19. Sonntag nach Trinitatis / 30. Sonntag im Jahreskreis
ev. Predigttext | kath. 1. Lesung | kath. 2. Lesung | kath. Evangelium |
Mk 2,1-12 | Sir 35, 15b-17.20-22a | 2 Tim 4, 6-8.16-18 | Lk 18, 9-14 |
Das Reich Gottes verlangt seine ihm eigene Selbsterniedrigungs-Gerechtigkeit
- zum Evangelium Lk 18, 9-14 (katholisch) bzw. Mk 2, 1-12 (evangelisch)
Der Autor geht vor allem dem katholischen Predigttext nach und versucht der spezifischen Gerechtigkeit des großen Zuspruchs Jesu auf die Spur zu kommen, nämlich der uns in überwältigender Weise nahe gekommenen „herrschaftsfreien Herrschaft Gottes“ (Walter Wink).
In diesem Sinn besteht die Predigtabsicht darin, die bis heute im Geist Gottes mögliche Erfahrung des unbedingten Angenommen-seins in Jesus Christus als Zuspruch, Anspruch und Durchbruch für ein neues Miteinander aller mit allem zu erschließen. Es wird die Frage aufgeworfen, was uns Heutige gemeinhin davon fernhält, einer erfrischend-erneuernden Begegnung mit Jesus als dem Herrn der Welt auch nur den Hauch einer echten Chance zu geben.
Selbst anhand für die Botschaft Jesu „schwieriger Fälle“ - wie in der Perikope des auf Kosten anderer reich gewordenen Zöllners, der sich nur ganz nach hinten zu einem Bußruf in den Tempel hineinwagt - gelangt neues Zutrauen und göttliches Heil zu denen, die sich vom Weg Gottes getrennt haben. (=Sündern) Wenn es gelingt, sich mit dieser Figur zu identifizieren, wird zur Prämisse, dass wir alles von Gott erwarten dürfen – und darüber jene „große Transformation“ geschieht, die die Welt heute so überaus sehnlich erwartet; nämlich für uns selbst und für andere in die Haltung des demütigen Empfangens und eines gnadenvollen neuen Miteinanders einzuschwenken.
Auch im evangelischen Predigttext geschieht ein solcher Durchbruch: Allein schon wegen des unbedingte Einsatzbereitschaft und Fantasie unter Beweis stellenden starken Glaubens derer, die für ihren gelähmten Freund das Dach des Hauses abdecken, in dem Jesus sich gerade aufhält, (sie lassen den Freund auf einer Tragbahre zu Jesus herunter) geschieht Wiederherstellung der Gemeinschaft mit Gott und untereinander.
Kleine Exegese
In keinem anderen Evangelium spielt wie bereits vielfach herausgearbeitet worden ist die Kritik an den Reichen (vgl. 1,53; 6,24f; 8,14; 12,13-21), der Aufruf zu Besitzverzicht (vgl. 5,11.28; 12,33f, 14,33) und die Sorge um die Armen (vgl. 3,10f; 6,33ff) eine so zentrale Rolle wie bei Lukas. Eine kunstvoll gerahmte und strukturierte Miniatur, bei der Lukas bis auf den abschließenden Vers 14b offenbar wörtlich dem ihm vorliegenden Sondergut folgt, soll im vorliegenden Predigttext wie in einer Nussschale erkennen lassen, an welchen Punkten sich das Gottesbild Jesu am deutlichsten offenbaren kann. Es wirkt darin wie eine Klarstellung, auf welche die Alltagshaltung der Menschen einmal mehr so gar nicht eingestellt zu sein scheint – damals wie heute.
Schon die Einleitung in Vers 9 nimmt vorweg, worum es an zentraler Stelle gehen wird, nämlich, Adressaten anzusprechen und „theologisch zu überreden“ (Luise Schottroff), die ähnlich der einen Hauptfigur, dem in den folgenden Versen eingeführten Pharisäer, Selbstgerechtigkeit bis in ihr Beten hinein mit dem Nicht-Gönnen-Können des Heils für andere verbinden; jedenfalls nicht, solange diese nicht die gleichen heroischen Werke des Glaubens aufbringen wie man selbst. Schauplatz der Erzählung ist der Tempel in seiner Funktion als „Haus des Gebetes“ – was einen Motivanschluss an die vorausgehende Episode von der Witwe und dem ungerechten Richter (Lk 18, 1-8) darstellt.
