Buß- und Bettag (22.11.23)

Buß- und Bettag

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. Evangelium
Hes 22,23-31 2 Makk 7, 1.20-31 Lk 19, 11-28

Vorbemerkung

Die Perspektive, unter der die Texte betrachtet werden, folgt der mit dem Neologismus bezeichneten Haltung des „Paradising". Dies versteht sich als neues kirchliches Narrativ, mit dem sich die theologische Reflexion der Herausforderung sozialer wie ökologischer Nachhaltigkeit stellen will und dabei biblische, auf die Paradies-Vorstellungen zurückgehende kulturelle Haltungen neu entdeckt. Diese biblisch-kulturelle Haltung, so das Verständnis, ermöglicht es Menschen, in den erforderlichen Prozess der Gestaltung seiner selbst wie seiner Welt sozial wie ökologisch verantwortlich einzubringen. In ihrer Einleitung stellen Dr. Sarah Köhler und Dr. Constantin Gröhn beispielsweise die Frage, „ob die Schöpfung, wie die Begrifflichkeit [scil. Bewahrung der Schöpfung] suggeriert, auf den Menschen als Gegenüber angewiesen? Oder ist es nicht eher andersherum? Das, was wir retten, rettet letztlich uns, und hier müssen wir uns bewähren? Wo werden der Ruf zur Verantwortung und die Frage nach Gerechtigkeit konkret? Und welche Narrative erzeugen eindrückliche Bilder?" (Quelle s. u., S. 1). Das Konzept setzt „bei der Sehnsucht an, der Sehnsucht nach einer Welt, in der Leben und Zerstören nicht mehr Hand in Hand gehen" (Quelle s. u., S. 1). Mensch und Tier sind Schöpfungswerk gleicherweise und teilen sich die Geschöpflichkeit; als weiteres Thema ist das zwischenmenschliche Verhältnis im Blick, es ist ein gleichwertiges Geschlechterverhältnis und die Gedanken von Gerechtigkeit und Nächstenliebe schauen auf das Verhältnis der Menschen. Fokussiert ist der Text auf die Beziehung zu Gott: „Gott ist der unsterbliche Gärtner der Welt, in der der sterbliche Mensch lebt, das ist eine Grundaussage der Erzählung von Eden" (S. 4)

Vorbild für die Relevanz in unserer Zeit der sozialen und ökologischen Krise ist die Aufnahme der Paradiesvorstellungen in den Pentateuch zu einer Zeit, da die Krise das Volk Israel bis in die Grundfesten erschüttert und nicht durch alte Verhaltensmuster, sondern durch das Erzählen einer neuen Schöpfungsgeschichte einen Ausweg findet. Dabei geht es nicht um eine Utopie, der Unerfüllbarkeit über dem Ganzen schwebt, sondern um die Annahme einer schon ermöglichten und zugleich noch zu gewinnenden Gestaltung von Zukunft. Die gemachten Verlusterfahrungen des Volkes werden dabei nicht resignativ als Schicksalsschläge oder als fatalistisches Hinnehmen von beispielsweise sog. Sachnotwendigkeiten gedeutet. Es wird ernst genommen, dass diese Erfahrungen die Konsequenzen eines Handelns sind, das sich über das soziale wie natürliche Ordnungsgefüge hinwegsetzt hatte. Zukunft wird aber nicht mehr mit alten, vertrauten Denk- und Handlungsmustern erreicht werden, sondern mit einer klaren Neu- oder besser Anfangsorientierung, die nicht in erster Linie nach dem weshalb, sondern nach dem Wozu fragt.

„Die biblische Geschichte vom Garten Eden in Gen 2-3 erzählt uns im Grunde drei Dinge:
[a] Das einzige Paradies, das es je gab und geben wird, ist das auf Erden für uns Erdlinge Geschaffene.
[b] Mit der Erkenntnis von Gut und Böse beginnt unsere Verantwortung für das Leben auf der Erde und der Mensch muss sich dazu verhalten.

[c] Wir sind in die Beziehung zu Gott, den Tieren und zueinander geschaffen, denn allein kann der Mensch nicht Mensch sein."

