18. Sonntag nach Trinitatis / 26. Sonntag im Jahreskreis
ev. Predigttext | kath. 1. Lesung | kath. 2. Lesung | kath. Evangelium |
2 Mose 20, 1-17 | Am 6, 1a.4-7 | 1 Tim 6, 11-16 | Lk 16, 19-31 |
1. Der Dekalog (2. Mose 20,1-17) ist wohl der bekannteste Text des Alten Testaments. Als Grundbestand des Katechismus ist er nicht nur Pflichtstoff für den Unterricht, sondern bildet auch die Grundlage christlichen Handelns. Er hat eine vielfältige Interpretationsgeschichte. Gerade deshalb ist er kein leichter Predigttext.
Der Dekalog ist wohl in der israelitischen Königszeit aus unterschiedlichen kleineren Gebots-bzw. Verbotsreihen entstanden. Er aktualisiert und erweitert ältere Verbote; außerdem versucht er konkrete Rechtssätze zu verallgemeinern. Diesen Abstraktionsversuch erkennt man, z.B., in der Abwesenheit von Strafbestimmungen. Es bleibt offen was geschehen soll, z.B., mit denen, die den Sabbat nicht halten. Der Dekalog eignet sich daher nicht (mehr) für die Rechtspflege, sondern eher für die Erziehung. Ursprünglich redet der Dekalog freie, erwachsene und Eigentum besitzende Männer an. Doch ist es legitim, im Sinne ihrer eigenen verallgemeinernden Tendenz, die Gebote auch auf Frauen und Kinder auszudehnen. Sinn und Ziel der Zehn Gebote ist es, die menschlichen Grundrechte zu sichern, um das Zusammenleben in einer Gesellschaft zu ermöglichen, die als gerecht empfunden wurde. Der Erhalt von Leben, Freiheit, Familie und Eigentum soll vor sozialer Zersetzung bewahren. Die Gebote, die die zwischenmenschlichen Beziehungen regeln (2. Tafel), werden als Ausdruck des Willens Gottes verstanden. Deshalb haben sie auch mit dem Verhältnis des Menschen zu Gott (1. Tafel) zu tun. Rebellion gegen Gott oder Manipulation Gottes hat tragische Konsequenzen für die menschliche Gemeinschaft.
Eigentlich könnte man eine Predigt über jedes einzelne Gebot halten. Verschiedene Einzelgebote bieten Möglichkeiten für nachhaltiges Predigen. Das Sabbatgebot möchte, z.B., den regelmäßigen Ruhetag auch für die (unfreien) Arbeiter und Hausangestellte und sogar für die Tiere sichern. Das Elterngebot versucht ein nachhaltiges soziales Gefüge zu erhalten, in dem die ältere, nicht mehr arbeitsfähige Generation ihre Würde nicht verliert. Vielleicht könnte auch das in seiner Wirkungsgeschichte ambivalente Bilderverbot (20,4-6) heute ein Beispiel für Nachhaltigkeit sein. In den ersten christlichen Gemeinden hat man das Bilderverbot im Kampf gegen den Kaiserkult benutzt. Heute kann man als Warnung gegen das moderne Konsumverhalten verstehen. Ein Beispiel aus Brasilien: Während der letzten Jahren protestieren viele Nichtregierungsorganisationen, die für Umweltschutz, Menschenrechte und Nachhaltigkeit eintreten, gegen den Bau des Megastaudammes Belo Monte, am Xingu-Fluss, im brasilianischen Amazonasbecken, der nicht nur mehr als 500 km² überfluten wird, sondern auch die Zwangsumsiedlung von mehr als 20.000 Einwohner zur Folge hat und das Überleben der übrigen Flussanwohner (Fischer und Sammler) wesentlich beinträchtigen wird. Die zu gewinnende Energie soll hauptsächlich dem Abbau von Erzen und Mineralien, besonders von Bauxit, und der Herstellung von Aluminium dienen, das in den globalen Norden exportiert werden soll. Am anderen Ende der Produktionskette werden aus dem Aluminium nicht nur Bierdosen gemacht, sondern auch immer mehr Leichtbauautos hergestellt, die als umweltfreundlich gepriesen werden. Nach vielen Nichtregierungsorganisationen sind das moderne „Götzenbilder", die Umwelt und Menschenleben zerstören und vor denen gewarnt werden muss.
2. In der Epistel 1. Tim 6,12-16 kann ich keine Dimension von Nachhaltigkeit sehen. Sie wäre in den vorhergehenden Versen (V. 6-10) unschwer zu erheben, da hier von Akkumulation, Raffgier, Ausbeutungswut, denen Timotheus nicht erliegen soll, die Rede ist. Doch das ist eine andere Perikope.
