17. Sonntag nach Trinitatis / 25. Sonntag im Jahreskreis (22.9.13)

17. Sonntag nach Trinitatis / 25. Sonntag im Jahreskreis

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
Joh 9, 35-41 Am 8, 4-7 1 Tim 2, 1-8 Lk 16, 1-13

 

Nach einigem Zögern habe ich zugestimmt, mich in dieser Reihe zu äußern. Ich bin kein Wissenschaftler der christlichen Lehre, sondern einer, der versucht das, was er davon verstanden hat, anzuwenden, bzw. einer, der versucht, die ihm begegnenden Realitäten im Lichte seines Glaubens und Wissens um die Grundlagen der Frohen Botschaft einzuordnen.
Deshalb bestimmt mich ein grundsätzlicher Argwohn gegenüber Reichtum, den ich mir als Kapuzinerschüler und als ein mit den einschlägigen Gleichnissen und Parabeln in der Bibel Aufgewachsener angeeignet habe. Von Franziskus habe ich gelernt, wer Reichtum besitzt, benötigt Waffen, ihn zu verteidigen. (Und wer viel Reichtum besitzt - industrialisierte Welt -, braucht umso mehr Waffen, ihn zu erhalten und seine Rohstoffe zu schützen - Rüstungsexport -.)
Amos ist einer meiner Lieblingspropheten, weil er kurz und knackig die Option für die Armen einnimmt und damit die Grundlinien göttlicher Botschaft auf den Punkt bringt. Ich bin außerdem bestimmt von einer 45jährigen Existenz als Kriegsdienstverweigerer, einem 42jährigem Engagement Migranten und Flüchtlingen, mit einer 38jährigen Beschäftigung mit dem Nahost-Konflikt, überwiegend im Rahmen von pax christi, und einem 25jährigen Einsatz im interreligiösen Dialog. Das sind meine Saiten über dem Resonanzboden meines Glaubens, der durch die Schriftworte meine bescheidene religiöse Melodie ergibt. Oder ist es umgekehrt? Sind die tätigen Beiträge zur Gemeinschaft, Gesellschaft die Musik auf dem Klavier des Glaubens?

Ich bin Generalist, schon weil mir das exegetische Werkzeug fehlt, um in die Feinheiten der Textauslegung einzudringen. Natürlich habe ich mir erst mal angeschaut, was alles Kluges bereits in den vergangenen Jahren zu den zur Debatte stehenden Textstellen gesagt wurde. Und ich freue mich, von alten Bekannten (Ernst Leuninger, 2007, und Peter Schönhöffer, 2010) wieder Neues in Bezug auf das Verständnis der Bibelstellen gelernt zu haben. Dabei handelt es m.E. um Grundlagentexte der jüd.-chr. Botschaft, weil sie Grundschwächen der Menschheit durch die Geschichte ansprechen. In der Handreichung von 2007 zum 25. Sonntag im Jahreskreis heißt es treffend: „Viele dieser Aussagen klingen auch in unsere Zeit übertragen sehr aktuell" und weiter: „Dieses Verhältnis von arm und reich begleitet die Menschheit durch die Geschichte". Eine ewige Realität ist die Gier nach (bzw. Abhängigkeit von) Geld, Macht, Ansehen quer durch alle politischen Systeme, gegen die uns die Frohe Botschaft immer wieder aufstellt, gegen die zum Aufstand wir uns immer wieder gerufen fühlen. „Deshalb wird unser Kampf für Gerechtigkeit auf der Welt und gegen die Armut überall zu einer immer größeren Aufgabe. Christen haben dies erkannt (2007)." Eigentlich müssen Christen dies nicht (irgendwann) erkennen, sondern Juden und Christen ist dies in die religiöse Wiege gelegt (und Muslimen übrigens auch).

Treffliche Exegese ist auf dieser Plattform bereits vorhanden. Ich habe dem nichts hinzuzufügen. So will ich mich auf einen Bezug der Texte zu meiner Gegenwart, zu meinem Erlebenshintergrund beschränken, eine Momentaufnahme bieten, und ich hoffe, dass auch darin Impulse liegen.

Amos, aus der Zeit des 8. Jrh. vChr., und Lukas, 800 Jahre später, ergänzen sich. Amos wettert gegen die Ausbeutung der Bevölkerung, überhöhte Preise, irreführende Verpackungen und Inhaltsangaben. Der lukanische „Verwalter der Ungerechtigkeit" (2010) erkennt den Irrweg eines ökonomischen Systems, das (seine Betreiber) in Abhängigkeit und Ruin führen kann, allerdings auch erst, als seine Existenzsicherheit bedroht ist. Ansonsten hätte er im „System" der Ausbeutung weiter mitgespielt. Aber immerhin. Er schafft es, sich frei zu machen davon, alles zu nehmen, was der „Markt" hergibt. Er fährt die Zinsen auf ein erträgliches Maß zurück, indem er auf den eigenen Gewinn weitgehend verzichtet (2010). Da macht es für mich dann auch Sinn, dass der Herr seinen Verwalter loben kann.