„Die biblischen Vorstellungen sind [...] voller Sehnsucht und Hinweisen auf eine Welt, in der Menschen mitsamt ihren Mitmenschen und ihrem Lebensraum im Gleichgewicht und in Frieden leben. Wir müssen sie nur neu zu uns sprechen lassen. [...] Paradising ist ein Konzept des Menschseins im Garten Eden, unserer Welt. Es ruft auf zur Rückbindung an das Paradies, das bereits existiert, an die religiösen Vorstellungen, die damit verbunden sind und an das Leben miteinander, wie es gedacht war. Eden ist auf der Erde. Es ist alles da. Es ist nicht verborgen und schon gar nicht verloren, wie sich theologisch zeigen lässt. Eden ist unsere Aufgabe und auch ein Ziel und wir erzählen uns auch heute noch vom Paradies. [...] Paradising weckt die Sehnsucht nach dem Paradies und den biblischen Vorstellungen. [...] Hier rahmen die Vorstellung vom himmlischen Jerusalem in Offenbarung 21 und das Bild des Gartens Eden in Genesis 2 unsere Realität und zeigen die teils noch unrealisierten Möglichkeiten menschlichen Lebens auf. Hier wird Gottes Wirken in Gegenwart und Zukunft durch das menschliche Handeln vorbereitet. Wir wollen die Sehnsucht füttern, die unser Handeln bestimmt. Dabei wehrt sich "Paradising" gegen Implikationen einer Trennung von Mensch und Schöpfung in Subjekt und Objekt, sondern verfolgt einen integrativen Ansatz einer gemeinsamen Gesellschaftsform. Denn niemand ist bloß angewiesenes oder ausgeliefertes Subjekt und niemand ist uneingeschränkter Souverän auf dieser Erde. Die hochtrabende Erzählung des Menschen als Statthalter Gottes wird revidiert durch das Bild, dass der Mensch in den Garten gesetzt ist mit allen Möglichkeiten, Verlockungen und Gefahren und anderem Leben."

(Quelle: Sarah Köhler Paradisieren: Biblische Geschichten neu erzählen, in: https://www.umkehr-zum-leben.de/fileadmin/Bilddateien_OeP/ArbeiststelleAnthropozaen/Publikationen/Paradising_Jahrbuch.pdf).

Hes / Ez 22,23-31

Die Perikope ist Teil des Kapitels 22, darin das dritte Orakel. Es nimmt die beiden vorausgehenden Orakel auf und führt sie dahingehend weiter, dass hier der endgültige Zustand des „Tages des Zorns" Gottes als Ergebnis konstatiert wird. Von paradiesischen Zuständen kann aus der Beschreibung heraus nicht die Rede sein. Es sind vielmehr katastrophale wie chaotische Zustände, die der Prophet im Blick hat und nach paradiesischen Zuständen Sehnsucht erwecken.

Der Textabschnitt hat eine literarisch vergleichbare Vorlage beim älteren Propheten Zefanja (vgl. Zef 3,1-8). Dessen prophetisches Buch kann als eine „Theologie für die Armen" (N. Lohfink) charakterisiert werden.

Der Text des Ezechiel macht deutlich, dass das ganze Land (nicht nur die darin lebenden Menschen) verderbt ist. Verderbt ist das Land: in dem, was beschrieben wird, ist es zunächst die soziale Dimension bzw. sind es die Dimensionen der Beziehungen zwischen den Menschen und mit Gott, die in Unordnung sind. Die negativen zwischenmenschlichen Folgen wirken sich, so darf man erfahrungsgemäß annehmen, auch auf das Land in ökologischer Hinsicht negativ aus. Der kultische Begriff ‚unrein' wird aufgegriffen für das, was der Prophet im Auftrag Gottes markiert: selbst mögliche Versuche der Reinigung sind wohl gescheitert, so dass nichts weiter bleibt als den „Tag des Zorns", also das Gericht Gottes zu konstatieren. Für das Buch Ezechiel / Hesekiel ist an dieser Stelle anzunehmen, dass diese Zerstörung im Untergang Jerusalems und der Exilierung des Volkes zu sehen ist.

