Allerheiligen (1.11.18)

Allerheiligen

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
Offb 7, 2-4.9-14 1 Joh 3, 1-3 Mt 5, 1-12a

Stellung in Kirchenjahr und Weltzeit

„In unserer säkularen Welt wird die Grundhaltung, dass nichts heilig ist, oft als absolut gesetzt“[1], so Pfrin. i. R. Ingrid Schneider, die heute in der Begleitung von transformativen Veränderungsprozessen in Menschen und Organisationen tätig ist. Gegen diese Überzeugung ist mit aller Macht der Unterscheidung der Geister, die uns zur Verfügung steht, anzu­gehen. Allerdings ist angesichts eines solchen Befundes auch ein ausstehender Lernertrag zu ziehen: Eine ebensolche transformative Veränderung steht auch für die Gestaltung von Allerheiligen an, soll der Festtag nicht untergehen. Gemeint sind eine Umformung des inneren Gehalts in eine auf der Höhe der Zeit befindliche äußere Symbolik und Feiergestalt; nicht zuletzt auch der sprach­lichen Verkündigung und populären Feierformen. Brennende Kerzen auf dunklen Fried­höfen zu deponieren ist offenkundig mittlerweile zu wenig erhellend für die pragmatisch eingestellten „alles- und nichts-glaubenden“ Zeitgenossen.

Allerheiligen wurde in der Populär- und Jugendkultur innerhalb weniger Jahre durch „Hallo­ween“ verdrängt. Dies wiederum ist in jüngster Zeit angesichts der allgemein um sich greifen­den Überforderungs- und Müdigkeitsgesellschaft[2] immer häufiger verflachend konsumistisch-banalsierend abgefeiert worden. Außer „Süßes oder Saures?“ scheint nicht mehr viel übrig geblieben zu sein. Sind die einstmals populären Heiligenfeste ebenso wie die sinntragenden keltisch-irischen Wurzeln von „Halloween“ also vielerorts weitgehend aus dem allgemeinen Bewusst­sein zurückgedrängt, gilt es mit Entschiedenheit das wach­zurufen, worum es hier ur­sprüng­­lich ging: den elementaren Sinn für das unverfügbar uns auf das Höhere Verweisende und Menschendienliche am Heiligen.

So wie Papst Bonifatius IV. im frühen 7. Jahrhundert das heidnisch-römische Pantheon, also das Heiligtum der gesamten antiken Götterwelt, Maria und allen Märtyrern weihte, also denjenigen, die sich ihren Glauben etwas kosten ließen, gilt es heute wiederum alles zu umfassen und zu um­fangen, was würdig und recht ist, auf den einen heiligen Gott hinzu­deuten. Suchen wir also wirklich zuerst einmal das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit - und alles andere wird uns womöglich hinzugegeben. Psalmen und christliche Gebetserfahrung aller Zeiten lehren: Nicht aus eigener Macht­vollkommen­heit, sondern erst von ihm her können wir unseren eigenen Glanz beziehen.

Damals dauerte es noch einige Generationen bis Papst Gregor IV. 835 n.Chr. Allerheiligen für die gesamte Westkirche auf den 1. Novem­ber festlegte und wiederum einige weitere Genera­tio­nen bis sich ein (heute zuweilen nicht nur im lutherisch-calvinistischen Raum recht gewollt wirkendes) Procedere für Heiligsprechungsprozesse in der römisch-katholischen Kirche durch­setzte. Vernachlässigen wir über diese zuweilen menschlich-allzumenschlichen Begleit­­umstände indes nicht: Der Glaubenssinn der Gläubigen weiß sehr wohl: Heilige und Heiliges begegnen auch heute von sich aus in unserem Leben erhellend und unsere Alltags­plau­sibilitäten durch­schneidend; und zwar sowohl in der römisch-katholischen Weltkirche wie auch in anderen kirchlichen Traditionen und auch im unübersichtlich gewordenen Pan­theon unserer Tage, so dass wir geradezu aufzu­merken und uns neu zu ordnen gezwungen sind.

