Allerheiligen

 

kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
Offb 7, 2-4.9-14 1 Joh 3, 1-3 Mt 5, 1-12a

 

Matth. 5, 1-12

Die Bergpredigt, die Seligpreisungen: das ist ein Urbild, das ist ein Urtext des Evangeliums. „Als Jesus die vielen Menschen sah, stieg er auf einen Berg. Er setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm. Dann begann er zu reden und lehrte sie.“

Der „Berg“: Das ist in der Schrift –und in den Weltreligionen überhaupt- seit jeher der Ort Gottes, der Raum seiner numinosen Gegenwart, der Ursprung seiner Offenbarung, das Zeichen seiner Herrschaft, das Symbol der Jenseitigkeit (Gen. 22, 2; Ex. 3, 1; Ex. 19, 3; 2. Sam. 5, 7 und 9; Apk. 21, 10). Mag auch im Text des Evangeliums zunächst vordergründig der praktische Umstand gemeint sein, daß von einer Anhöhe aus, von einer Kanzel, für die vielen Menschen der Prediger besser hörbar und von weither sichtbar ist, so steht doch der Berg für mehr als nur die akustische Nutzung eines natürlichen Resonanzraumes, was er denn, in der realen Welt des Glaubens, eben doch auch bleibt.

Die „vielen Menschen“: Die Zahl der Hörer, der Anhänger, der Gläubigen ist nicht begrenzt. Es ist eine offene Menge, die hört, vielleicht auch weghört, vielleicht auch hinzukommt, wenn die Stimme hörbar wird. Jesus ist der Bruder aller Menschen, er macht sich ihnen gleich, dient ihnen; aber im Text des Evangeliums trennt er sich von den Menschen, erhöht er sich, um sichtbar zu werden; wenn er lehrt und predigt, ist er ein Anderer, ist er Herr und Meister, macht er seine jenseitige Sendung sichtbar (Joh. 5, 24 und 30). Die Zahl der Menschen ist unbegrenzt, der Lehre geschieht vom Berg aus unter offenem Himmel: Die Predigt Jesu ist ohne Begrenzung von Raum und Zahl.

„Er setzte sich.“ Die sichtbare Erhöhung hebt Jesus jedoch nicht von den Bedingungen des Menschlichen ab. Wer lange steht, wird müde. Das gilt für den Redner, gilt für die Zuhörer. Im Sich-setzen solidarisiert sich Jesus mit den Menschen, ihrer Müdigkeit, ihren Gebrechen, ihrer Schwachheit. Jesus überfordert niemanden. 

„Seine Jünger traten zu ihm“: Es gibt einen engeren, näheren Kreis um Jesus, der sichtbar hervortritt und sich von den „vielen Menschen“ offensichtlich unterscheidet. Was dies bedeutet, mag hier offen bleiben. Vielleicht ist diese Bemerkung Ausdruck einer frühkirchlichen Gemeindestruktur, die auch sonst im Matthäus-Evangelium in deutlichen Spuren erkennbar ist (Matth. 10, 1-4; 16, 16-19; 18, 15-20; 28, 16-20).

„Er begann zu reden und lehrte sie.“ Die ersten Worte sind die „Seligpreisungen“. Dieser Text gilt seit jeher als Inbegriff der Lehre Jesu. Bei Matthäus findet er sich, über Lukas hinaus (Luk. 6, 21-26), in aphoristisch zugespitzter, poetisch verdichteter, liturgisch überhöhter Fassung.  Die Worte sind unausschöpflich, die Interpretation ist unendlich. Es sollen einige Aussagen herausgegriffen werden, die das unmittelbare, ja tägliche Leben der Menschen gerade in der heutigen Zeit, die von Elend und Unfrieden in weiten Teilen der Welt, von Ungerechtigkeit und Hunger, von globalen Umweltveränderungen, von Zukunftsängsten gekennzeichnet ist und in der die menschliche Zivilisation überhaupt an apokalyptische Grenzen zu stoßen scheint, in besonderer Weise betreffen.