Von nun an wird parallel konstruiert: Der Pharisäer spricht ein nach jüdischer Form und Sitte nachvollziehbares Dank- und Preisgebet. Dabei setzt er sich in einer Weise, die Vers 9 implizit als verachtend charakterisiert, von Gewalttätern und Thorabrechern „wie diesem Zöllner da“ ab. (V. 11b.). Auf das zweimalige Fasten in der Woche und das Abgeben des Zehnten von allem, was er erwirbt (nicht nur von dem, was er einnimmt, sic!), deren er sich im Zuge seines laut vorgetragenen Gebetes rühmt, ist besonders hinzuweisen. Dies stellt eine massive Übererfüllung jenes Gebotes dar, einmal im Jahr, nämlich am Versöhnungstag, zu fasten. (Lev 16, 29) Stellvertretend für diejenigen, die das Gesetz aus Unkenntnis oder bösem Willen brechen, tut der Pharisäer (viel) mehr als notwendig. Nun will er auch den ihm entsprechenden himmlischen Lohn dafür einstreichen. Doch Gottes Richtschnur hat ein ganz anderes Maß.
Der Zöllner hingegen weiß sich – als Kollaborateur mit dem Imperium Romanum - von vorneherein als Sünder, welcher der Buße bedarf. Er schlägt sich zum Zeichen dessen an die Brust. (V. 13). Was ihm bleibt, ist ein kurzer, demütiger Ausruf, eine schnörkellose Bitte um die Gnade Gottes, von der er sich ganz abhängig weiß. Demgegenüber steht der Pharisäer aufrecht, spricht lange und „bei sich selbst“; was wohl einem verdeckten Hinweis gleichkommt, dass hier nicht so sehr zu Gott, von dem doch alles Heil stammt, gesprochen wird. Wie selbstverständlich vertraut er in allen Details und symbolischen Handlungen vielmehr auf seine eigenen „religiösen Leistungen“. Dies kontrastiert markant mit der innerlich wie äußerlich zurückhaltenden (als Selbsterniedrigung gedeuteten) Büßerhaltung des Zöllners. Vers 14a schließlich bilanziert: Jener erfährt durch das Urteil Jesu Bevorzugung und Rechtfertigung durch Gott. Damit ist das eigene Urteil des Pharisäers aus V. 11b umgekehrt. Vers 14b – eine frei umlaufende Sentenz, die auch an anderen Stellen der Evangelien in Erscheinung tritt – bekräftigt und verallgemeinert die darin veranschaulichte Erfahrung, die in der paulinischen Theologie ebenso wie im Psalm 51, auf den der Text aufruht, die tragende Rolle spielt: Wer sich vor Gott seiner selbst rühmt und nicht umkehrt und zu einem Menschen seiner Gnade wird, verbaut sich den Weg zur Erfahrung von Geistgegenwart, Erbarmen und neuem Miteinander, der prinzipiell allen Menschen gilt und einen Schöpfungsfrieden einschließt. Friede auf Erden aber strömt nur bei Menschen seiner Gnade, wie schon das lukanische Weihnachtsevangelium weiß.
Predigtgedanken
Eine erste Regung
Können wir den Pharisäer nicht doch recht gut verstehen? Er, der sein ganzes Leben einsetzt für die Rechtschaffenheit der Vielen vor Gott – will mit Gesetzesbrechern, Ehebrechern und denen, die den verhassten, brutal ausbeutenden und willkürlich herrschenden römischen Besatzern auch noch zuarbeiten, nun aber wirklich nichts zu tun haben. Ist es etwa nicht verabscheuungswürdig, gemeinsame Sache zu machen mit jenen Menschen ohne den rechten Glauben an YHWH wie die Zöllner das tun? Unser Herr und Gott ist doch der Befreier und Erwählende eines einzigartigen neuen Gottesvolkes, das zum Vorbild für die Vielen werden soll. Ein auserwähltes Volk, das einen so hohen Anspruch an sich stellt, an dem alle Völker des Erdkreises die Großtaten Gottes und seine Gerechtigkeit kennenlernen sollen. Und dann kommen diese Zöllner daher, „so einer wie dieser da“– und kollaborieren mit dem Feind, mit der Weltmacht, machen auf diese Weise alles nur noch schlimmer, noch dazu nehmen sie ihre eigenen Leute dabei finanziell aus. Zum Teil sogar einfach nur zum eigenen Vorteil. Würden wir uns nicht heute auch von „so einem“ absetzen wollen? In Gedanken, (Gebets-)Worten oder auch in Werken? Noch verständlicher wird es, wenn man bedenkt, dass es wohl durchaus standesgemäß für einen Schriftgelehrten jener Zeit war, so zu beten und so zu denken. Besonders diejenigen unter uns, die einen überhöhten, einen unerlösten Gerechtigkeitssinn mit sich herumtragen, mögen bis heute sicher ähnlich denken, sich abzugrenzen und für etwas Besseres zu halten. Und doch: Es reicht nicht nur nicht hin, sondern es führt nach dem eindeutigen Urteil Jesu im heutigen Evangelium sogar in die Irre, wenn wir dabei stehen bleiben.