 

Exegetische Bemerkungen zu den katholischen Lesungstexten:

1 Joh 3, 1-3 und Offb 7, 2-4.9-14

Zentrierend für die Stelle aus dem Johannesbrief sind die eingängigen Motive der Gottes­kind­schaft und der Heiligung. Zu einer solchen Würde kann sich der Mensch weder durch besondere Leistungen empfehlen noch sie sich durch stete Anstrengung herbeizwingen. Eine derartige Nähe zu Gott ist in der evangelisch-katholisch gemeinsam erarbeiteten Erklärung zur Rechtfertigungslehre von daher als ein unverdienbares Geschenk (vgl. V.1: „Seht, wie groß die Liebe ist, die der Vater uns geschenkt hat“) anerkannt worden. Die Bezeichnung von Christen als geheiligte Gotteskinder kennt indes christlicherseits einige Weiter­führungen. In unserer Textstelle wird sie gegen eupho­risie­rende Tendenzen, die es wohl immer gegeben hat, ausgesprochen nüchtern diakonisch-menschendienlich im Sinne des „katholischen Topos der Heiligung“ ausgedeutet: „Jeder, der die Gerechtigkeit nicht tut und seinen Bruder nicht liebt, ist nicht aus Gott. Daran kann man die Kinder Gottes und die Kinder des Teufels erkennen.“

Die stark apokalyptisch aufgeladene Stelle aus der Offenbarung des Johannes verschärft dies noch: „Knechte Gottes“ aus allen Völkern werden in einer lebensbedrohlichen Entschei­dungs­­situation, die wohl auf römische Verfolgungen hinweist, von Gott selbst zu seinem Eigentum gemacht und gerettet. Heute können wir wissen: Die biblische Apokalyptik beschäf­tigte sich fast ausschließlich mit Kritik an der damaligen geschichtlichen Situation, die von Seiten der römischen Machthaber unter derart falschen Voraussetzungen angegangen worden ist, dass sie mit den Augen der der biblischen Autoren gesehen schlussendlich scheitern musste bzw. sich in eine ausweglose Situation hineinmanövrierte. Mit ihrer drakonischen Kritik im Namen Gottes will die Apokalyptik die Heil­losigkeit der zugespitzten geschichtlichen Situation aufbrechen und sie auf eine fundamentale Wende hinlenken. In der Sichtweise der Apokalyptik ist diese Wende nur noch von Gott her denkbar. Wie auch immer dies im einzelnen gemeint worden ist: Sich ganz der Sache Gottes ver­schreibende Bekenner hinterlassen quer durch die Geschichte bleibende Faszina­tion, weil sie aus harter Bedrängnis geboren werden. So standen „Bekenner“ wie „Märtyrer“ Pate bei der Heraus­bildung dessen, was später „Heilige“ genannt worden ist. Diese aber leben bis heute authentisch fort in der elementaren Erinnerung im Herzens des Volkes - wie man beispiels­weise an der jedes Mal beein­druckenden Märtyrerwallfahrt der bundesweiten Basis­gemeinde­treffen der katholischen (und evangelischen) Aufbrüche in Brasilien ablesen kann.

Mt 5, 1-12

Die Seligpreisungen sind das Eingangstor zur Bergpredigt, die für das Matthäus-Evangelium zentral ist und wohl auch insgesamt die Kernaussagen der Botschaft Jesu enthält. In der Tat glaubt man in diesen von Tolstoi bis Ghandi eine ungeheuer reinigende Nachwirkung freisetzenden Versen bereits den Geist der gesamten Bergpredigt zu spüren: im Wagnis des unein­geschränk­ten Zutrauens zum geradezu zärtlich geschilderten göttlichen Gegenüber und zugleich darin, dass unsere höchsten Kräfte in Beantwortung dessen, wach­gerufen werden, „voll­kommen zu sein, wie unser himmlischer Vater vollkommen ist“ (Mt 5,48).