Der Prophet stellt sogar mit Verve fest, dass es nicht einen einzigen Gerechten im Land gibt, der für das verderbte Volk in die Bresche gegen Gottes Ansturm springt bzw. einen Zaun errichtet, der vor dem Zorn Gottes bewahren würde (am Sinai konnte Mose noch das Volk, das dem goldenen Kalb mehr Glauben schenkte als seinem Gott, Bewahrung vor Gottes vernichtendem Zorn erreichen).

Würde die biblische Erzählung hier enden, hätte es wohl kaum einen Anlass gegeben, die Geschichte Israels weiter zu erzählen. Sie ist aber Teil eines prophetischen Buches, das den Blick auf das Unheil richtet, aber dabei nicht stehen bleibt, sondern das Heil verkündet, das in dem von Gott initiierten Neubeginn seinen Ausdruck findet.

Was zählt der Prophet zu den verderblichen Zuständen? Genannt werden der Machtmissbrauch gegenüber den Witwen (V. 7 und V. 25), die Missachtung des Sabbats (V. 8 und V. 26), das Blutvergießen (V. 27), der unrechtmäßige Gewinn (V. 12 und V. 27) und Übervorteilung, Wucher und Raub (V. 7 sowie V. 12 und 29). Frage ich nach der Gegenseite dieser Verfehlungen, komme ich auf folgende Wahrnehmung:
a) die Heiligung des Sabbats hat ihre Grundlage in der Schöpfungsgeschichte; sie steht für den Rhythmus des Lebens und die Harmonie des Zusammenlebens, zwischen Mensch und seiner naturhaften Mitschöpfung und zwischen Mensch und Mensch.

b) die Problematik des Blutvergießens reicht in die urgeschichtliche ‚post-paradiesische' Erzählung hinein als Annahme, dass es zwischen Mensch und Mensch von Seiten Gottes her keinen Grund gibt, den/die andere/n seines Lebens zu berauben.
c) unrechtmäßiger Gewinn, Übervorteilung, Raub: die Vorstellung der Schöpfung von Gott geht davon aus, dass den Geschöpfen alles gegeben ist, was sie brauchen – und auch die Gabe des Mit-Teilens, wo es Mangel geben sollte; mehr haben wollen als notwendig ist eine egozentrische Orientierung und missachtet die ausgleichende Gerechtigkeitsordnung Gottes.

Nehme ich die Paradiesgeschichte als Ermöglichungsgeschichte menschlichen Zusammenlebens mit Schöpfung und Mitmenschen, zeigt sich mir die Aufgabe, dieses Miteinander zu gestalten im Horizont der Wahrnehmung der menschlichen Verfassung, wie sie die Urgeschichte darstellt: als gebrochene Existenz, in dem u.a. das Geschlechterverhältnis und das zwischenmenschliche geschwisterlicher Verhältnis (Kain/Abel) gestört ist. Für den Propheten Ezechiel zeigt sich gleichsam aus der Geschichte Israels mit Gott eine entsprechende „Betriebsanweisung", nämlich die Lebensweisungen der Tora. Sie ist in der Wahrnehmung der Taten seines Volkes verdreht oder ignoriert. Es sind beklagte Zustände, die sich als Verletzungen des Heiligkeitsgesetzes (Lev 18-20) erkennen lassen. Der Tag des Zorns als Reaktion Gottes auf dieses Mißachten ist Ausdruck des Gerichtes – in diesem Abschnitt des Kapitels möglicherweise schon geahndet gesehen durch das Exil. Der Prophet zeigt mit seinem Orakel auf, dass es nicht ein vom Menschen unabwendbares Schicksal oder unvermeidliches Unglück ist, das zu den sozialen, religiösen und naturhaften (heute dürfte man von ökologischen) Folgen (das Ausbleiben des Regens wird genannt) führt. Der Mensch kann anders handeln und das soziale wie ökologische Zusammenleben und die Gemeinschaft mit Gott gestalten. In der Befreiungsgeschichte Israels erhält es dazu die vom Sinaibund her gegebenen Ordnungen der Tora. Gleichsam exemplarisch wird dieser von Gott zugesagte Lebensraum ein paradieshaftes bzw. aus den paradiesischen Lebensorientierungen gestaltetes Land (mit Natur und Kultur, Pflanzen- wie Tierwelt und Menschen) sein können, ein Land, in dem Milch und Honig fließen können, weil sich der Mensch an Verhaltensregeln hält, die vom Herrschen Abschied nehmen, dafür sich aber als Gärtner:innenexistenz entfaltet.

