1. Adventsonntag (29.11.15)

1. Advent 2015

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
Röm 13, 8-12(13-14) Jer 33, 14-16 1 Thess 3, 12 - 4, 2 Lk 21, 25-28.34-36

Der Autor geht auf die Suche nach dem, was die Perikopen der katholischen und evangelischen Leseordnung zusammenhält und findet eschatologischen Zuspruch und Mahnung, welche jenseits von familiärer Familienidylle, zu der der 1. Advent mancherorten gemacht wird, dazu an­halten, selbst dann, wenn die Zeiten finster werden, sich zu fokussieren.
Nach biblischem Zeugnis kann dies  bedeuten, sich nicht von den Begierden forttragen zu lassen, sondern allen Menschen Liebe zu schenken und so den Glauben an die "soziale Heterotopie des Reiches Gottes" im Dienste der Subalternen wachzu­halten.  Nicht auf das Ausmalen der katastrophischen Bilderfluten kommt es dabei an. Das so oder so bevorstehende Weltende steht im Dienst der "kleinen Auferstehungs­formeln".

Exegetische Bemerkungen

Die sog. "große öffentliche (Lehr-)Rede Jesu über die Endzeit", die den katholischen Predigttext Lk 21, 25-28, 34-36 ausmacht, komponiert Lukas - dabei "mit elegantem Stil und erlesenem Wortschatz" (Francois Bovon) den pastoralen Erfordernissen seiner Zeit und den eigenen für entscheidend erachteten theologischen Anliegen Raum gebend -  gegenüber seiner maßgeblichen Vor­lage aus Markus 13 mit Freimut ein wenig um.
Bei dem hoch umstrittenen Logion "Diese Generation wird nicht vergehen..." bestand vermutlich sogar die Absicht, manch hochgespannte Nah­erwartung zeit­genössischer Falschpropheten zurückzuweisen: Jede Generation ist parusie-gefährdet, erhält dazu aber die Zusage: Das ewige Wort Gottes, das in Jesu Rede aufklingt, ist das, was wirklich bleibt. Die römische Eroberung Jerusalems von 66-70 n. Chr. voraussetzend ist die "Zeit der Kirche" zu den "Heiden" weitergegangen.
Doch selbst (Bürger-)Kriege, revo­­lutionäre Unruhen, Seuchen, Epidemien, Erdbeben, Aufstände, das zertreten werden der heiligen Stadt Jerusalem, Christenverfolgungen und noch weitere "apokalyptische Wehen" können die jungen Gemeinden im tiefsten nun nicht mehr erschrecken. Denn solches ist alttestamentlich vielgestaltig vor­gezeichnet und kann im letzten doch nur darauf verweisen, dass der Menschensohn das letzte Wort haben wird, wenn er ein zweites und endgültiges Mal - diesmal in Hoheit - ankommen wird. Vergessen wir nicht: Der von Gott selbst bevollmächtigte "Gesalbte des Herrn" zielt bei Lukas durch seine Vergebungszusagen und kostenlosen Heilungen selbst gegenüber Frauen und Fremden und gar das gemeinschaftliche Essen mit Sündern und Ausbeutern auf die Umkehrung aller gesellschaft­lichen Verhältnisse.
Sei es im Angesicht der patriarchalen Gewohnheiten wie der brutalen (römischen) Vormacht seiner Zeit: immer geht es ihm auch um "soziale Heterotopie" (Wolfang Stegemann), um wirklichen Frieden mit Gott, der nur im Dienste der Elenden, Notleidenden, chronisch Kranken, Behinderten und Subalternen aller Art sowie aller wahren Gott­sucherInnen gefunden werden kann.[1] "Wenn Gottes Herrschaft endgültig aufgerichtet wird, dann wird diese soziale Transformation einmal um­fassend durchgesetzt."[2]
Den "Zeichen am Himmel", die wohl dafür stehen, dass die gesamte Schöpfungs­ordnung angesichts der Dramatik der letzten Dinge ins Wanken geraten wird, können all  diejenigen, die in der Nähe Jesu stehen und bei ihm Zuflucht finden, nüchtern standhalten. Der lukanische Jesus spielt nicht mit dem Schrecken, den die apokalyptische Textart hervorrufen könnte. (Johannes Calvin). Er bedarf auch nicht so sehr der Ausmalung wie noch bei Markus. "Lukas hat entschieden, man wisse genug über das Ende der Welt, wenn man über das Kommen des Herrn unterrichtet sei."[3]  Viel entscheidender sei es, auf das Entscheidende selbst zu schauen, das in einem Schwall von alttestamentlich vorgezeichneten katastrophischen Bildworten - darin jedoch kaum weniger beklemmend-gewaltig daher­kommenden Sprach­formen - zum Ausdruck gebracht wird:  Wenn alles ins Wanken gerät, worauf kann dann noch gebaut werden?
Was die Herrschaft der gottfeindlichen Weltvölker in "nicht mehr ein noch aus wissen" und panische Weltangst zu versetzen vermag, sei den Christen lediglich ein Grund, sich nicht verwirren zu lassen. Die bedrohlichen Un­heilsereignisse stellen nicht schon das Ende dar. Die Christen können sich, wenn es soweit ist, vielmehr in Hoffnung auf ihre endgültige Erlösung aus der Erniedrigung, Unterdrückung und Verfolgung, die die Verse 12- 19 geschildert haben, aufrichten, wenn der Menschensohn der ganzen verängstigten Menschheit erscheinen wird (eine Art "kleine Auferstehungsformel").
Als Konsequenz davon scheint angezielt zu sein, in ethischer Würde (Verse 34-36) auf dieses Ende zuzugehen, d. h. von Gott getragen eine gläubige Existenz in geistlicher Wachheit und Aufmerk­samkeit  jenseits von gewalttätiger Trunksucht (Vers 34) aufzunehmen, um mit Kraft, Energie und Widerständigkeit, vor allem aber mit siegreicher Geduld gerüstet alles durch­tragen zu können, bis ER kommt zum Gericht der Völker wie zur Erlösung der Gerechten, "der Lebenden wie der Toten". Der Zustand des Betrunken-seins, die Erschlaffung einer schläfrigen Existenzweise, die auf rein materielle Selbstabsicherung auf Kosten der Schwachen setzt, werden dabei als sichtbare Seite der unsichtbaren Sünde der Ablehnung Gottes vorgestellt.