Mein Argwohn gegenüber Reichtum ist grundsätzlich. Bedeutet Gewinn auf einer Seite nicht immer Verlust auf einer anderen? Wie kann ein Mensch der jüd.-chr.(-isl.) Tradition reich werden, wenn das Maß nicht gefälscht, der Preis nicht übersteigert, die Waage nicht falsch geeicht, das Zinsverbot eingehalten ist? Die Reichen spekulieren mit den Preisen der (Welt-)Nahrungsmittel! Was steht mir denn zu, über einen Verdienst hinaus, der meine Lebensbedürfnisse sichert? (Ich gebe zu, das ist nicht leicht festzulegen.) Einen Grundsatz, den auch Amos im Ansatz schon beherzigte, habe ich der kath. Soziallehre entnommen: Der Mensch steht über dem Kapital. Schon Amos, der erste aller biblischen Propheten rebelliert gegen das herrschende Arm-Reich-System.

Urgesellschaften lebten in dem Bewußtsein, dass alles von Gott kommt, sein Eigentum ist. Die Bibel sagt, dass Gott den Menschen in den Garten Eden setzte, damit er ihn bebaue und bewahre. Von Parzellierung in Privateigentum war dort nicht die Rede. Auch außerhalb der jüdischen Tradition lebt diese Überzeugung. Gerade habe ich sie bei einem Besuch bei den kanadischen Indianern in deren Spiritualität wiedergefunden. Sie haben in diesem Bewußtsein gelebt, bis die weißen, christlichen Siedler ihren Lebensraum privatisierten und zerstörten. Es ist nicht nur ein Rousseau'scher Traum vom Ursündenfall der Erfindung des Privateigentums. Wir gedenken in diesem Jahr des 300. Geburtstages des Schöpfers des Gesellschaftsvertrages und damit des Heroldes einer demokratischen Gesellschaft. Auch für ihn war die Erfindung des Privateigentums die Ursünde der Menschheit.
Ist Privateigentum an Schöpfung nicht auch ein „Sein-Wollen-Wie-Gott"? Für Rousseau führt nur eine gleichberechtigte Bürgergesellschaft aus dem Sündenfall, wie sie indianische Gesellschaften längst lebten.

Kontrastmeldung vom 5. Juli 2012:
In London wurde Europas höchster Wolkenkratzer eingeweiht. Er wurde mit Ölmilliarden des Scheichtums Katar gebaut und bietet Wohnungen zwischen 30-60 Millionen Euro. Die wenigsten dort werden Engländer, Europäer sein. Turmbau zu London. Auch der Euro zeigt uns: Die Finanzwelt hat unsere Politik fest im Griff. Occupy Wallstreet!
Warum sind in den Golfmonarchien (außer Bahrain) Aufstände für Demokratie und Gerechtigkeit ausgeblieben? Weil allein Saudi-Arabien über 100 Milliarden Dollar unters Volk geworfen hat, um es damit zu blenden (Die Zeit, 28.6.12). Wieso konnte so viel Reichtum angehäuft werden? Gehören die Erlöse der Bodenschätze eines Landes nicht allen seinen Bewohnern? Welche Auswirkungen würde die Umverteilung auf die Staatsform haben? Würde Amos nicht auch König Abdullah zurufen: Deine Regierungsweise hat keine Zukunft! Bisher hat sich der König ähnlich dem „Verwalter der Ungerechtigkeit" (2010) verhalten: Er hat seine Einnahmen gekürzt, in der Hoffnung, sich mittels des Mammon Freunde zu machen. Wird das ausreichen, um den Ruf nach Gerechtigkeit zu unterdrücken?

Amos war, wie später Jesus mit seiner wachsenden Anhängerschaft in der damaligen galiläisch-judäischen Gesellschaft, in seiner Gesellschaft des israelitischen Nordreiches zur Gefahr für das ökonomische Arm-Reich-System geworden: Occupy Temple Street! Und schon damals, vor 2750 Jahren, war dem sehenden Auge klar, wo solche Dekadenz und Überheblichkeit hinführt: In den Verlust aller gesellschaftlichen Ordnung, letztlich in den Zerfall sozialen Zusammenhalts. (kleine Anmerkung am Rande: Was sagt ihm der Systemvertreter Amazja? „Geh doch nach drüben!" - Geh' nach Judäa und mach' die verrückt. Für die Jüngeren: Das bekamen westliche Systemkritiker zu Zeiten der DDR zu hören.)