2 Makk 7,1.20-31

In der kath. Lesereihe ist an diesem Mittwoch ein Auszug aus dem siebten Kapitel des 2. Makkäberbuches vorgesehen. Es ist ein Teil der jüdischen Märtyrererzählung, die einen starken Nachhall fand als Glaubensbekenntnis, in dem das eigene Leben zur Bestätigung und zum Zeugnis eingesetzt wird. Dieses Kapitel unterstreicht die Möglichkeit der Standhaftigkeit eines Menschen, der seinen Lebensweg an den Lebensweisungen Gottes festmacht und orientiert. Die Perikope wie ihr ganzes Setting machen deutlich: um solches Zeugnis zu geben und zu dieser Haltung zu kommen, bedarf es auch einer stützenden Gemeinschaft, die ermutigt, trotz der immensen Widernisse an den Weisungen festzuhalten.

Die gesamte Erzählung illustriert den Kontrast, der sich bei Konflikten zwischen himmlischer und irdischer Herrschaft auftut. In diesem Kapitel formuliert die verfassende Person eine Vorstellung von Auferstehung der Toten, die stark von einer leiblichen Dimension geprägt ist. Der Text ist ebenso relevant für die Theologiegeschichte, da hier der Gedanke einer Schöpfung gesehen wird, die Gott aus dem Nichts hervorgehen lässt. In Verbindung mit dem Auferstehungsgedanken ist dies ein starkes Argument, dass sich der tote Mensch fürchten muss, da er ja wieder geschaffen werden kann.

Die Perikope selbst fokussiert sich auf die Mutter und das Schicksal ihres siebten und letzten Sohnes. Die Mutter wird mit ihrer Haltung zur Lehrerin ihrer Söhne und der Lesenden des Textes. Sie erlebt den Tod ihrer Kinder „hochgesinnt in der Hoffnung auf den Herrn". Darin ist sie nicht apathisch, vielmehr entspringt ihre Hoffnung dem verwurzelten Glauben an den Gott der Väter und Mütter. Der Glaube ist in einer existentiellen Situation gleichsam ein Resilienzfaktor gegen die Angst und der Flucht in die Unterwerfung wie auch gegen einen Fatalismus oder einen Übermut. Die Aussage, dass sie männlichen Mut und weibliches Denken vereine mag eine zeitgenössische Sicht auf Männer und Frauen widerspiegeln; zum Ausdruck kommen soll aber die Grundhaltung des Erkennens Gottes und seinem richtenden Handeln.