Zu Menschen seiner Gnade werden
Nach geltender Lehre der Pharisäer musste die Lage des Zöllners als hoffnungslos gelten. Er hätte zurückgeben müssen, was er ungerecht erworben hatte und nach geltender Tora-Lehre ähnlich dem römischen Recht noch das Vierfache hinzu (Ex 21,37; 22,1-14) (oder aber mindestens noch ein Fünftel hinzu (Num 5,7)) bevor er auf Vergebung durch Gott hätte hoffen dürfen. Angesichts dessen bleibt ihm fast nichts anderes, als ganz und gar auf die Barmherzigkeit Gottes zu setzen, dass er die Sünde nicht anrechne.
Das Angenommen-werden von Gott muss offenbar genau mit jener ehrlichen Sehnsucht und jenem sprechendem Herzen als von Gott allein herkommend „wie ein Gelähmter/Blinder“ oder „wie ein Kind“ (Lk 18 bzw. Mk 2) entgegengenommen werden. Dann hat es die vielleicht einzig wirklich mögliche Chance, für sich und für andere wirkmächtig zu werden. Das verdeutlichen auf ihre Weise die darauffolgenden Erzählungen von Jesu Umgang mit den Kindern und der Heilung des Blinden.
Die immergrüne Gegenseite davon ist: Im Gebet nur das eigene „Ich“ vor Gott aussprechen zu wollen, selbst („von alleine“) gerecht sein zu wollen, wird schnell selbstgerecht – und beginnt dann die anderen zu verachten. Mit der balladenhaften Geschichte vom Pharisäer und dem Zöllner stehen wir im Duktus des Lukasevangeliums auf der Schwelle zu Jericho als jener Stadt, die die „Missio Dei“ empfängt und in ihren Toren aufnimmt. Der dortige Oberzöllner und Leiter einer Pachtgemeinschaft[1], Zachäus, wirft bereits seinen Schatten voraus. Er wird eindrucksvoll umkehren wird, angezogen durch die unbedingte Zuwendung Gottes, die er in Jesus erkennt und die ihn für ein neues Miteinander aufschließt (Lukas 19, 1-10). Der Pharisäer hingegen nimmt die abgewiesenen Pharisäer aus Lukas 19, 39f. vorweg. Es geht Jerusalem entgegen. Heilsgeschichte ereignet sich. Damit geht wohl immer Scheidung der Geister einher.
Sozialgeschichtlicher Hintergrund in Anlehnung an Arbeiten von Franz Segbers
Jüdische Zöllner gehörten zur reichen Oberschicht. Das Zollwesen wurde in den unterworfenen Provinzen Roms privatwirtschaftlich organisiert. Die Eintreibung der Pachtsteuer wurde per Versteigerung vergeben und das Recht zugesichert, an bestimmten Zollstätten die Abgaben einzutreiben. Wer den Zuschlag bekommen hatte, konnte dann jedoch frei agieren. Die Willkür der Zöllner bei der Pachterhebung war dermaßen üblich, dass die Rabbinen es verboten haben, aus der Zöllnerkasse Almosen anzunehmen.[2] Ambivalent zu dieser Tradition verhält sich Jesus. Er gibt den schwierigen Fall der Zöllner nicht auf. Er überredet einige wenige davon schließlich zu einem neuen toragemäßen Projekt. Damals gab es einen ganzen Komplex von Steuern wie Esels- und Schweinesteuern, Gemüsesteuern, Kopfsteuern, Steuern für Flickschneider und eben auch die Pachtsteuern. Dieses komplexe Steuern-, Pacht- und Abgabensystem stellte ohne Zweifel eine der Hauptursachen für die massenhaften Verarmungs- und Verelendungsprozesse dar. Steuersysteme und willkürliche Abgaben waren die entscheidenden Instrumente, mit denen die Klassenherrschaft und koloniale Ausbeutungsverhältnisse durchgesetzt wurden. Die Abgaben scheinen immer wieder politische Konflikte mit den römischen Kolonialherren und ihren Behörden ausgelöst zu haben. Die Steuer- und Pachteintreiber sind also das koloniale Gesicht des Römischen Imperiums. Die Bezeichnung „Zöllner“ kommt im Lukasevangelium von daher nicht von ungefähr immer im Zusammenhang mit Sünde vor. Das Volk distanziert sich zu Recht von solch reich gewordenen Typen wie Zachäus und nennt sie „Sünder“ (Lk 19,7; 5,26.29; 15,1). Der gängige Doppelbegriff „Zöllner und Sünder“ (Lk 7,34) bringt die Belastung zum Ausdruck, unter der gerade Kleinbauern zu leiden hatten, wenn sie ihre Waren zu den Märkten fahren wollten, denn nahezu jede Stadt besaß eine Zollgrenze.
