Miserikordias Domini / 3. Sonntag der Osterzeit (18.04.21)

Miserikordias Domini / 3. Sonntag der Osterzeit

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
Hes 34,1-2(3-9)10-16.31 Apg 3, 12a.13-15.17-19 1 Joh 2, 1-5a Lk 24, 35-48

 

Hes 34,1-2(3-9)10-16.31

Das uralte, im Alten Orient spätestens seit dem Codex Hammurapi (18. Jhd. v.Chr.) bekannte Bild des Hirten als symbolische, idealtypische Darstellung des Königs wird von Ezechiel im Kapitel 34 aufgegriffen und ist im Zusammenhang eines Orakels zu verorten (V 1). Es ist allerdings bemerkenswert, dass im Alten Testament dieses Bild, trotz seiner allgemeinen Verbreitung im Alten Orient, vornehmlich nach der Exilzeit und besonders durch die Propheten (vgl. auch Jer 23,1f.) Verwendung findet. Dabei lässt sich die Bezeichnung „die Hirten Israels“, so wie Ezechiel sie hier verwendet, nicht ausschließlich auf die Könige Israels beschränken. Vielmehr wird sie auf alle religiös-politischen Verantwortlichen des Volkes angewandt (Priester, Propheten, die Ältesten und die jüdische Elite). In diesem Text erfüllt das Hirtenbild eine zweifache Funktion. Indem darin die Aufgaben des Hirten ausführlich beschrieben werden, soll es einerseits als Anklage gegen die Anführer des Volkes dienen und andererseits als Bild für Gottes Sorge um sein Volk fungieren. Während Ersteres die Ursachen für die gegenwärtige dramatische Lage des zerstreuten Volkes (im Exil) identifiziert, offenbart Letzteres eine der zentralsten biblischen Eigenschaften Gottes, aufgrund derer das sich nun im Exil befindende Volk auf das heilvolle Handeln Gottes hoffen darf.

Im Mittelpunkt des heutigen Sonntags, des Miserikordias Domini-Sonntags, stehen aber weniger diese Anklagen und vielmehr Gottes hirtenhafte Barmherzigkeit (misericordia). Dabei stellt V 11 ein Schlüsselvers dar, da er einen starken Gegensatz zu VV 5–6 einleitet. Statt Zerstreuung werden nun dem Volk Sammlung und Hirtensorge verkündigt. Im Vordergrund steht das Handeln Gottes für sein Volk. Denn, obwohl seine Schafe über die ganze Erdoberfläche zerstreut sind, kümmert dies keinen bzw. „da ist keiner, der auf die Suche geht“ (V 6). Der Herr hingegen will sich seinem Volk zuwenden, und zwar mit zwei konkreten Handlungen: „[…] ich will nach meinen Schafen fragen und mich um sie kümmern“. Diese Verben beinhalten das, was Seelsorge oder Hirtensorge meint: keine selbstzentrierte Hirtenschaft oder gar Herrschaft, sondern der Vorsatz, die Würde eines jeden anvertrauten Schafes zu achten und zu schützen, jedem in seiner Einzigartigkeit gerecht zu werden. Es bedeutet aber auch, darauf zu achten, dass niemand außen vor bleibt oder zu kurz kommt, dass jeder imstande sein sollte, das, wozu er/sie berufen ist, zur Geltung bringen zu können.

Der Bezug zur sozialen Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit liegt hier auf der Hand. Zunächst ist das Hirtenbild ein starkes politisches Bild. In Zeiten von populistischen Führungspersönlichkeiten, die ihr Charisma für die eigenen Interessen ausnutzen und das Volk sich selbst überlassen, auch wenn sich diese als die Repräsentanten des Volkes schlechthin darstellen, bietet das Hirtenbild einen scharfen Gegensatz dazu. Wie kann man bspw. Macht mit Autorität und ohne Zwang oder Willkür ausüben? Wie wird Macht überhaupt legitimiert?

Ferner darf der sozioökonomische Aspekt dieses Textes nicht übersehen werden. Stärker kann der Gegensatz zu ökonomischen Systemen wie dem Neoliberalismus nicht sein. Die Plausibilität des sogenannten Sozialdarwinismus, der dem Neoliberalismus zugrundeliegt und vielerorts noch als Ideal gilt, wonach der stärkste, wettbewerbsfähigste nicht nur gewinnen, sondern auch von Eliten, Regierungen und der Gesellschaft im Allgemeinen gefördert werden soll, wird hier in Zweifel gezogen. Es fällt bspw. auf, dass im V 16 Gott die fetten und starken Schafe verurteilt, weil sie die schwächsten beiseitestoßen (vgl. V 21 und Mt 25,31-46). Ezechiel scheint keinen Zweifel daran zu haben, dass der Gott Israels parteiisch ist und sich an die Seite der Schwachen und Ausgebeuteten stellt (V 22).