Die Sehenden, Seherinnen und Seher, Prophetinnen und Propheten, waren immer eine kleine Schar, oft sogar nur Einzelgänger. Wurden sie mehr und konnten sie zur Gefährdung der bestehenden (Un-)Ordnung werden, wurden sie diffamiert, ausgegrenzt, mindestens mundtot gemacht – von denjenigen, die sich für sehend hielten.
Was sieht der am Teich Siloah sehend Gewordene? Auch er sieht eine neue Gemeinschaft, in die er aufgenommen wurde, er erlebt eine neue Gesellschaft, die auch ihm neues Selbstvertrauen, neuen Selbstwert vermittelt, so werden „die Werke Gottes an ihm offenbar" (Joh 9,3).

Jesus befreit ihn aus der gesellschaftlichen Stigmatisierung, seine „Blindheit" sei Ergebnis sündhaften Handelns seiner selbst oder seiner Eltern. Er eröffnet ihm ein Lebensmodell, das Liebe verwirklicht. Er ruft durch sein Wort in eine gesunde, heile Welt. „Zu einem Gericht bin ich in die Welt gekommen" (Joh 9,19). „Gericht" bedeutet mir nicht „Aburteilen": wer hat gesündigt, wer ist schuld. Gericht bedeutet mir „Herrichten", wie eine Mahlzeit, richtig zusammenfügen, vom Kopf auf die Füße stellen: „damit die, die nicht sehen, sehend und die Sehenden blind werden". Unordnung soll beseitigt, die richtigen Enden wieder zusammengefügt werden, damit die Energie fließen kann, damit „Ermächtigung" (Gauck am 6.3.12 im Schweriner Schloß) zu erlösendem Handeln möglich wird. Gott hat Jesus uns Menschen geschickt, als ursprüngliches Ebenbild Gottes, damit wir wiedererkennen, wer wir sind - und dazu wieder werden können. Erziehung, (Selbst-)Erkenntnis ist der Weg, der Mensch hat sich verloren, kann sich aber wiederfinden und den Weg der Liebe gehen. Aber die Liebe macht verwundbar. Der Theologe Gauck sprach „von einem ‚pädagogischen Ansatz', mit dem er der angstgeleiteten Politik zu Leibe rücken will" (Die Zeit, 15.3.12). Jesus will einem angstgeleiteten Leben, einer angstgeleiteten (Chaos-)Welt zu Leibe rücken.

Solche christliche Gemeinschaften gibt es. Ich will hier eine erwähnen, die mir deshalb ganz besonders am Herzen liegt, weil sie mehrere meiner Saiten zu einer gemeinsamen Praxis zusammenführt. Es ist der „Catholic Worker", den ich in den USA kennengelernt habe. Menschen in ökonomischer Lebensgemeinschaft, verbunden in christlicher Frömmigkeit, deren praktische Konsequenz strikte Gewaltfreiheit ist, gepaart mit Gastfreundschaft in ihren Häusern, offen gegenüber allen in Not, ganz besonders aber gegenüber den biblisch ausdrücklich genannten Flüchtlingen, zwar nicht Witwen und Waisen, aber doch besonders auch Frauen in Not. In Deutschland kenne ich nur eine Gemeinschaft in dieser Spiritualität: Die diakonische Basisgemeinschaft „Brot und Rosen" in Hamburg.

Kehren wir ins Land des Amos zurück. Ca. 2710 Jahre nach ihm, 1967, sagt wieder einer, einer in einer langen Kette von Kritikern israelitischer und israelischer gesellschaftlicher Zustände: Wir riskieren unsere gesellschaftliche Integrität, wenn wir beginnen, über ein anderes Volk zu herrschen, zu unserem Vorteil uns das Land aneignen: Jeschajahu Leibowitz, angesehener Religionsphilosoph und Biochemiker in Israel. Er hat vorausgesehen, was spätestens im vergangenen Jahr offenbar wurde: „Occupy Rothschild Boulevard" war und ist eine der größten Sozialbewegungen im letzten und in diesem Jahr, mit der die Zu-Kurz-Kommenden auf sich aufmerksam machen. Um auf eine ähnliche Zahl von Demonstranten zu kommen, müßten in Deutschland schon mehr als 8 Millionen Menschen auf die Straße gehen. Im Lande der Propheten setzen sich heute die vom Absturz Bedrohten selbst massenhaft für ihre Belange ein. Ein deregulierter Markt läßt die ehemals so solidarische israelische Gesellschaft auseinanderfallen: „Die Besserverdiener streichen im Durchschnitt 7,3-mal so viel ein wie die Mindestlohnempfänger. In den EU-Ländern liegt dieser Wert bei 4,9" (Die Zeit, 28.6.12). Und auch hier ist das Streben nach Macht und Land ein Motor: „Die Kosten für die öffentlich finanzierte Infrastruktur der Siedlungen im Westjordanland betrugen bisher insgesamt 18 Milliarden US-Dollar. Hätte man diese Ressourcen im Soziallbereich investiert, rechnet der Wirtschaftsexperte Roby Nathanson vor, wäre die gesellschaftliche Lage heutzutage eine vollkommen andere" (Die Zeit, 28.6.12). König Bibi, wie Ministerpräsident Netanjahu von seinen Anhängern genannt wird, sieht seine Herrschaft durchaus gefährdet: Organisatoren der diesjährigen Kampagne wurden schon im Vorfeld zur Polizei bestellt und zu kriminalisieren versucht. Geht doch nach drüben, vorzugsweise nach Jordanien, können die Herrschenden einem/r israelischen Bürger/Bürgerin heute nur in 20% der Fälle sagen: Wenn es sich um christliche oder muslimische Staatsangehörige handelt. Aber ca. 100 000 jüdische Staatsangehörige haben aus eigenem Antrieb vorgesorgt: Sie haben sich zur Sicherheit einen deutschen Paß zugelegt, sollte König Bibi doch ins Verderben führen.

