14. Sonntag nach Trinitatis / 23. Sonntag im Jahreskreis
ev. Predigttext | kath. 1. Lesung | kath. 2. Lesung | kath. Evangelium |
1. Thess 5,14-24 | Jes 35, 4-7a | Jak 2, 1-5 | Mk 7, 31-37 |
Die folgenden Gedankenanstöße sind mitten in der Corona-Krise im Frühjahr 2020 entstanden. Seit Jahresbeginn hat das Sars-CoV-2-Virus, das zu schwerwiegenden Atemwegserkrankungen mit Todesfolge führen kann, nahezu alle Länder der Erde erreicht und eine bis dato einmalige globale Pandemie ausgelöst. Die zur Eindämmung der Infektionen erlassenen Kontaktsperren und Betriebsschließungen haben das gesellschaftliche, wirtschaftliche und kirchliche Leben rund um den Globus heruntergefahren. Der erste Sonntag im September 2021 ist der Beginn der neuen Schöpfungszeit und lädt zum Innehalten ein: Wie haben die Pandemie und der globale Lockdown die Welt verändert und welche Spuren im Leben der Menschen hinterlassen? Haben wir nachhaltig aus dieser Krise gelernt? Fangen wir endlich an, die Schöpfung zu lieben, zu achten?
1. Thessalonicher 5, 14-24
Zugänge zum Bibeltext
In ungewissen Krisenzeiten tun Worte des Trostes und der Ermutigung gut, z.B. Vers 16: Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass, seid dankbar in allen Dingen! Oder Vers 23: Der Gott des Friedens bewahre euren Geist, Seele und Leib! Zusagen wie diese bleiben im Ohr, gehen ins Herz und überspringen locker den „garstigen Graben“ von 2000 Jahren Geschichte zwischen Paulus und mir. Trotzdem lohnt die exegetische Arbeit am ältesten aller Paulusbriefe und damit am ältesten aller bekannten christlichen Dokumente!
Schritte zur Auslegung
Auf seiner zweiten Verkündigungsreise von Asien nach Europa kommen Paulus und sein Mitarbeiter Silas im Jahr 49 in die quirlige Hafen- und Handelsstadt Thessalonich, deren Nachfolgerin heute die zweitgrößte Stadt Griechenlands Saloniki ist. Während seines etwa dreiwöchigen Aufenthaltes predigt Paulus in der Synagoge der jüdischen Gemeinde die Auferweckung des Gekreuzigten und stellt Christus als Retter und Messias Gottes vor (Acta 17,1-9). Zwiespältig reagieren die Menschen auf das Evangelium: während sich etliche dem neuen Glauben anschließen und den Kern einer rasch wachsenden Christengemeinde bilden, vertreiben erboste Gegner Paulus und Silas aus der Stadt. Über Beröa (heute: Veria) und Athen zieht Paulus in das rd. 550 km entfernte Korinth und schreibt von dort etwa ein halbes Jahr nach seinem Abschied einen sehr persönlich und emotional gehaltenen Brief an die junge Christengemeinde zu Thessalonich.
Nach überschwänglichem Lob an die Menschen und Dank an Gott für das standhafte Vertrauen und vorbildliche Handeln der Gemeinde in Kapitel 1 bis 3 folgen zwei Kapitel Belehrungen und Ratschläge sowie die 14 (!) Imperative umfassende Schlussermahnung des Predigttextes. Dabei fordern die ersten sechs Aufrufe in V. 14f. zu Frieden und Solidarität, Geduld und Versöhnung nach innen und außen auf, während die Trias in V. 16 bis 18 zu einem fröhlichen, beständigen und dankbaren Leben im Glauben ermuntert. Die nächsten fünf Bitten bis V. 22 weisen auf den Geist Gottes als hilfreichen Kompass zur Orientierung der Lebens- und Gemeindewege. Nach so vielen Aufforderungen schließt Paulus mit der wohltuenden, weil entlastenden Fürbitte und Segenszusage. Sie macht deutlich: Heiligen wie Bewahren, Heil- und Ganzmachen des Lebens liegen allein in Gottes Hand, sind unverfügbar und immer ein Geschenk!
Bezüge zur Nachhaltigkeit
Ermahnungen sind unbeliebt und werden von den Ermahnten gerne beiseite gewischt. Die Corona-Krise 2020 aber ist von vielen verstanden worden als Schattenseite der alltäglich gewordenen Globalisierung und angesichts der Klimakrise als deutliche Warnung vor einer weiteren Zerstörung der Lebensgrundlagen der Erde. Daher stellt sich die Frage: Wie müssen wir unseren Lebensstil auf Kosten der Schöpfung, des Klimas, des Globalen Südens nachhaltig zum Guten verändern? Mit dem Zuspruch des unverfügbaren Segens Gottes wie mit dem Anspruch der Solidarität mit den Schwachen setzt der Bibeltext klare Weg- und Zielmarken.