3. Das Thema des 26. Sonntags im Jahreskreis ist bestimmt von dem Evangelium Lk 16,19-31, die Beispielgeschichte vom reichen Mann und dem armen Lazarus. In dieser Geschichte kommt die Sehnsucht der Menschen nach ausgleichender Gerechtigkeit zum Ausdruck. Sie baut wohl auf ein ägyptisches Märchen auf, das durch Vermittlung alexandrinischer Juden in verschiedenen Fassungen in Palästina umlief. Sie fügte sich gut in das Thema Armut und Reichtum ein, das Lukas so am Herzen lag. Exegetisch kann man festhalten: a) Die Situation des reichen Mannes und des armen Lazarus wird nicht bewertet. Lazarus kommt nicht in den Himmel, weil er fromm wäre oder Jesu Botschaft aufgenommen hätte. Der reiche Mann hat anscheinend auch nichts Unrechtes getan, das ihn in die Hölle verdammte. Der Text sagt „nur", dass er im Luxus lebte und sich seines Lebens freute. Der Text hebt den Kontrast zwischen sehr reich („Purpur", „jeden Tag") und sehr arm („er lag", „Hunde leckten die Geschwüre") hervor. b) Auffällig ist, dass nur der Arme einen Namen erhält. Vielleicht kann man daraus schon die Parteilichkeit Gottes für die Armen und Schwachen herauslesen (Lazarus = Eleazar = „Gott hilft"). c) Das Achtergewicht verbietet, die Predigt jenseitsorientiert zu gestalten. V.27-31 verlagern das Gewicht wieder in das Diesseits: alle Menschen, besonders die reichen, sollen sich an die Tora halten bevor es zu spät ist. Es wird kein spezifisches Gebot der Tora erwähnt.
Ich verstehe, dass mit der Umkehrung der Verhältnisse des reichen und des armen Mannes im Jenseits der Text auch die soziale Gerechtigkeit im Diesseits als Ausdruck des Willens Gottes versteht. Die exegetischen Beobachtungen sprechen gegen eine Moralpredigt über die Reichen, die nach dem Text wohl die Hauptadressaten sind. Das Nebeneinander von extremem Reichtum und extremer Armut ist per se vor Gott ein Skandal. Der Hunger des einen macht das Sattsein des anderen gotteslästerlich. Erst die „Favela" macht die Villa der Reichen zur „Sünde". Die Extreme lassen nämlich ahnen, dass es Luxus nur auf Grund von der Verarmung anderer geben kann. Dies ist heute umso deutlicher, da wir wissen, dass Ressourcen begrenzt sind. Je mehr die Reichen also verprassen, desto weniger bleibt für die anderen übrig. Dazu kommt: je mehr Konsumgüter wir (alle) verbrauchen, desto größer wird die Natur ausgebeutet, die Umwelt zerstört, Lebensräume von Mensch und Tier vernichtet und das Leben zukünftiger Generationen eingeschränkt. Soziale Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung sind halt die zwei Seiten derselben Medaille. In seinem Buch „Armut wird uns retten" versucht der Autor Hans-Peter Gensichen zu zeigen, dass die Reichen mit weniger auskommen müssen wenn alle – sie einschließlich – überleben wollen.
Ein Gedanke noch über den armen Lazarus. Viele lateinamerikanische Theologen würden behaupten, dass die Armen nicht auf die „Brosamen" der Reichen warten sollten. Erstens, weil die Armen nicht Brosamen, sondern Gerechtigkeit suchen sollten. Zweitens, weil sie nicht auf eventuelle Hilfe des einen oder anderen warten, sondern selbst durch solidarische Organisation Wege zur gerechten Verteilung des gesellschaftliche Reichtums erarbeiten sollten. Allein dies sei zukunftsträchtig und gebe den Armen ihre Würde zurück.
4. Amos 6,1a.4-7 wurde ausgesucht, weil er zum Thema des Evangeliums ausgezeichnet passt. Der Form nach ist der Text eine Leichenklage über die noch lebende politische und soziale Elite Samarias (V. 1 fügt die Jerusalemer Elite redaktionell ein); die Klage mündet in V.7 in eine Gerichtsankündigung. Die auffälligste Ähnlichkeit zu Lk 16, 19-31 ist das Luxusleben der „Vornehmen": sie liegen in Elfenbeineinbetten und Polstermöbeln, sie essen Lämmer und Mastkälber, trinken Wein aus besonderen Schalen und lassen neu erfundene Musikinstrumente (besser als „Lieder" in V.5) zu ihrem Grölen spielen. Die Gelage der Notablen werden zum Fall des ganzen Landes und zur Deportation der Verantwortlichen führen.
Grundsätzlich gelten für den Amostext dieselben Überlegungen wie für das Evangelium. Einige Unterschiede seien kurz genannt: a) Anders als bei Lukas, handelt es sich bei Amos nicht um Einzelpersonen, sondern um eine politisch-soziale Größe: die Vornehmen. Daher ist auch der Ausgang ein politischer: Gefangennahme der regierenden Schicht durch den Feind. b) Auch sagt der Text deutlich, dass es ein Fehlverhalten der angeklagten Schlemmern gibt: die Regierenden sind „übermütig"(V.1.7) und „sorglos" (V.1) und haben sich nicht um das Gemeinwohl der Menschen gekümmert haben (cf. „Schaden Josephs"; V.6). Konsumverhalten, Verschwendungssucht und Verantwortungslosigkeit der führenden Elite haben den Fall einer ganzen Nation zur Folge.
Hier steht nicht der Kontrast zwischen arm und reich im Vordergrund – das Thema kommt häufig in anderen Amostexten vor – sondern ein Fehlverhalten der regierenden Oberschicht. Man kann an die korruptionsanfälligen Oligarchien verschiedener Länder denken, die in erster Linie auf ihr eigenes Wohl und den Erhalt ihrer politischen Macht bedacht sind, das Wohl der Bevölkerung jedoch nicht beachten. Ein Land kann politisch nicht überleben, wo Korruption die Politik bestimmt. Nach dem Gerechtigkeitssinn des Propheten und der theologischen Weisheit wird das Unglück irgendwann die eigentlichen Verursacher des Übels treffen.
Nelson Kilpp