Schließlich entlarvt die Anklage des Propheten die Ambivalenz von Macht(ausübung). Das Königtum war in Israel von Anfang an eine Kompromisslösung (vgl. 1 Sam 8,1-9), denn dies sollte nicht die Herrschaft des Herrn über sein Volk in den Schatten stellen. Nicht von ungefähr suggeriert daher Hes 34,24 anstatt eines Königs einen Fürsten als Anführer zu haben, um derartige Missverständnisse vorzubeugen. Jede Führungspersönlichkeit soll letztlich der Souveränität des Herrn unterworfen sein. Seine Anweisungen (auch an die Anführer) offenbart er qua alleiniger Gesetzgeber in der Tora, der der König ebenfalls untersteht. Tora und Prophetie erfüllten also damals die Funktion dessen, was wir heute in demokratischen Systemen als Checks and Balances kennen. Das Bewusstsein, dass menschliche Herrschaft immer Gefahr läuft, ihren Zweck zu verfehlen, nämlich Recht und Gerechtigkeit (wieder)herzustellen, findet auch in diesem Text Widerhall. Die sich ab V 11 in einem Zukunftsszenario abspielende Herrschaft Gottes nach dem Bilde eines Hirten soll dazu dienen, die von Gott für die Welt, Schöpfung und Menschheit beabsichtigte und gewollte Gerechtigkeit herzustellen. An die Worte des Propheten Ezechiel anlehnend lässt sich sagen, dass es keine soziale Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung oder Verteidigung der Schwächeren geben kann, ohne dass menschliche Macht und Herrschaft durch Schrift und Prophetie austariert wird.

Lk 24, 35–48 und Apg 3, 12a.13–15.17–19

Einen direkten Bezug auf nachhaltigkeitsbezogene Themen liefert der Text, zumindest auf einen ersten Blick, nicht. Allerdings weist Lukas darin auf gewisse Elemente hin, welche einen verantwortungsvollen, gelingenden Umgang mit dem eigenen Leben sowie mit der Geschichte und Zukunft der Menschheit zu ermöglichen vermögen. Denn Nachhaltigkeit ist im Grunde weniger ein neues Thema als vielmehr eine (persönliche, gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche) Haltung (nach-haltig), um mit dem Leben, mit Ressourcen, mit der Umwelt, mit anderen Wesen angemessen umgehen zu können und dadurch Welt und Geschichte (neu) zu gestalten. Die von Lukas mitgegebenen Elemente sind folgende: (a) Umgang mit der Angst; (b) Gedenken der Opfer der Geschichte; (c) Umkehr / Vergebung der Sünden; (d) Auferstehungsglaube.

(a) Umgang mit der Angst

Die Jünger stehen vor der existentiellen Frage, was nun mit uns sein wird, nachdem unser Meister getötet wurde und sie folglich mit einem ähnlichen Geschick rechnen könnten. Auch die Menschheit steht vor sehr entscheidenden Fragen und muss mit den eigenen Ängsten zurechtkommen. Digitalisierung, Klimawandel und neuerdings die COVID-19-Pandemie sind einige dieser Fragen, die dringende Antworten mit Blick auf unseren Lebensstil einfordern. Leider wissen populistische, demagogische Akteurinnen und Akteure ganz genau, wie sie diese Ängste zu bedienen haben, um von solchen Krisensituationen profitieren zu können. Viele gute, wohlgemeinte Nachhaltigkeits- oder Weltveränderungsinitiativen scheinen genau an diesem Punkt zu scheitern, nämlich daran, dass sie den wirklichen, existenziellen Ängsten der Menschen nicht hinreichend Rechnung tragen. Es genügt nicht, kreativ und innovativ zu sein. Vielmehr muss zuerst eine Antwort auf solche Ängste formuliert werden.

Erstaunlicherweise benennt Lukas die Angst und den Zweifel der Frühkirche explizit und geht damit auch sehr transparent um. Die von Lukas gebotene Antwort auf die konkrete Angst der Jünger ist die Begegnung mit dem ‚realen‘, ja materiellen (vgl. V 39: Fleisch und Knochen), gekreuzigten und auferweckten Jesus. Gegen Angst hilft der (durch jemanden begleitete) Kontakt mit der Wirklichkeit. Nur ist der Zugang zur Wirklichkeit im Zeitalter von Fakenews und massiver Verbreitung von Verschwörungstheorien kein einfacher Vorgang. Gespenster sind hingegen (Wahn)Vorstellungen (Theorien, Zeitdiagnosen, Versprechungen etc.), die des (materiellen) Bezugs zur Wirklichkeit entbehren. Im Fall der Jünger waren es entweder doketische, die Kreuzigung ablehnende Theorien oder jüdisch-christliche Vorstellungen, denen zufolge Jesus zwar ein gerechter, aber kein göttlicher Mensch gewesen sei.