Der evangelische Predigttext aus Röm 13, 8-12 (13-14) stellt die gegenseitige Nächstenliebe gegenüber allen Menschen der Umgebung in gewisser Kontinuität zu Rabbi Hillel oder Rabbi Akiba wie auch zu markanten Vertretern des hellenistischen Judentums (gemeint ist: Erfüllung durch Tun gemäß Levitikus 19, 18) als Generalnenner der mosaischen Weisungen (mindestens jedoch der Verbote der zweiten Tafel) vom Sinai dar.
Das Liebesgebot als eine Art hermeneutisches Kriterium für das, was jüdisch mit dem Weg des Gesetzes angezielt ist und nunmehr als Lebensnerv christlicher Vergemeinschaftung möglich wird, ist jedoch aus seiner Sicht nur "in Christus" und "in der Kraft des Geistes" möglich, insofern die von Gott Geliebten Gott nur in der Liebe zu allen Menschen entsprechen können.
In den Versen 11-14 kommt auch hier noch ein eschatologischer Horizont der Mahnung hinzu. Die gesamte biblisch-apokalyptische Redeweise brachte Gott stets mehr zu den Menschen als dass der Mensch von sich aus Gott nahe kommen oder ihm gar entsprechen könne. Der Glaube an Christus kommt in der Liebe zum Nächsten,  die selbst noch die Verfolger einschließt (Röm 12, 14ff.) und damit das Böse (Ehebruch, Mord, Diebstahl, Begierde..) nicht noch vermehrt, sondern überwindet,  zu seiner edlen Wirkung. (Auch die Staaten sollen von Gott her gesehen laut Röm, 13, 1-7 nur insofern Gehorsam verlangen dürfen, als sie ihrer Aufgabe entsprechen, das Böse zurück­zuhalten und das Gute zu fördern.) Tora und Liebe schließen sich nicht aus, sondern wie die Liebe der eigentliche Inhalt des jüdischen Gesetzes genannt werden kann, so ist das Gesetz die Autorität, die dem Tun der Liebe absolute Verbindlichkeit zu­spricht (Ulrich Wilckens).