Da beginnt es mit den paradoxen Worten, einem scharfzüngigen Paroxysmus und zugleich einer Verheißung: „Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich.“ Was auch immer „Armut“ in diesem Zusammenhang heißen mag -„Armut im Geiste“ heißt im Urtext wörtlich und seit jeher kryptisch-, das Defizit jedenfalls, das hier angesprochen wird, ist nicht das letzte Wort in der Bestimmung des Menschen, es öffnet geradezu erst das „Himmelreich“: die Not, der Mangel, die Begrenztheit, vielleicht auch die Bescheidung sind der Weg zum Reich Gottes, das mit „Himmelreich“ gemeint ist, und das nicht nur im Jenseits, sondern gerade auch  in dieser Welt, in diesem Leben zu den Menschen kommt und hier eine Fülle schenkt, die allen Mangel unendlich übersteigt. Es sind nicht die materiellen Güter, es ist nicht die physische oder intellektuelle Beherrschung der Welt, worin der Mensch zu sich selbst kommt, sondern das Annehmen, das Leben der Begrenztheit der gesamten, auch geistigen Existenz, auch der Endlichkeit, der Bruchstückhaftigkeit allen menschlichen Tuns, dem das Himmelreich gehört. Lukas fügt, über Matthäus hinaus, gleichsam noch des Spiegelbild hinzu: „Aber weh euch, die ihr reich seid; denn ihr habt keinen Trost mehr zu erwarten“ (Luk. 6, 24). Ein solcher Lebensvollzug ist durchaus auch in der Realität vorstellbar. Die Folgen für die Lebenswelt wären unabsehbar.

„Selig, die keine Gewalt anwenden; denn sie werden das Land erben.“ Gewaltlosigkeit ist nicht ein proprium des Christlichen, gehört aber zu den zentralen Botschaften Jesu. Auch die Gewaltlosigkeit hat eine Verheißung: das „Land“.  Gewalt erzeugt Gewalt und löst die Spirale der Zerstörung aus. Der Verhängniszusammenhang der Gewalt kann nur von innen her aufgebrochen werden – ob mit Erfolg oder mit Hoffnung, steht dahin. Seit jeher müht sich die Auslegung, müht sich die Moraltheologie mit dem Gebot der Gewaltlosigkeit ab, es läßt sich so gar nicht in die Wirklichkeit der Welt einfügen; es ist vielleicht ein Element des Utopischen in der christlichen Botschaft. Aber was bedeutet die Verheißung des „Landes“? „Gaia“ steht im Griechischen, das ist die Erde, aber im Lichte der Verheißung, der Vollendung von Himmel und Erde: „Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde“ (Apk. 21, 1). Insofern steht diese Seligpreisung in Parallele zu den sonstigen Verheißungen. Aber wenn man einmal, gleichsam versuchsweise, den Text, die „Erde“ zumal, wörtlich nimmt? Erde als Lebens-, als Naturraum der physischen Welt, als die materielle Schöpfung? Das ist „Erde“ doch gewiß auch, sonst gäbe es ja nichts, das zur Vollendung kommen könnte. Die Seligpreisungen haben das Himmelreich im Blick, aber eben doch auch die elementare Wirklichkeit des Lebens. Und da gewinnt die Gewaltlosigkeit einen wuchtigen, ja bestürzenden Sinn: Auch die Erde ist vor Gewalt zu bewahren! Und nur wer keine Gewalt anwendet, wird sie bewahren und „erben“, vererben. Das Verhängnisvolle wird erschreckend sichtbar: der Raubbau am Leben, die Vernichtung der Arten, die Zerstörung der Lebensräume, die Plünderung und Verwüstung der materiellen Natur: das ist Gewalt, die der Mensch ausübt. Diese Gewalt hat keine Zukunft. Das aktuelle Leitmotiv der Kirchen „Bewahrung der Schöpfung“ läßt sich am ehesten fassen als Bewahrung der Natur vor Gewalt. „Selig, die keine Gewalt anwenden.“

„Selig, die Frieden stiften.“ Auch der Friede ist nicht nur eine metaphysische Dimension. Der Friede betrifft das Leben der Menschen in dieser Welt. Das ist schon die Botschaft des Alten Testamentes. Der Schalom ist das Versöhntsein des Menschen mit sich selbst und mit Gott bereits in dieser und in der künftigen Welt. So werden die Friedfertigen Söhne Gottes sein. Der Frieden kann in dieser Welt als Tat real gestiftet werden, denn auch der Krieg ist Tat des Menschen. Hier öffnen sich weite Felder menschlicher Politik und christlichen Handelns. Und Friede ist auch Friede mit der Natur, wie denn Bewahrung der Natur auch Frieden stiftet: Wie oft entstehen Konflikte um knappe Güter; pessimistische Prognosen sehen künftige Kriege um Wasser und Bodenschätze heraufkommen. Gelingt ein nachhaltiger Umgang mit den knappen Ressourcen, ist eine Bedingung für Frieden auf dieser Welt geschaffen.

„Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihnen gehört das Himmelreich.“  Die Gerechtigkeit – ein Grund-, ein Urwort der Schrift. Die Gerechtigkeit – das Urbild aller Ethik und Zielpunkt aller menschlichen Ordnung. Auch nicht die Gnade hebt die Gerechtigkeit auf. Die Gerechtigkeit bleibt Leitbild menschlichen Handelns in dieser Welt; auch sie hat Verheißung. Gerechtigkeit bestimmt in der biblischen, aber auch in politischen Ethik sowohl das individuelle als auch das kollektive Handeln. Beides gilt: Gerechtigkeit als persönliche Tugend des „Gerechten“, und Gerechtigkeit als Aufgabe politischen Handelns in der menschlichen Gemeinschaft. Es scheint, als komme es gerade in der heutigen Weltsituation, in der die Ungerechtigkeit der menschlichen, der staatlichen, der zwischenstaatlichen Verhältnisse zum Himmel schreit, in besonderem Maße auf die kollektive Aufgabe zur Schaffung von Gerechtigkeit an. Und wenn Ungerechtigkeit darin besteht, daß die Güter des Lebens, die ja zugleich Güter der Natur sind, ungleich zwischen den Menschen verteilt sind, zerstört Ungerechtigkeit mit Hunger und Elend das Leben selbst. Dann ist aber auch der Frieden in Gefahr und schreitet die Zerstörung der Natur fort. Christen bringen sich ein in den weltweiten Prozeß von „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ und erkennen hierin einen inneren Zusammenhang und einen Auftrag, der sich unmittelbar aus dem Evangelium ergibt.

Freilich: Die Seligpreisung lautet etwas anders. Gewiß ist von Gerechtigkeit die Rede, aber doch mehr von der Verfolgung um der Gerechtigkeit willen, und die Verfolgung ist es, der die Verheißung gilt. Nun mag sich in dem Text auch die Erfahrung früher Christenverfolgungen niederschlagen (Matth. 5, 11-12; 10, 17-22); Lukas kennt die Seligpreisung in dieser Fassung nicht. Aber der Text selbst weist darüber hinaus: Auch die Propheten des Alten Bundes  sind verfolgt worden. Nicht, weil sie für den einen Gott, den wahren Glauben und den reinen Kult eingetreten sind, sondern weil sie gegen Ungerechtigkeit in der Welt des alten Israel kämpften. Das Eintreten für Gerechtigkeit richtet sich gegen die, die ungerecht sind: Die Herrschenden, die das Volk ausbeuten (Am. 8, 4-6). Gerechtigkeit bedeutet immer auch Veränderung der Herrschaftsverhältnisse. Und das ist immer gefährlich. Damals wie heute.

Das heißt dann aber auch: Das Eintreten für Gerechtigkeit kann im politischen Kampf, in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung auch scheitern. Jesus ist gescheitert. Er hat Israel nicht von den Römern befreit, er hat Herodes nicht abgesetzt, er hat die Herrschaft des Tempelpriestertums nicht beseitigt. Und er hat sogar seinen Jüngern die Verfolgung „um der Gerechtigkeit willen“ vorausgesagt. Das Kreuz steht für den Endpunkt menschlicher Existenz in dieser Welt. Die Gerechtigkeit aber hat Verheißung.

Das ist die Dialektik christlichen Lebens in der Welt und in der Geschichte: Eintreten für Gerechtigkeit in diesem Leben, und das kann in einer glücklichen Konstellation, in einem kairos gelingen und das Leben der Menschen erfüllen, aber stets gewärtig sein, daß die Mission scheitert. Das Scheitern kann dabei verschieden Gründe haben; Unwissenheit im Handeln angesichts komplexer Zusammenhänge und Unklugheit im Agieren, aber eben auch das Machtinteresse des herrschenden Systems und seiner Repräsentanten. Das Wissen um die Möglichkeit des Mißlingens bewahrt, gerade auch im politischen Leben, vor Überhebung und Selbstüberschätzung – denken wir an den Anfang zurück: „Selig sind die Armen vor Gott“-, das Handeln aber geschieht in Hoffnung. Die Verheißung steht über dem Gelingen wie über dem Scheitern.  

Der Reformationstag steht für die ecclesia semper reformanda: für eine stets unvollkommene, irrtumsanfällige Kirche. Allerheiligen aber holt die Gegensätze in Versöhnung herein.

 

 

                                                                                                                             Frank Hennecke