Jesaja 35, 4-7a
Zugänge zum Bibeltext
Auch diese Perikope spricht mich in der aktuell unsicheren Zeit unmittelbar an. „Sagt den verzagten Herzen: Fürchtet euch nicht! Gott kommt und wird euch helfen.“ Auf solche Worte des Trostes warten Menschen, die ihre sterbenden Angehörigen nicht in Altenheimen und auf Intensivstationen begleiten dürfen, die selbst am offenen Grab niemanden umarmen sollen und keinen Frieden finden. Nach Freiheit sehnen sich die Geflüchteten in überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln, während Europa die Grenzen immer höher zieht.
Schritte zur Auslegung
Ursprünglich schloss das erste Buch Jesaja mit dem Jubelruf in 35,10 „Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen nach Zion mit Jauchzen!“ (www.bibelwissenschaft.de/bibelkunde/altes-testament/prophetische-buecher/jesaja/) und bildete einen versöhnlichen Ausklang der zumeist düsteren Prophetie. Als „Heilswort für Mutlose in dürftiger Zeit“ (so Wolfhart Koeppen in: GottesdienstPraxis Serie A, Band V/1, Gütersloh 1994; S. 23) entwirft das zehn Verse umfassende Kapitel ein Bild paradiesischen Friedens für die ganze Schöpfung. Die Gegenwart und Herrlichkeit Gottes werden auf dreierlei Weise konkret und erfahrbar:
- Im Aufatmen der Natur: Blühende Steppe, Wasser statt Wüste, Teiche und Quellen in der Dürre!
- In der Heilung von Leib und Seele: Blinde sehen, Taube hören, Verzagte fassen neuen Mut!
- 3.Im Pilgern aus der Fremde zu Gottes Berg: ein Weg des Friedens und Versöhnung mit der Erde!
Mit zeitlos anrührenden Sprachbildern und im „Parallelismus Membrorum“ der Psalmen (www.etf.uni-bonn.de/de/ev-theol/projekte/bel/a-z/p/parallelismus-membrorum) malt der Prophet den von außen Bedrängten und von innen Ausgezehrten den Völkerzug zur kommenden Gottesherrlichkeit vor Augen, nicht als Vertröstung auf ein fernes Jenseits, sondern als Ankündigung einer real erfahrbaren anderen Wirklichkeit.
Bezüge zur Nachhaltigkeit
Das weckt Erinnerungen an die „Ökumenischen Pilgerwege für Klimagerechtigkeit“, die den Aufruf der 10. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen zu einer weltweiten „Pilgrimage of Justice and Peace“ aufgegriffen haben. Seit 2015 verbindet diese Pilgerbewegung das gemeinsame Unterwegssein von Christen verschiedener Konfessionen mit dem Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Auf ihrem Weg zu den Weltklimakonferenzen der vergangenen Jahre suchen die Pilgernden bewusst lebensfördernde Kraftorte wie gefährdete Schmerzpunkte auf, nehmen so die globalen Dimensionen des Klimawandels in den Blick und treiben den Diskurs um Gerechtigkeitsfragen voran.
Markus 7, 31-37
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Wie eine direkte Folge der Verheißung in Jesaja 35, 5f. „Die Ohren der Tauben werden geöffnet und die Zunge des Stummen wird frohlocken.“ erscheint die Heilung des Taubstummen, die allein Markus 7 erzählt und in den anderen Evangelien fehlt. Nicht nur das Motiv der Genesung an Ohr und Zunge greift der Bericht auf, sondern bezieht sich bis in die Wortwahl des auffälligen „kaum redend, lallend“ auf Jesaja, wie die Exegese herausgefunden hat (u.a. Walter Grundmann, Das Evangelium nach Markus, Berlin 1977; S. 200).
Schritte zur Auslegung
Die verwirrenden geografischen Angaben in V. 31 sind der Einbettung der Wundergeschichte in den Erzählstrang des Evangeliums geschuldet und lassen „kirchengeschichtliche, biografische und theologische Elemente“ (W. Grundmann, a.a.O., Seite 201) erkennen. Vor allem aber stellen sie Jesus vor, der geografische, kulturelle und konventionelle Grenzen überschreitet und das Heil zu allen Menschen bringt. Das soll auch der Mensch erfahren, der für alles taub ist und nicht verstehen kann, was die Leute mit ihm vorhaben. Er wird vor Jesus gebracht - freundlich an die Hand genommen oder energisch gezerrt? Auf jeden Fall nicht aus eigenem Antrieb steht er vor dem Mann aus Nazareth. Und der tut das in diesem Moment einzig Richtige: Nimmt ihn wieder an die Hand und führt ihn raus aus der Menge, entzieht sich und sein Gegenüber den neugierigen Blicken der Umherstehenden. „Oh, schade!“ höre ich die Leute raunen: Wie gerne bekommt „man/frau“ doch alles mit und filmt es noch mit dem Handy (wenn es das damals schon gegeben hätte)!