Wenn man besser verstehen will, was in der ältesten Jesustradition ursprünglich unter „Sündern“ verstanden wurde, muss man sich von der späteren theologischen Ausdeutung lösen. Mit „Sünder“ bezeichnet Lukas ursprünglich jene moralisch und sozial verachteten Menschen, die sich tatsächlich eines die fremde Macht verewigenden und die Unterlegenheit des eigenen Volkes zu eigenen Gunsten noch weiter ausbauenden Vergehens schuldig gemacht haben.[3] Was mit „Sünde“ angesprochen wird, ist insofern sozialökonomisch sehr konkret. Zöllner sind deswegen „Sünder“, weil sie im allgemeinen Unrechtssystem mitspielen und sich darin eine abhängige Machtposition aufgebaut und diese dazu ausnutzen, sich durch Willkür, Gewalt, Erpressung und Skrupellosigkeit auf Kosten des eigenen Gottesvolkes zu bereichern.
Die in der Frohen Botschaft bei Lukas anvisierte ökonomische Bekehrung des Zachäus zeigt, so der argentinische Exeget und Befreiungstheologie René Krüger, dass man hinter dem Murren unseres Predigttextes nicht nur pharisäische Ideologie sehen darf, sondern auch die gerechte Auflehnung eines Volkes, das ausreichend Grund für seine Distanzierung von solchen Typen hatte.“[4] Diese Menschen, die das Willkür- und Gewaltsystem des kolonialen Imperiums stützen, ja geradezu personifizieren, bedürfen einer Bekehrung - und seien sie noch so davon abhängig und unter Zugzwang. Die Parallelen zu heute sind offenkundig. Zur Wiedergutmachung wird der Oberaufseher Zachäus bald schon die Hälfte seines Besitzes den Armen geben, und das, was unrechtmäßig erpresst wurde, vierfach zurückerstatten. (Lk 19,8.) Solches zu wiederholen steht weltweit gesehen trotz aller postkolonialen theologischen wie philosophischen Bemühungen derzeit noch aus. Anders als in der gleich darauf dazwischen geschalteten Erzählung von dem reichen Jüngling, der sein ganzes Vermögen abgeben soll, wenn er in die Nachfolge Jesu treten will (Lk 18,22), geht es bei Zachäus nicht um eine Nachfolgegeschichte, sondern um ein toragemäßes Programm für ein gerechtes Leben, das sich seines ungerecht erworbenen Reichtums mitten in einem Kolonialsystem entledigt, welches systemisch gewaltförmig und strukturell ungerecht ist.
Weder das eine noch das andere scheint das christliche Leben inmitten kolonialer Imperien indes bis auf Weiteres nachhaltig inspiriert zu haben. Dennoch könnten sich heutzutage auf den Spuren von Papst Franziskus durchaus wieder Spuren einer zukunftsfähigen Kirche abzeichnen, die keine Zollstation mehr ist, sondern ein Vaterhaus, das die Herzen wärmt, die Wunden heilt, das Volk fragt und so zu einer Geh-Kirche wird, sich dabei lernbereit von ganz unten erneuernd, so dass sie sich „wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht“ anfühlen wird, insofern ihr bewusst bleibt, dass sie im letzten immer nur aus der aufgesuchten Begegnung mit Gott aufblühen kann.[5]
Spätere Zeiten haben die ostkirchlich geprägte Frömmigkeitsperle dessen, was einzig wichtig ist, nämlich das tief in den Betenden einsinkende Jesusgebet aus unserer Perikope herausgenommen („Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner...“) Dieses „Jesusgebet“ solle ohne Unterlass in einem beten und so den Boden für die Begegnung mit dem Geist Jesu bereiten. Man kann dies wahlweise als einen zum Wesentlichen vordringenden Versuch, den spirituellen Kern zu bewahren, jedoch auch als den Versuch einer herben sozio-ökonomischen Entkontextualisierung lesen. Wie also werden wir Heutigen spirituell wie materiell zu Menschen, die ganz aus Gottes zuvorkommender und unverdienbarer Gnade leben?