Die Rede der Mutter rekurriert auf den Schöpfergott: das Werden ihrer Kinder sieht sie als sein Wirken und es bringt sie ins Staunen, weil es menschliches Wirken übertrifft. Aus der Perspektive eines modernen Menschen, der naturwissenschaftliche Einsichten einbringen kann, scheint diese Sichtweise auf den ersten Blick überholt, da wir doch ‚alles' erforschen, verstehen und in der modernen Reproduktionsmedizin auch ‚machen' können. Oder rettet der Verweis auf den zweiten Versteil von 7,22 Gott noch als Schöpfer, weil das Zusammenordnen aus Grundstoffen (στοιχεῖα) angesprochen und vom Menschen noch nicht nachvollzogen wurde? Der Blick auf die Anthropogenese kann auch für Menschen, für die die naturwissenschaftliche Analyse Relevanz hat, dann noch in eine staunende und bewundernde Wahrnehmung des Lebens gehen, wenn sich der Mensch selbst in Relation setzt – und zwar zu Gott, aber auch als Geschöpf zu seiner Geschöpflichkeit. Menschliches Leben verdankt sich Gott im Blick auf das Werden des Ganzen und weiß es eingebunden in ein Lebenssystem. Darauf baut die Hoffnung, dass die Gerechten in Einklang leben mit Gott in einem umfassenden System der Gerechtigkeit aller lebenden Wesen und der Schöpfung als Ganzem. Darin verliert der biologische Tod, der auch im Paradies angenommen werden muss, seinen Schrecken der Nichtigkeitserfahrung; zugleich wird Hoffnung auf eine leibliche Auferweckung geweckt, das sie sich auf einem Schöpfergott bezieht, der aus dem Nichts das Leben schaffen kann und in seiner grundsätzlichen Option für das Leben das in den Tod gegebene Leben dem Tode wieder entreißt und damit Gottes Lebensmacht demonstriert wird.

Der Machthaber Antiochus versucht seine Macht zu demonstrieren; es gelingt ihm nicht mit der Macht Leben zu ermöglichen, sondern indem er das Leben der Söhne raubt. Mit Gewalt sucht er die Söhne von tragenden Glauben abzubringen. Er glaubt mehr an die Bestechlichkeit / Käuflichkeit durch Reichtum, Glückversprechen, gemachte Freundschaft oder Macht, um Menschen an sich zu ketten. Dass der Tod eine befreiende Kraft haben kann gegenüber solchem Machtmissbrauch kommt ihm nicht in den Sinn. Und weil die Mutter ihre Fähigkeiten zu Gebären und Kinder zum Erwachsensein nicht allein sich zuschreibt, sondern als Geschenk resp. Gabe Gottes versteht und angenommen hat, kann sie im Vertrauen auf die gebende Gotteskraft auch diese Gabe der Kinder wieder dem zurückgeben, von dem sie glaubend hofft, dass er das Leben aus dem Tod neu schafft. Wenn die Mutter dem Sohn in ihrer Sprache dem Sohn Zuspruch schenkt und der Herrscher diese Sprache nicht versteht, so ist hier nicht allein auf der sprachlichen Ebene ein Dissens festgestellt, sondern auch symbolisch deutlich gemacht, dass die Lebensmacht Gottes für selbstbezogene Machthabende unverständlich ist, weil sie das Leben sich untertan machen zu wollen statt dem Leben Räume zu schaffen, die ein Miteinander und Aufeinanderbezogensein ermöglichen. Die Intention des Schöpfungsberichtes setzt klar auf eine Macht, die Leben schafft, nicht in Ausbeutung oder Abhängigkeit, sondern in freiheitlichem Bezug der Geschöpfe untereinander und in freier Annahme der Beziehung Mensch und Gott.

Lk 19,11-28

Das Evangelium der kath. Leseordnung lässt beim ersten Hören an Mt 25,14-30 denken, wo es eine ähnliche Konstellation der Personen und der Handlung gibt. Die Kommentarwerke zu Lk interpretieren diese Perikope in der Regel analog im Sinne einer Parabel, die allegorisch verstanden auf Jesus, die Jünger:innen und ihr Engagement in der Nachfolge bezogen werden kann. Allerdings lohnt sich der genauere Blick in den lukanischen Text und seinen Kontext um diese Auslegung kritisch anzufragen und einer anderen Interpretation Raum zu geben. Meine Referenzen zu dieser von der Mehrheit abweichenden Auslegung finde ich insbesondere bei Ulrike Metternich (Beitrag im Sammelband „Gott ist anders", 2014, 83-95), Martin Ebner (Beitrag in Bibel und Kirche 2011, Heft 3, 159-163), der dabei die Parabel als Beispiel für strukturelle Gewalt in Palästina aufgreift, und Michael Fricke (Beitrag in Bibel und Kirche 2008, Heft 2), der bewusst die kontextuelle Lektüre übt, um der Aussage des Textes nahezukommen.