Abseits der Menge tut Jesus zweierlei für die Heilung: Erstens wendet er sich dem Menschen zu, steckt dem Tauben die Finger in die Ohren und löst dem Stummen mit Spucke die Zunge. Damit übertritt Jesus nicht nur alle Corona-Abstandsregeln und überwindet die Scheu vor Ohrenschmalz und Speichelfäden, sondern dringt zum Kern des Übels vor: Er fährt mit seinen Fingern dorthin, wo das Kranke sich im Menschen festkrallt. Zweitens blickt er nach oben und seufzt zu seinem Vater in der Höhe das kleine Wort „Hefata! Tu dich auf!“ Ob der Himmel sich öffnen möge oder das Ohr des Tauben, der Mund des Stummen oder das Herz der Menschen: immer ist „Hefata“ die Bitte der Eingeschlossenen und Gefangenen, das Seufzen der Geknechteten, die Sehnsucht der Ausgesperrten! Fast schon unnötig zu erwähnen, dass auf das zweifache Tun Jesu die doppelte Heilung folgt: Die Ohren öffnen sich und hören, die Zunge wird gelöst und redet flüssig.
Bezüge zur Nachhaltigkeit
Die Bitte um Gesundheit und Genesung, die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Nähe sind in der Corona-Zeit so groß wie selten zuvor. Auch das Flehen um Gnade und Erbarmen, die Fürbitte um Heilung der Kranken und Erlösung der Sterbenden lernt die christliche Gemeinde angesichts der unberechenbaren Pandemie wieder neu - analog wie digital! Der Schluss der Perikope führt am Beginn der Schöpfungszeit 2021 zurück an den Beginn der guten Schöpfung Gottes (Und siehe, es war sehr gut!) und mündet in das Bekenntnis der Gemeinde: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hören und die Sprachlosen reden. (Jesaja 35)
Jakobus 2, 1-5
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Der vierte Bibeltext weicht in Stil und Thema völlig von den vorherigen ab und umfasst die erste Hälfte einer längeren Belehrung, die die Bibelausgaben so betiteln: „Kein Ansehen der Person in der Gemeinde!“ (Luther 2017) oder „Keine Bevorzugung der Reichen!“ (Gute Nachricht) Das lässt aufhorchen und macht neugierig!
Schritte zur Auslegung
Unter dem Pseudonym des Jesusbruders wendet sich der Jakobusbrief am Ende des 1. Jahrhunderts an "die zwölf Stämme in der Zerstreuung" (1,1), d.h. an alle Christen außerhalb Palästinas. Er versucht, zerstrittene Gemeinden zu versöhnen und einen falsch verstandenen Paulinismus abzuwehren, der tätige Nächstenliebe ablehnt (www.bibelwissenschaft.de/bibelkunde/neues-testament/katholische-briefe/jakobusbrief/). Die Ermahnung in V. 1 „Haltet den Glauben an Christus frei von Menschenrücksichten!“ (Jerusalemer Bibel) nennt das Motiv, das die V. 2-4 mit einem Beispiel illustrieren: Von zwei Männern, die erstmals zur Gemeinde kommen, wird dem Reichen der bevorzugte Ehrenplatz zuteil, während der Arme stehen oder auf dem Boden hocken muss. Die abschließende Lehre des krassen Exempels lautet: „Hat Gott nicht gerade diejenigen erwählt, die in der Welt als arm gelten? Sie sollen durch den Glauben reich werden. Und sie sollen das Reich erben, das er denen versprochen hat, die ihn lieben.“ (V. 5; Basisbibel)
Bezüge zur Nachhaltigkeit
Die in Vers 5 formulierte „Option für die Armen“ orientiert sich am Leben Jesu, der in den Seligpreisungen (Matthäus 5, Lukas 6) den Leidenden das Heil zuspricht und ausgegrenzte Menschen in seine Gemeinschaft einlädt. Lange hat es gedauert und vieler Impulse bedurft - u.a. aus der Befreiungstheologie des Globalen Südens - bis die Kirchen in Deutschland diese Herausforderung aufgenommen und 1997 in der Denkschrift „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ formuliert haben: „Die christliche Nächstenliebe wendet sich vorrangig den Armen, Schwachen und Benachteiligten zu. So wird die Option für die Armen zum verpflichtenden Kriterium des Handelns.“ Daran kann die Predigt anknüpfen und der Frage nachgehen, wer heute die Armen und Reichen in den Gemeinden vor Ort und in der weltweiten Kirche Jesu sind und wie Christen in Kirche und Gesellschaft für Gerechtigkeit und Solidarität einstehen wollen.
Martin Ahlhaus, Kierspe-Rönsahl