Die Pointe im Römerbrief liegt wohl wirklich darin, dass wir Menschen dieses scheinbar so einfache, nämlich „Liebe tun“ aber wohl nur im Zug jener Bekehrung wirklich erreichen, in der wir uns mit allen Sinnen und leibhaftiger Konkretheit auf die Wirklichkeit jener Erneuerung einlassen, der die Christen durch die Taufe zugehören (Vers 12 ist als Taufkatechese zu verstehen) und so ständig aus dem „Schema dieser Weltzeit“ (Röm 12, 1f.) auszubrechen aufgefordert sind, um die Waffen des Lichts „gegen die Werke der Sünde“ zu tragen (Vers 12).
Dies führe dazu, die Begierden, die den Menschen ansonsten mit sich davonzutragen drohen, (Vers 13f.) gar nicht erst erwachen zu lassen. Auflösung der Ehre und Verdinglichung des Menschen ist zu vermeiden; dorthin gelangt man gemäß der Entsprechungslogik von Röm 6, wonach wir in wirklicher Gerechtigkeit leben sollen, weil wir von Gott wirklich gerechtfertigt worden sind bzw. wie Röm 8 ausdrückt, dass wir auch wirklich „nach dem Geist“ leben sollen, weil wir doch bereits im Geist leben bzw. das Pneuma Gottes in uns lebt. Wer darum weiß, dass der Tagesanbruch nahe ist, der sieht sein Leben in einem neuen Licht! (Michael Theobald)  Auf uns allein gestellt bzw. aus uns heraus würden wir immer wieder scheitern.

Ein gemeinsamer Hintergrund unserer adventlichen Predigttexte besteht darin: Angesichts der Fragen auf Leben und Tod darf man weder selbst schläfrig werden noch die Wahrheit Gottes durch Ungerechtigkeit niederhalten, sondern soll in sich hineinhören, wo und wie wir uns vom wach werden für den Herrn und der (betenden und/oder tätigen) Bereitschaft für sein Kommen bestimmen lassen können: Eschatologische Verkündigung wie in der katholischerseits anstehenden Perikope ist immer auch Bußpredigt! Mahnrede wie sie im evangelischen Predigttext des Römerbriefes zu uns spricht, soll immer auch beredt Ansporn hervorbringen, wieder auf Gottes Wege des Lebens zurückzufinden.

Predigtanregungen im Rückgriff auf die heutige homiletische Grundsituation

Biblische oder zeitgenössische Anklagen und Gerichtsworte fallen ohne ein hörbereit werdendes Umfeld zunächst einmal fast zwangsläufig ins Leere. Diejenigen, die bereit werden sollen, das Ganze mit Gottes Augen und seiner Hilfe in den Blick nehmen zu wollen und damit die gesamtbiblische Perspektive aufrecht­erhalten, finden sich derzeit im Alltag am ehesten noch in der Rolle "als einsamer Rufer in der Wüste" wieder - zuweilen belächelt, hier und da auch noch geachtet und geschätzt.

Die Predigt zum ersten Advent lebt insofern einerseits davon, gegen die zeitgenössisch beliebt gewordene Reduzierung ihrer Inhalte auf idyllische (Familien-)Zeremonien und der Zurücksetzung jeglicher Inhalte auf den Status von Bei­werk oder Fassade  "Geist und Wahrheit", mithin sogar den Ernst der letzten Dinge in sich zu tragen, nicht weniger jedoch davon, sich produktiv in Beziehung zu setzen; insofern also den Gottesdienst zu heiligen, aber erst wenn wir vorher auch die Wohnstätten besucht haben - und zwar selbst da noch, wo sie mit ungewohnten Denk­formen hantieren muss oder wo sie inhaltlich konfrontiert oder heutiges Leben und Erleben in Liebe herausfordert.