„Wer sich also rühmen will, der rühme sich des Herrn...“
Das Problem des heutigen Menschen beginnt damit, dass viele unter uns taub, intuitionslos und/oder von einer unzureichenden Aufklärung beseelt nicht mehr ohne weiteres von sich aus die Sehnsucht verspüren, „zum Tempel hinaufzugehen“, das Haus des Gebetes aufzusuchen. Hier ist in aller Regel etwas verschüttet, das zunächst im Blick auf den wahren tiefen Gleichmut und Frohsinn und die wahre Schönheit im Leben aufzubrechen, an das mit viel Menschenkenntnis heranzukommen ist, wie dies beispielsweise einer der Lehrerinnen unserer Zeitepoche, Vivian Dittmar, immer wieder gelingt.[6] Menschen unserer Zeit wollen behutsam und glaubwürdig, gewissermaßen mit pädagogischem Gestus an die Begegnung mit Jesus und seiner Botschaft herangeführt werden.
Wenn das gelingt, gibt es aber auch für sie Einschneidendes zu erkennen: Erst durch seine ganz aus dem Willen Gottes lebende gewaltfreie Feindesliebe, die das Heil zu allen Menschen tragen will, ist Jesus in der Lage, auch noch die geheime Gottlosigkeit, zu der Glaubensfunktionäre aller Zeiten neigen, mitten in deren Zentrum zu überwinden. Und die Zöllner dieser Welt, die sich in ebenso abhängige wie freudlose Machtpositionen auf Kosten anderer manövriert haben, entdecken dann von ganz alleine, dass sie umkehren müssen. Für die neue Gemeinschaft in Christus, in der weder Mann noch Frau, noch Jude noch Grieche zählt, ist der praktische Atheismus der innerlich wie äußerlich fast gar nicht verwandelten Gläubigen zuweilen kaum weniger (selbst)zerstörerisch als die ökonomisch offen zur Schau getragene Gottlosigkeit der Welt. Die Frohe Botschaft aber lässt sich auch durch den sich immer wieder in die Geschichte der christlichen Kirchen einschleichenden „ekklesialen (pharisäischen) Atheismus“ nicht aufhalten, selbst wenn dieser zuweilen mit dem „stets überraschenden Gott“ (Papst Franziskus) nicht mehr wirklich rechnet und alles selbst ganz gut im Griff hat. Auf einen solchen Erkenntnisweg will die Geschichte ihre Leser mitreißen, dabei dann jedoch auch die imperial-kolonialen Besitz- und Ausbeutungsverhältnisse pulverisieren und eine neue Gemeinschaftsfähigkeit, die alle und alles mit einbezieht, einläuten.[7]
Es geht also um ein sich-finden-lassen durch Gottes Hindurchklingen in menschlichen Begegnungen, in denen wie bei Jesus Geist und Wahrheit durchscheinen. Und darum, im Weitersagen dieser Frohen Botschaft auch den (noch nicht oder gerade nicht oder noch immer nicht) gläubigen Menschen einzuladen, an seiner Freude teilzuhaben. Und eben deswegen braucht es tatsächlich jenen in unserem Evangelium angesprochenen, entscheidenden Schritt: Nur wer seine Ehre wirklich von Gott empfängt, wer sich auf das unbedingte Anerkannt-werden durch Gott nicht weniger unbedingt einlässt, der trennt sich von der Logik dieser Welt, reißt sich los aus der Welt des Freund-Feind-Denkens und den immer lauernden Alltags-Vergötzungen.
Lassen Sie uns dies noch einmal am Beispiel des heutigen Evangeliums durchbuchstabieren: Der Zöllner in unserer Parabel geht in sich gekehrt weg. Als von und vor Gott Erhöhter aber geht er nicht mehr gegen die anderen weg; trennt nicht Privat-Ich und Öffentlichkeit in der Logik der Machtbehauptung, sondern geht von nun an (wie Zachäus) „für die anderen“. Er wird dadurch zum Vor-Bild des Noch-Nicht-Ortes, der utopischen neuen Identität jener neuen Gemeinschaft, der Kirche, in der gemeinsame Freiheit im Mitgehen von Gottes Gnadenwegen sich zum gemeinsamen mehr-werden der Vielen entfalten kann.
Was aber kann dies heute an öffentlichen Konsequenzen mit sich bringen?
