht das Notwendige zum Leben. Andere Leben im Überfluss. Tagtäglich werden Unmengen von Lebensmitteln weggeworfen. Unter bedürftigen Menschen, aber auch bei Konsumkritker/innen, die sich gegen die Verschwendung von Lebensmitteln einsetzen, gibt es Menschen, die „containern“ oder „mülltauchen“ gehen. Sie tun dies in der Regel in den Abfallcontainern großer Supermärkte, wo Lebensmittel meist wegen abgelaufener Mindesthaltbarkeitsdaten, wegen Druckstellen oder als Überschuss weggeworfen werfen. Viele dieser Lebensmittel sind jedoch noch genießbar. Im Gegensatz zu anderen Ländern, ist das Containern in Deutschland nach wie vor illegal. Man könnte die Perikope sicherlich für heute umschreiben mit dem Titel „Jesus, der Ordnungswidrige“: „An einem Sabbat ging er an den Müllcontainern eines Supermarktes vorbei und seine Jünger tauchten darin ab…“ Auch er würde vielleicht mit der Ordnungspolizei Probleme bekommen, weil seine Maßstäbe andere sind.
Ebenso geht es denen, die sich im Bereich der Seenotrettung engagieren. Im Mittelmeer werden zunehmend private Rettungsboote konfisziert und ihren Besatzungen der Prozess gemacht. Einer der Vorwürfe lautet, dass es Beihilfe zur illegalen Einreise sei. Tausende von Geflüchteten ertrinken jährlich auf der Überfahrt von Libyen nach Italien. Auch hier stellt sich die Frage, wie Gesetze über Lebensrettung stehen können und wie wir uns als Christen dazu verhalten.
1 Thess 1, 5c-10
In dieser Perikope lässt sich nach der Meinung der Verfasser keine nachhaltigkeitsrelevanten Aspekte erkennen.
Ex 22,20-26 – Solidarität und Zusammenhalt
Exegetische Hinweise
Die Rahmung dieser Perikope ist der sogenannte Dekalog, der wiederum in die Erzählung des Bundesschlusses am Sinai eingebettet ist. Die zehn Gebote und die darauffolgenden Vorschriften sollen allerdings nicht bloß als willkürlicher moralischer Kodex aufgefasst werden, sondern als ein Angebot Gottes, damit das Volk Israel auf ewig sein „besonderes Eigentum unter allen Völkern“ bleibt und im gelobten Land leben kann (Ex 19,5).
Unser Textabschnitt behandelt die vorhandenen sozialen Hierarchisierungen. Es dreht sich konkret um die Frage, wie mittelständische israelitische Bürger mit der Oberschicht, Einwanderern, Fremden, Witwen, Waisen, Armen usw. umzugehen hatten. Er beginnt mit der Kategorie des Fremden (gēr). Diese Menschen haben es schwer, weil sie in der Regel mit niemandem rechnen können, der sich deren Anliegen annimmt oder ihnen Gerechtigkeit widerfahren lässt. So können sie leichter zum Opfer von Ausbeutungen jeder Art werden. Und obwohl manche schon lange im Land Israel ansässig waren, blieben sie Fremde und ihnen wurden zudem wichtige Ansprüche wie etwa auf Erbschaft verweigert. Der Text vermittelt die Vorstellung, dass, wenn keiner sich der Anliegen der Fremden, der Waisen, der Witwen und der Armen annimmt, Jahwe selbst es tun wird.