Auf einen synoptischen Vergleich sie an dieser Stelle im Detail verzichtet, doch hilft dieser die Akzentuierungen des lukanischen Textes zu entdecken. Was sind bemerkenswerte Differenzen der Erzählungen? Zum einen die eingewobene Charakterisierung des adligen Menschen als einer beim Volk unbeliebten Person, deren Ansinnen auf die Verleihung einer Königswürde durch eine Initiative aus dem Volk verhindert werden soll. Am Ende der Geschichte werden diese vom zurückkehrenden Herrscher brutal niedergemacht – die Kommentare verweisen in der Regel dabei auf ein geschichtliches Ereignis um den verhassten Herodes-Sohn Archelaos, gegen dessen Thronprätention eine jüdische Gesandtschaft eine letzten Endes erfolglose Intervention in Rom einlegte. Bei einer allegorischen Auslegung werden diese Personen zu Jesu Gegnern, ungeachtet der Tatsache, dass die Qualifizierung des Adligen nicht aufgelöst wird, obwohl dessen nachfolgend dargestelltes Verhalten ein Beispiel für die Ablehnung sein kann. Ein weiteres Indiz, das Aufmerksamkeit erfordert und nachdenklich macht, ist die Sprechweise der mit einer Mna ausgestatteten Sklaven: im matthäischen Text spricht der jeweilige Sklave davon, dass er zu der Menge an Geld die jeweilige Summe dazugewonnen hat; die lukanischen Sklaven aber sprechen davon, dass die erhaltene Mna die entsprechende Anzahl von Mna dazu erworben bzw. gemacht hat. wir bei Mt ein aktives Verhalten der Sklaven zum Ausdruck gebracht, so verweist die Redeweise bei Lukas, dass hier eine Sache sich selbstmächtig vermehrt. Die Sklaven erscheinen selbst also nicht als handelnden Subjekte, sondern das Mach-t-mittel der Mna. Die Sklaven bei Lk haben nicht das Vermögen zu verwalten, sondern werden selbst in einen Wettkampf untereinander entlassen und werden dadurch um so mehr zu willigen Gefährten des (potentiell) Machthabenden. An der Handhabung der Selbst-Machbarkeit des Geldes liest der Machthaber ab, an welchem Machtpunkt seiner Herrschaftspyramide ein Mensch eingesetzt wird, um die eigene Macht zu sichern. Der lukanische Text zeigt eine deutlich kritische Haltung zu Geld auf: mit dem Zinsverbot der Tora im Hintergrund wird diese Geschichte zu einem Antityp für die Nutzung von Eigentum im Sinne der Tora (selbst wenn dieses nur ein Ideal gewesen sein mag). Aus einem Hilfsmittel des zwischenmenschlichen Handels wird ein Machtinstrument, das Machtstrukturen aufbauen und erhalten hilft. Die Maxime ist Gewinnmaximierung zugunsten politischer Macht und nicht die Förderung von Potentialen, den zum Gemeingut beitragen.

An dieser Stelle ist es wichtig, den Kontext der Erzählung im Blick zu haben. Denn voraus geht zum einen die Begegnung zwischen Jesus und Zachäus, bei dem die Botschaft Jesu eine radikale Veränderung auch im wirtschaftlichen Verhalten mit sich bringt. Dieser Zachäus wird zum Beispiel eines reichgottesgemäßen Verhalten, weil er für sich die falschen Verhältnisse, die Missverhältnisse zwischen politisch Mächtigen und dem Volk erkannt hat, sich darin als Täter wie Opfer sieht und wahrnimmt, dass dies dazu führt, aus der zwischenmenschlichen Beziehung herauszufallen, was jenem Anliegen der Schöpfungsgeschichte widerspricht in unterschiedlich geprägter Beziehung zu- und aufeinander hin zu leben. Dass die von Jesus erzählte Erzählung sich nicht als Reich-Gottes-Vergleich eignet, sondern einen Verweis auf ein antitypisches Reich-Gottes-Verhalten impliziert, dürfte auch in der einleitenden von Lk eingebrachten Notiz mitschwingen: die Jünger:innen erwarten angesichts der erfahrenen Wirkungen der Reich Gottes Botschaft Jesu bei Menschen die nahe Ankunft des Reiches Gottes. Jesu Erzählung macht aber aufmerksam, dass sie doch mit der Widerständigkeit der gegenwärtigen Weltverhältnisse rechnen müssen. Die Verheißung auf das neue Paradies ist kein Selbstläufer.