Ein Blick auf mein eigenes heutiges für viele Mitmenschen nicht untypisches Umfeld mag sich in Bezug auf diese Absicht als hermeneutisch hilfreich erweisen: Dies läuft inzwischen ausgesprochen eng "getaktet" ab und zu einem gemeinschaft­lichen Lebensgefühl komme ich fast gar nicht mehr. Wir haben einen wunderbar integren Ortspfarrer.
Doch wo immer die in postmodernen Vorverständ­nissen gebildeten deutschen Lebenswelten zersplitterte Wertungen, Sichtweisen, Schemata und fast schon ge­schlossen daherkommenden "kleinen Welten" hinterlassen, d.h. die so unterschiedlich ausgeprägten Sprach- und Autoritäts­verständnisse aufeinanderprallen, fehlen zumeist die persön­lichen kommunikativen Ressourcen und Geschmeidigkeiten sowie die eingespielten Wege, über­brückt die Abstoßungseffekte kaum noch jemand mit Respekt dem Amt oder Leichtigkeit der Fremd­heit gegenüber, damit die größere Ehre Gottes intakt, spürbar und erreichbar  bleibe - selbst auf ungespurten Pfaden. Das kirchliche Gemeinde­leben erscheint mir - ähnlich wie die post­modernen Selbstentwürfe in der Welt von heute[4] - vielmehr oftmals innerlich erschöpft, vielfach mit Äußer­lichkeiten über­laden, manchmal geradezu klinisch rein und porentief befreit von den spürbaren Ansprüchen des Evangeliums. Es geht mit Vorliebe einen immer gleichen Gang, der von den unter den gegen­wärtigen Lebensbedingungen möglichen und sprach­fähigen Lebensäußerungen in der Welt von heute fast überhaupt nicht mehr berührt wird.

Währenddessen gerät die Schöpfungsordnung tatsächlich und sehr bedrohlich ins Wanken. Drei der neun zentralen ökologischen Herausforderungen der Gegenwart haben ihren "point of no return" offenbar bereits überschritten, in anderen Feldern fehlt nicht mehr viel dazu.[5] Nicht weniger gilt persönlich und gemeinschaftlich jedoch auch: "Wir wollen, dass unser Leben Sinn hat, dass ihm Gewicht beigemessen wird oder Substanz zugesprochen wird, dass es sich auf seine Erfüllung hin entfaltet (..), damit ist unser ganzes Leben gemeint.
Wenn nötig, wollen wir, dass die Vergangenheit durch die Zukunft "erlöst", in eine sinn- oder zweckvolle Lebensgeschichte eingegliedert und in eine gehaltvolle Einheit einbezogen werde."[6]
Auf eine solche Sehnsucht heutigen Mensch-seins enthalten unsere Predigttexte von heute sprechende, richtungsweisende Antworten: Unwahrscheinlich, unbeschreiblich, Menschen treffend, im heiligen Geist bis heute sich als wahr erweisend: Wenn alles ins Wanken gerät und die Menschen nicht mehr wissen, worauf sie noch bauen können, dann werden diejenigen, die dem Christus Gottes und d.h. seiner vollkommenen Güte in und mit ihrem Tatzeugnis (anonym) trauen, die sich in ethischer Würde und geistlicher Wachheit aufrichten, wirklich durchgetragen und dürfen zugehen auf das adventliche wie auf das apokalyptische Kommen Gottes - welch ein Trost, welche eine fulminante Freisetzung, von nun an mit allen Seelenkräften, allem Wollen und ganzem Gemüt das unsrige beizutragen: Lobet den Herrn!

Peter Schönhöffer, Mainz


[1] Wolfgang Stegemann, Jesus und seine Zeit, Stuttgart 2010, 54, 56, 59f, 325-331, 345-353.

[2] ebd. 352.

[3] Bischof Ambrosius von Mailand, Exp Luc X, 6-45, hier: 9.

[4] Vgl. Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, dtch. Frankfurt 22015.

[5] Rockström et al. 2009.

[6] Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung neuzeitlicher Identität, Frankfurt 82012,101.