Als Begründung bringt der Autor die Erfahrung in Ägypten ins Spiel. Man mag zunächst den Eindruck gewinnen, dass diese Erwähnung dazu dienen soll, Gefühle der Empathie und des Mitleids zu generieren. Es ist jedoch durchaus möglich, dass Menschen nachfolgender Generationen die Erfahrung, Fremd in Ägypten gewesen zu sein, nicht mehr nachempfinden konnten. So bietet sich Vers 22 als Schlüssel zur Deutung dieses Textes an. So wie der Herr auf den Klageschrei der Israeliten in Ägypten gehört hat und ihnen Gerechtigkeit widerfahren ließ, so wird der Herr auch im Land Israel vorgehen. Der Ton der Verse 22 und 23 zeigt, dass hiermit „Gottes empfindlichster Nerv“ getroffen wird. Denn es gibt Verbrechen, die ihn so empören, dass er bereit ist, „Amok zu laufen“, um es den Menschen ins Bewusstsein zu bringen und Gerechtigkeit zu schaffen. Das Beispiel von Ägypten zeigt aber auch die Kehrseite der Medaille. Wenn die Israeliten denken, dass sie Fremde unbestraft ausbeuten dürfen, dann täuschen sie sich, denn aus ihrer eigenen Erfahrung und Tradition sollen sie ja wissen, dass der gēr (Fremde) einen allmächtigen Beschützer hat. Was Gottes Zorn letztlich erregt ist nicht die Tat des Unterdückers, die ohnehin gestraft wird, sondern die Klage des Unterdrückten, der hilflos auf Hilfe angewiesen ist. Demzufolge ist Gottes Zorn nichts anderes als die Konsequenz seines Erbarmens (vgl. Hab 3,2).
In ähnlicher Situation befanden sich Waisenkinder und Witwen, die in der Regel ihren ‚natürlichen Schützer‘ verloren haben und eben deswegen der ‚Klasse‘ der Mittellosen angehörten. Der Schutz all dieser Menschen war in antiken nahöstlichen Gesellschaften weit verbreitet, wobei diese Aufgabe meist der Obrigkeit oblag. Das Besondere an diesen Anweisungen war, dass diese Forderung verallgemeinert wurde, sodass sie fortan für jeden israelitischen Bürger galt. Das Individuum wird also für die Gemeinschaft in die Pflicht genommen. Das Zusammenleben wird nicht etwa durch eine Individualethik gestaltet, sondern durch das Prinzip des Gemeinwohls, welches wiederum Solidarität erzeugt und Zusammenhalt wahrt. Das gestattet nicht, dass sich bspw. bestimmte Mitglieder des Volkes Gottes auf Kosten anderer in Gottes Augen gleichberechtigter Menschen bereichern. Das Beispiel der Zinsen (V.24) veranschaulicht dies sehr treffend. Dementsprechend ist Gerechtigkeit keine Einhaltung abstrakter Normen, sondern ein konkretes Handeln, das dem Gemeinwohl der gesamten Gemeinschaft dienen soll. So gewährleistet die Treue zum Bund, dass Gerechtigkeit waltet.
Nachhaltigkeitsaspekte (s. u.)
Mt 22,34-40 Nachhaltige Beziehungen
Exegetische Hinweise
Bei diesem Streitgespräch geht es vornehmlich um die Frage, ob es unter allen Geboten (entolē) der Tora eines gäbe, welches sich als das Allerwichtigste herausstellte. Zu verorten ist diese Debatte zeitlich schon vor Christus, als eine Annäherung zwischen jüdischem und hellenistischem Denken erfolgt war. Dass dies ein heikles, keineswegs unproblematisches Thema war, wird in der Beschreibung der Intention des Gesetzlehrers festgehalten, der nämlich Jesus auf die Probe stellen wollte.
Auch im Frühchristentum gab es diesbezüglich im Grunde zwei Lager, und zwar die sog. Judenchristen, die sich zur Einhaltung der Gebote der Tora weiterhin verpflichtet fühlten und die sog. Heidenchristen, die alle jüdischen Gesetze und Bräuche aufheben wollten und dadurch einen radikaleren Bruch mit dem Judentum anstrebten. Dass es Matthäus nicht darum gehen sollte, die gesamte Tora aufzuheben, stellt er auch an anderer Stelle deutlich heraus (vgl. Mt 5,17). Die Lösung dieses Dilemmas scheint daher am (wahrscheinlich von Matthäus hinzugefügten) letzten Satz dieser Perikope zu liegen (V.40): „An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“ Das griechische Verb kremannumi deckt einen Bedeutungsumfang, der im Deutschen dem Verb ‚hängen‘ und Derivaten entspricht. „An etwas hängen“ heißt jedoch keineswegs, dass etwas aufgehoben und durch etwas anderes ersetzt wird. Vielmehr veranschaulicht diese bildliche Redeweise, dass etwas (in dem Fall das doppelte Liebesgebot) etwas anderem (das gesamte Gesetz) Halt gibt oder trägt. Etwas ist also durch etwas anderes bedingt bzw. hängt von etwas anderem ab. Ohne Ersteres sind Letztere überhaupt nicht möglich. Also keine Aufhebung des Gesetzes, sondern die Frage, wie man überhaupt die Tora oder Gottes Willen erfüllen kann.