An dieser Stelle scheint daher der dritte Sklave, mindestens ansatzweise, eine positive Beachtung finden zu dürfen. Er nimmt die Mna entgegen, aber er lässt sie nicht selbstwirksam sich weiterentwickeln, nicht einmal zu einer bloßen Verdopplung. Seine Antwort an den Herrn unterstreicht die Wahrnehmung der Delegation, die die Inthronisation verhindern wollte, dass dieser Mensch ein Machtmensch ist, der mit einem System von Druck und Angst agiert. In der Antwort des Sklaven lässt Lk durchaus erkennen, dass er an ein ausbeuterisches Bankensystem seiner Zeit denkt: abheben, was nicht eingezahlt wurde (also Zinsen) und ernten, wo keine eigenes Säen stattfindet. Die Bank, so der Herr selbst, würde das leisten, wenn der Sklave zumindest das Geld dorthin gegeben hätte. Der aber verbirgt es im Schweißtuch – und konfrontiert, wenn man sich das bildlich vorstellt, das Geld, das von der Aktivität anderer sich mehrt, mit der Anstrengung der arbeitenden Klasse. Während die beiden anderen Sklaven mit einem Aufstieg belohnt werden (zumindest scheinbar, denn im Grunde bleiben sie Abhängige, werden vielleicht sogar noch stärker abhängig), wird der dritte Sklave zwar getadelt, aber erstaunlicherweise nicht gestraft. Er bleibt in der sozialen Abhängigkeit und es verändert sich daher für das Verhältnis zum weltlichen Herrscher nichts. Hat der dritte Sklave aber durch diese riskante Handlung für sich etwas verändert? Mit dem Ergebnis, nicht mehr bestraft zu werden, konnte er nicht rechnen - das geht aus seiner eigenen Antwort hervor, dass er den Herrn als angstmachend erfahren hat. Er konnte nicht damit rechnen, dass die anvertraute Mna nach Abzug des Mehrwerts ihm verbleibt. Seine Handlung der Verweigerung lässt sich als passiver Widerstand / Protest benennen. Die Geschichte nennt keine weiteren Motive. Was heißt das für die Nachfolger:innen Jesu, die sich einer dem Reich Gottes widerständigen Welt gegenüber sehen? Die kleine Schar der Jünger:innen, die sich der Kraft des Reiches Gottes hingeben, werden klug handeln müssen, sich nicht von der dem Reich Gottes sich widersetzenden Macht schrecken zu lassen und durch ein angstbesetztes Mitmachen sich vom eigenen Weg abbringen zu lassen. Das Risiko, das eigene Leben zu verlieren geht der dritte Sklave ein – und Glaubende riskieren dies ebenso, weil für sie feststeht: nicht die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Machtspiele führen zum Reich Gottes, sondern das Vertrauen in einen Gott, der dem Unterdrückten und Ausgebeuteten auch über den Tod beisteht und ihn aus dem Tod ins Leben rettet. Reich Gottes tickt gegen das Reich von Geld und Macht, aber nicht im Augenblick, sondern, dafür stehen die Wachstumsgleichnisse, wachsend aus kleinen Anfängen, die Kontinuität im Vertrauen auf den lebenschaffenden Schöpfergott. Reich Gottes Arbeit ist geprägt von Bereitschaft zum persönlichen Einsatz und Aufnahme der schöpferischen Kraft. Hier begegnet der Lukastext in seiner Dynamik der Erzählung aus dem 2. Buch der Makkabäer, in dem die Orientierung an Gott auf Leben hinweist.

Christoph Schmitt, Rottenburg a. N.

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