(b) Gedenken der Opfer der Geschichte

Erst durch die Realisierung, dass unsere politischen, religiösen, wirtschaftlichen Systeme Opfer aller Arten produzieren (Apg 3,14f.), kann einen nachhaltig zum Umdenken veranlassen (Apg 3,19). Das Leiden des Gerechten, ein Thema, das die gesamte Schrift durchzieht, findet also auch in den heutigen Lesungen Widerhall. Erst diese ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Leiden (Lk 24,46) macht transparent, dass menschliches Dasein und menschliches Handeln stets der Möglichkeit der Verfehlung und der Sünde unterliegt. Der sperrig gewordene Begriff der Sünde ist schon immer ein Versuch gewesen, Taten und Gedanken zu entlarven, welche die Ehre Gottes verletzen, will sagen, Gottes Absichten und Heilsplan für seine geliebte Schöpfung im Wege stehen oder sie gar durchkreuzen. So umstritten der Begriff des Willen Gottes auch sein mag, kann es bspw. nicht in Gottes Sinne sein, wenn dafür die Schrift als Prüfstein genommen wird, dass Wälder skrupellos gerodet oder dass Tiere aus Massentierhaltung gequält werden. Ebenso wenig kann es im Einklang mit Gottes Absichten stehen, dass unschuldige, gerechte Menschen verhungern müssen oder durch Hungerlöhne ausgebeutet werden. Im Gegensatz zu den Gespenstern unserer selbstzentrierten, ängstlichen Vorstellungen ist es die reale Begegnung mit den konkreten Namen und Gesichtern dieser Opfer, die uns zu einer Neubesinnung gleichsam zwingt.

(c) Umkehr / Vergebung der Sünden

An dieser Stelle konvergiert heute das Evangelium mit der Lesung aus der Apostelgeschichte. Denn für Lukas, den Autor beider Texte, soll die gesamte Pastoral- bzw. Evangelisierungsarbeit auf die Umkehr hinauslaufen, die wiederum auf die Vergebung der Sünden abzielt (Apg 3,19; Lk 24,47). Beide bedingen sich gegenseitig und verweisen aufeinander. Der Hinweis darauf, dass das jüdische Volk mitsamt seinen Anführern „aus Unwissenheit gehandelt“ hätte, soll nicht als Ent-schuldigung dienen. Vielmehr scheint der Verfasser nahelegen zu wollen, dass jetzt die Zeit für Umkehr und Versöhnung mit Gott ist. Letztlich beseitigt der Auferstehungsglaube in keiner Weise die Wundmale Jesu. Sie bleiben. Dennoch blickt Lukas auf die verhängnisvollen Geschehnisse der Vergangenheit mit erstaunlicher Gelassenheit, zumal all das bereits in der Schrift stand (Lk 24,44). Gleichzeitig aber kommt es Gott auf die gegenwärtige Stunde an, auf das konkrete Handeln im Hier und Jetzt. Diesen Kairos, diesen günstigen Zeitpunkt unserer Existenz, können und sollten wir nicht verpassen.

(d) Auferstehungsglaube

Nachhaltig handeln, sich für die Sache Gottes, für die Veränderung der Welt oder für Gerechtigkeit einzusetzen, kann sehr frustrierend sein, da man oft keine konkreten Ergebnisse sehen kann. Dagegen mussten auch die Jünger kämpfen. Erst die Begegnung mit Jesus, d. h. durch die unverdiente, zuvorkommende, in die Geschichte hinein einbrechende Gnade Gottes, ist den Jüngern die Zuversicht zuteilgeworden, die es ihnen ermöglichte, ihre Ängste zu überwinden, die eigene Komfortzone zu verlassen und schließlich aufzubrechen, um eben diese Botschaft zu verkünden. Erst die Zuversicht, dass Gott uns schon immer vorausgeht und zuvorkommt, macht den Jüngern die Hürden des von Gott aufgegebenen Auftrags erträglich und sogar einleuchtend (vgl. Lk 24,45: „er öffnete ihren Sinn“). So kann der heute im Mittelpunkt stehende Auferstehungsglaube Nachfolgern und Nachfolgerinnen Jesu von immenser Hilfe sein, um ihren Einsatz für Nachhaltigkeit, Frieden und Gerechtigkeit nachhaltig zu verwirklichen. Schließlich erlangt die Hoffnung, dass der ganzen Schöpfung Gerechtigkeit widerfahren wird, durch den Auferstehungsglauben erneute Plausibilität und Glaubwürdigkeit.

Dr. Leandro Fontana, Mainz