Und wir Christinnen und Christen? Sind wir eine Systemgefahr in Zeiten eines wild gewordenen Raub-Kapitalismus? Nur selten. Die Theologie der Befreiung war und ist eine. Oscar Romero war eine. Und viele andere, die die Kirche längst vergessen, verdrängt und unterdrückt hat, statt sie zur „Ehre der Altäre" zu erheben. Und die Kirche selbst? Ist die Theologie der Befreiung von den dort Herrschenden nicht zu Recht auch als Bedrohung des eigenen Systems wahrgenommen worden? Haben die Hohen Priester des Vatikans nicht auch aus Eigeninteresse gehandelt? Ist ihnen klar geworden, welche Sprengkraft die biblischen Texte, die lukanischen zumal, enthalten, wenn sie wirklich ernst genommen werden? Auch mir wird es mehr und mehr ein Greuel, diese Texte von der ökonomischen Gerechtigkeit von goldverzierten Kanzeln vor vergoldeten Altären in Königsbasiliken zu hören. Ich habe nie verstanden, wie diese beiden Welten zusammenzubringen sind. „Können Sie sich Jesus bei einem Pontifikalamt im Petersdom vorstellen? Oder – wie Benedikt XVI. – im Gebet mit George W. Bush, dem Kriegspräsidenten der USA?" (Hans Küng im Gespräch mit der FR in deren Osterausgabe 2012). Benedikt hätte eher im Gemeindegebet (1Tim 2,1ff) für Bush beten sollen. Gilt das „Gehe hin, verkaufe alles, was Du hast und gib es den Armen" (setze es für die Armen ein, nicht für undurchsichtige Vatikanbank-Geschäfte) nicht auch der Kirche selbst? Occupy Church Street!

Befreiung als Erlösung. Amos will die Befreiung von der Anbetung des Mammon, ebenso Jesus mit der Parabel vom „Verwalter der Ungerechtigkeit". Johannes zeigt uns die befreiende Praxis der Glaubensgemeinschaft auf. Eine abweichende Lesart zu Joh 9,4 sagt: „Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat". Das ist wohl eine Minderheiten-Lesart, aber eine, die mir näher liegt. Und wir müssen im Geiste Gottes wirken, weil Gott will, dass alle Menschen gerettet werden. Das drückt sich im Gemeindegebet aus. Paulus betont das Menschsein Jesu, dem Christus. Aus allem, was mir die anderen angeführten Textstellen sagen, kann ich jedoch 1Tim 2,6 nicht folgen. Das Kreuz ist eine Konsequenz des Lebens Jesu, kein eigener Akt. Sein konsequentes Leben, dessen Teil der (Kreuzes-)Tod ist, überwindet die Verwundbarkeit der Liebe, überwindet die Ängstlichkeit des Lebens. Gott bestätigt für die Glaubenden dieses Leben, all inclusive. Für sie macht ein solches Leben Sinn, für die Heiden ist es eine Torheit, für die Juden ein Ärgernis. Es ist ein Leben der Befreiung, das erlöst.

Ja, auch ich selbst bleibe weit hinter diesem Anspruch zurück. Auch ich selbst bin ein Systemprofiteur. Ich habe mich gegen gute Entlohnung eingenistet in den Sozialwerken der Kirche, 20 Jahre Studentenpastoral, 14 Jahre Caritas. Ich bin mein Leben lang von der Kirche bezahlt worden, habe ein gutes Auskommen gehabt, sozusagen ein „Salonchrist". Das ist die Inkonsequenz meines eigenen Lebens.

 

Johannes Borgetto