Wo sind die Zöllner von heute, die ihre abhängigen Machtpositionen ausnutzen? Wer erkennt sich darin wieder? Wer richtet den Ruf Jesu an sie glaubwürdig aus? Und: Wer geht von nun an für die anderen? „Missionarische Spiritualität ist immer verwandelnd. Sie leistet Widerstand gegen alle Leben zerstörenden Werte und Systeme, wo immer sie in unserer Wirtschaft, unserer Politik und selbst in unseren Kirchen am Werk sind, und versucht, diese zu verwandeln. Jesus hat uns gesagt: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (Mt 6,24). Die Politik des grenzenlosen Wachstums durch die Herrschaft des globalen freien Marktes ist eine Ideologie, die von sich behauptet, dass es zu ihr keine Alternative gibt, und die den Armen und der Natur eine unendliche Folge von Opfern abverlangt .. Sie verspricht fälschlicherweise, die Welt durch die Schaffung von Reichtum und Wohlstand retten zu können. Sie tritt mit dem Anspruch auf, alle Lebenssphären beherrschen zu wollen und verlangt absolute Gefolgschaft, was einem Götzendienst gleichkommt. Es ist ein globales vom Mammon bestimmtes System, das durch endlose Ausbeutung allein das grenzenlose Wachstum des Reichtums der Reichen und Mächtigen schützt. Dieser Turmbau der Habgier bedroht mittlerweile den gesamten Öko-Haushalt Gottes. Das Reich Gottes steht der Herrschaft des Mammons diametral entgegen. Verwandlung kann im Licht des Ostergeheimnisses verstanden werden.“[8]
Oder mit den Worten des langjährigen Generalsekretärs des Weltkirchenrates, Dr. Philip Potter: „Die Kirchen müssen den überheblichen Ansprüchen imperialer Mächte Widerstand entgegensetzen und für allseitige Verminderung der Rüstung eintreten.. ein Nein zu allem, was der Liebe Christi zuwider ist, ein Nein zu denen, die die Saat des Krieges säen oder zum Kriege drängen, weil er doch unvermeidbar sei..“[9] Die zweite Konkretion des „Bundessschlusses für eine wirkliche Sicherheit aller Staaten und Völker“ setzte sich 1990 auf der Weltversammlung der Christen für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung eindrucksvoll dafür ein, ein umfassendes Sicherheitskonzept zu entwickeln, das die legitimen Interessen aller Nationen und Völker berücksichtigt. Erst eine solche „gemeinsame Sicherheit“ führt über die Ablehnung militärischer Invasionen, Interventionen und Besetzungen hinaus (den die Weltchristenheit seither aber auch noch nicht hinbekommen hat), insofern sie den Widerstand gegen ein Konzept der nationalen Sicherheit weiterführe, welche das Ziel habe, die Bevölkerung zu beherrschen oder zu unterdrücken, um die Privilegien einiger weniger zu verteidigen. (Grundüberzeugung 6).[10] Das würde es in der heutigen Welt wohl u.a. heißen aus der Zöllner-Rolle herauszutreten und von nun an für die anderen zu gehen. Programmatischer und eindeutiger könnte der Konsens der weltweiten Christenheit wahrlich kaum mehr ausfallen.
Allerdings lässt noch immer vieles - in den Nächten der Verzweiflung erscheint es immer wieder als sei es „fast alles“ - im realen Wirken der Christen in Deutschland auf sich warten. Immerhin: „Transformative Spiritualität“ setzt sich seit der Vollversammlung der Weltchristenheit in Busan 2014 als programmatische Leitbegrifflichkeit langsam, wenn auch mehr als mühsam durch Die „Zachäus-Kampagne“ als gemeinsame Initiative des Ökumenischen Rates der Kirchen, des Lutherischen Weltbundes, der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen und des Weltmissionsrates vermag derzeit einigermaßen öffentlichkeitswirksam daran anzuschließen. Unter Bezugnahme auf die biblische Perikope von Zachäus (Lk 19) setzt sie sich für soziale und ökologische Steuergerechtigkeit ein und befasst sich hierbei vor allem mit der zunehmenden Ungleichheit innerhalb wie zwischen Staaten sowie der Klimakrise und ihren Folgen. Die Kampagne möchte insbesondere der Bewusstseinsschärfung der ökumenisch arbeitenden Kirchen und ihrer Gemeinschaften und Gemeinden im Blick auf die mit Steuergerechtigkeit verbundenen Zusammenhänge ungerechten Reichtums dienen; zugleich beinhaltet sie politische Lobby- und Anwaltschaftsaktivitäten. Der Öffentlichkeit vorgestellt wurde das Anliegen beim Zusammentreffen des hochrangigen politischen Forums für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen im Juli 2019 in New York; seither sind alle Mitgliedskirchen eingeladen, sich in die weltweite Kampagne einzubringen. Grundlage der aktuellen Kampagne hierzulande ist der an den weltweiten Kampagnenaufruf angelehnte und zugleich Besonderheiten des hiesigen politischen Kontexts berücksichtigende „Zachäus-Appell“[11]. Das ökumenische Netzwerk Kairos Europa, das seit dem „Launch“ der internationalen Kampagne stetig darum bemüht ist, diese in der Bundesrepublik bekannt(er) zu machen[12] steht bereit, für die hiesige Kampagne eine Anschub- und Koordinationsfunktion zu übernehmen. Allein es braucht eine Bereitschaft sich in der Breite der deutschen Christenheit als in der Zöllner-Position stehend wiederzuerkennen und von dieser Position aus eine neue Begegnung mit dem Herrn Jesus zu wagen. Ausgehend von ihrer biblisch-theologischen Grundlegung, bietet es sich an, die Zachäus-Kampagne im Hinblick auf die im Kontext von Steuer(un)gerechtigkeit besonders relevanten Dimensionen in dreierlei Hinsicht zuzuspitzen:
• sozial: zunehmende Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen, Reichtum und (private wie öffentliche) Armut bei uns und weltweit
• ökologisch: globale Erwärmung, nicht nachhaltiger Umgang mit Ressourcen/Extraktivismus, „Kohlenstoffschuld(en)“ des globalen Nordens gegenüber dem globalen Süden
• entwicklungspolitisch bzw. Eine-Welt-bezogen: Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd, strukturelle Zusammenhänge zwischen Überfluss und Mangel, soziale wie ökologische Vulnerabilitäten im globalen Süden
Die generelle Stoßrichtung der Zachäus-Kampagne wird in 2021/2022 darin bestehen, aufzuzeigen, dass bezüglich der obigen Missstände eine zielgerichtete Ausgestaltung der Steuerpolitik (durch die Einführung oder Abschaffung, Erhöhung oder Senkung von nationalen wie internationalen Steuern) sowie die konsequente Erhebung von Steuern (durch Schaffung der rechtlichen wie institutionellen Voraussetzungen zur Durchsetzung des Steueranspruchs sowie zur Unterbindung von Steuerhinterziehung und Steuervermeidung auf nationaler wie transnationaler/globaler Ebene) in sozial-, umwelt- und entwicklungspolitischer Hinsicht mittels ihrer Lenkungs- und Aufkommenswirkung zu einer nachhaltigeren und gerechteren Weltwirtschaft beitragen würden – zumal auf politisch vergleichsweise leicht praktikable, ggf. sogar „marktkonforme“ Weise. Auf dem Weg hin zu einer mittel- bis langfristig unerlässlichen sozial-ökologischen Transformation stellt die Herbeiführung von entschieden (mehr) Steuergerechtigkeit somit zweifelsohne einen der zentralen ersten Teilstücke dar.
Im Frühjahr 2021 ist die Steuer-Thematik vor allem auf dem Hintergrund der Frage, auf welche Weise die „Corona-Schulden“ (re-)finanziert werden sollen, von hoher Aktualität und damit in der gesellschaftlichen wie (partei-)politischen Auseinandersetzung überaus anschlussfähig. Insofern trifft die Zachäus-Kampagne auf ein günstiges Umfeld, das eine gute Ansprache der prioritären Zielgruppe der kirchlichen Öffentlichkeit wie auch der Menschheitsfamilie ermöglichen sollte.
Den geistlichen Glutkern bewahren, damit Nachfolge Jesu auch material gelingen kann: Sammlung zur Sendung
„So etwas haben wir noch nie gesehen.“ (Mk 2, 12) So endet der evangelische Predigttext. Ohne die je neu zu suchende vergleichzeitigende Aktualisierung dieses radikal Neuen wird es nicht gehen, wird das neue Miteinander, das wir brauchen, nicht zu halten sein. Die Gabe dieses neuen Lebens – mit dem evangelischen Predigttext gesprochen die Vollmacht Jesu (Mk 2, 10) - aber ist Auftrag zur Sendung. „Die Kirche versucht dies seit der reinigenden Selbstkritik, die sie im 2. Vatikanischen Konzil an sich selbst vollzogen hat, immer häufiger auf eine nicht-rivalisierende Weise; auch wenn sie ihrem Auftrag nie voll gewachsen gewesen ist. Als Institution vertritt sie eine Botschaft, die sie übersteigt. Als aufbauend-kritische Präsenz in unserer Welt ist sie Platzhalterin des Geistes, der sich in Jesus ausgesprochen hat. „Die Kirche ist nämlich in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innerste Versöhnung mit Gott, wie für die Vereinigung der ganzen Menschheit unter sich.“ (2.Vatikanisches Konzil, Lumen Gentium Nr. 1) – Lassen wir uns also auf eine heiligende Weise mit hineinnehmen in Gottes neue Welt. Ohne in den Begegnungen des Alltags das Heilige wiederzuerkennen und das Zurechtrichtende zu ergreifen - so wie Jesus dies auf Schritt und Tritt gelingt - werden Depressionen und Burn-outs, unerfüllte Lebensweisen sowie stille Arrangements mit Willkür- und Gewaltherrschaft immer weiter zunehmen. Wenn es aber anders geschieht, dann deswegen, weil wir uns eines anderen rühmen, uns altertümlich gesprochen „selbst erniedrigen“ – also indem wir unsere Seelen empfänglich und groß werden lassen - und eben nicht mehr durch unsere eigene (selbstgerechte) Kraft und Herrlichkeit![13]
Peter Schönhöffer, Mainz
[1] Vgl. Krüger, René: Der Bruch mit dem ungerechten Reichtum: Die Umkehr eines verachteten Sünders, Lukas 19,1-10, in: ders.: Gott oder Mammon. Das Lukasevangelium und die Ökonomie, Luzern 1997,: 5-82.; Petracca, Vincenzo: Gott oder das Geld. Die Besitzethik des Lukas, Tübingen 2003.