Nachhaltigkeitsaspekte
Anhand dieser beiden Perikopen (Ex 22,20-26; Mt 22,34-40) scheint es daher angebracht, den Begriff der Nachhaltigkeit auf die Ebene der Beziehungen (zu Gott und zu Mitmenschen) anzuwenden. Anders gesagt, wie kann man eine nachhaltige Beziehung zu Gott und zu den Mitmenschen gestalten? Die kurze Antwort des NT darauf ist entschieden: durch die Liebe (agapē). Es gibt zwar eine ganze Reihe von Gesetzen und Vorschriften, die diese beiden Beziehungen zu regeln versuchen, aber wenn diese nicht auf der Liebe fußen, ist es unwahrscheinlich, dass sie uns zum Ziel führen. Selbstverständlich geht es nicht um eine rosa oder romantische Vorstellung der Liebe. Man soll ja Gott sowie den Nächsten „mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit dem ganzen Denken“ lieben, d. h. ganzheitlich.
Auch Paulus versucht die gesamte Thora in einem Gebot zusammenzufassen (Röm 13,8-10; Gal 5,14), da er von der Überzeugung erfüllt war, dass die Liebe eine ethisch-eschatologische Haltung ist und nicht etwa die Erfüllung des Gesetzes. Diese Haltung ist insofern ethisch-eschatologisch, als sie nicht nur für das diesseitige Leben angebracht ist, sondern auch für das eschatologische Jenseits. Darum ist auch die Liebe am größten unter Glauben, Hoffnung und Liebe. Das wird sehr eindrucksvoll im Hohelied der Liebe (1Kor 13) zum Ausdruck gebracht. Gerade im Umgang mit sozial Schwächeren wie oben im Ex 22,20-26 kann man testen, inwieweit man von dieser ethisch-eschatologischen Haltung der Liebe durchdrungen ist. Denn, wenn man sich in einer asymmetrischen, höheren Position befindet, kann man seine Macht missbrauchen und den anderen verachten oder als Mittel für eigene Zwecke ausnutzen. Durch die Haltung der Liebe aber wird die bedingungslose Würde des anderen vollkommen transparent gemacht.
Angesichts der stark veränderten Lage, in der wir leben, die zunehmende Polarisierungen und Spaltungen aufweist, welche besonders durch das Internet, die neuen Medien, den Neokonservatismus und den Rechtspopulismus Anlauf nehmen und sogar zum neuen Zustand der Gesellschaft zu werden scheinen, kann diese frohe Botschaft der Liebe verheißungsvoll sein. Denn die abwesende bzw. anonyme Anwesenheit des anderen im Internet erschwert die Praxis der Liebe und macht Indifferenz, Respektlosigkeit und Beschimpfungen leichter. Unsere Gesellschaft als ganze sollte sich vielleicht der Frage ernsthaft annehmen, was ihren Zusammenhalt stiftet und auch wahrt. Im Zeitalter der Digitalisierung scheint sich diese Frage noch weiter zu verschärfen, da sich die Spaltungen sowohl in der digitalen als auch in der analogen Welt vertiefen. Diese Texte sind deshalb provokativ, da sie uns mit der Frage konfrontieren, wie wir in der Gegenwart und Zukunft den Zusammenhalt, den Frieden und die soziale Gerechtigkeit unserer Gesellschaften sowie die bedingungslose Würde eines jeden Menschen gewährleisten wollen. Dazu können Christen in der Gesellschaft anhand dieser Botschaft der Liebe sicherlich einen entscheidenden Part beitragen.
Claudia und Leandro Fontana, Mainz