[2] Kreissig, Heinz: Die sozialen Zusammenhänge des Judäischen Krieges. Klassen und Klassenkampf im Palästina des 1. Jh. v. Chr., Ost-Berlin 1970, 73.
[3] Schottroff, Luise /Stegemann, Wolfgang: Jesus von Nazareth. Hoffnung der Armen, Stuttgart 1978.
[4] Krüger, René: Der Bruch mit dem ungerechten Reichtum: Die Umkehr eines verachteten Sünders, Lukas 19,1-10, in: ders.: Gott oder Mammon. Das Lukasevangelium und die Ökonomie, Luzern 1997, 73.
[5] Vgl. Waldenfels, Hans, Sein Name ist Franziskus. Der Papst der Armen, Paderborn 2014, 10f.
[6] Vgl. neben vielem anderen exemplarisch Dittmar, Vivian, Das innere Navi, Wie du mit den fünf Disziplinen des Denkens Klarheit findest, München 2019, bes. 52, 79, 89.
[7] Hilfreich, um einen solchen Zustand dann auch halten zu können, ist neben der spirituell-biblisch grundierten Perspektive für jene überwältigende Mehrzahl, etwas nüchterner und in entkirchlichteren Umfeldern zu denken und zu fühlen gewohnte ZeitgenossInnen sicher auch Tino Luthmann, Politisch aktiv sein und bleiben. Handbuch nachhaltiger Aktivismus, Münster22019.
[8] Gemeinsame Missionserklärung des Weltmissionsrates mit dem Weltkirchenrat unter Einbeziehung römisch-katholischer TheologInnen: „Mission und Evangelisation in wechselnden Kontexten“, ursprünglich verabschiedet auf Kreta 2012, nachträglich von der Vollversammlung des Weltkirchenrates in Busan 2014 angenommen.
[9] Freundeskreis des Plädoyer für eine ökumenische Zukunft (Hrsg.), Das Erbe Philip Potters für die heutige Zeit ausfindig gemacht aus Anlass seines 100. Geburtstages, o.O., 2021, 26.
[10] Vgl. Zumach, Andreas, Kein Blut für Rohstoffe, in: Peter Schönhöffer et al. (Hrsg.), Die Zukunft, die wir meinen – Leben statt Zerstörung. Ökumenische Versammlung Mainz 2014, Münster 2015, 154.
[11] Im Frühjahr 2021 wird der Zachäus-Appell von folgenden kirchlichen Diensten, Werken und Einrichtungen sowie ökumenischen und zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützt: Amt für Mission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung der Evangelischen Kirche von Westfalen, Bischöfliches Hilfswerk Misereor, Brot für die Welt – Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung, Dachverband Entwicklungspolitik Baden-Württemberg, Entwicklungspolitisches Landesnetzwerk Rheinland-Pfalz, Jesuitenmission, Kairos Europa, Katholische Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands, Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Kirchlicher Entwicklungsdienst in der Evangelischen Landeskirche in Baden, Netzwerk Steuergerechtigkeit Deutschland, Oikocredit Förderkreis Hessen-Pfalz, Pro Ökumene, Stiftung Oekumene, Südwind – Institut für Ökonomie und Ökumene, Werkstatt Ökonomie, Zentrum für entwicklungsbezogene Bildung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.
[12] Vgl. Kairos Europa, Für eine neue internationale Finanz- und Wirtschaftsarchitektur (NIFEA): Das Zachäus-Projekt der weltweiten Ökumene, Heidelberg November 2019 sowie Kairos Europa, Für eine neue internationale Finanz- und Wirtschaftsarchitektur (NIFEA) jetzt (erst recht)! Die Zachäus-Kampagne der weltweiten Ökumene im Brennglas der Corona-Krise, Heidelberg November 2020 sowie der ausgezeichnet besetzte diesbezügliche bundesweite Studientag im Sommer 2020.
[13] Im Blick zu behalten für 2022 dürfte wohl in dieser Hinsicht vor allen Dingen sein: www.casa-comun-2022.de