 

Predigtanregungen mit Bezug zur Nachhaltigkeit

Angesichts der Wucht der Predigttexte stellt sich die Frage: Wie um Himmels willen kann all dies heute und hier geschehen? Es bleibt wohl nichts anderes als auf das Zentrale und Zentrie­rende und das Leben aus der Belanglosigkeit Hinaushebende zu schauen, den heil machenden Gott selbst, mithin die Zentralität des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit (vgl. Mt 6,33). Nur das, wohin ich schaue und mich wende, kann durch mich zur Wirklichkeit kommen!

Angesichts dessen, dass der im September 2017 herausgekommene „Präventionsradar der Krankenkasse DAK“ feststellt, dass aktuell 43% der nachwachsenden SchülerInnen-Gene­ration unter einem subjektiv dermaßen angestiegenen Stress-Pegel leiden, dass dies gesund­heits­­­schädliche Folgen nach sich zieht (Mobbingfolgen in sozialen Netzwerken, Kopf­schmerzen, Panik, Schlafprobleme etc.) ist es gerade angesichts etwas innerlich Großem wie dem Aller­heiligen­tag und dem damit einhergehenden Aufleuchten von Seligpreisungen und Apo­ka­lyptik hilfreich, sich beim Predigen vorzunehmen, sich nicht allzu sehr dem Geist dieser Welt anzugleichen (Röm 12, 2). Ermüdung und Erschöpfung haben nicht nur Byung Chul-Han, sondern vor ihm auch schon Großtheoretiker wie Jean-Francois Lyotard oder jüngst auch Giorgio Agamben als „Zeichen unserer Zeit“ ausgemacht. Wenn wir in diesem Kontext eine Wirkung erzielen wollen, dürfen wir demnach weder zu formelhaft noch zu an­gepasst und/oder belanglos-banalisierend von Gott sprechen. Mit seinem Ankommen bei uns Menschen kann sich buchstäblich alles wandeln; auch unsere Verstrickung in Ermüdungs­erscheinungen oder das festhalten wollen an Mittelmäßigkeit, Neurosen oder Lebenslügen.

Leben in der Zwischenzeit

Allerdings müssen wir auch immer damit rechnen, dass es stets „eine halbe Ewigkeit“ voller Verirrungen und Verwirrungen und auf diesem Weg schmerzvolle Umformungsprozesse von Wahr­nehmungs-Gewohnheiten und Handlungs-Routinen braucht, um dem, was hier und da im Leben als „heilig“ aufblitzt, auch nachgehen zu können – denn das heißt es wohl, „Heiliges“ erstens anzuerkennen und zweitens dem, was dies an eigener Zentrierung und Einübung von Menschendienlichkeit von uns fordert, dann auch noch gerecht zu werden.

Die Erkenntnis, dass es nicht von heute auf morgen gehen wird, kann uns indes auch Zeit und Kraft freisetzen, um uns für die Zeiten, in denen wir uns wachhalten und bereithalten müssen für die „fundamentale Wende“, die biographisch wie apokalpytisch-weltgeschichtlich angesichts von mit einiger Sicherheit auf uns zukommenden „Klimakriegen“ (Harald Welzer) und um sich greifen­der „Kannibalisierungstendenzen“ (Jean Ziegler) wieder neu anstehen könnte. In der Zwischenzeit gilt es, barmherzig mit uns und mit anderen zu sein und dabei Energien zu sammeln, nicht zuletzt „Lebenslust in unlustigen Zeiten“ zu praktizieren, d.h. der Sinnlichkeit und Menschen­verbundenheit der Evangelien trotz der schon in den Evangelien eindringlich überlieferten Gotteslästerungs-Vorwürfe zu trauen (Er isst mit Sündern, lässt sich von „gefallenen Damen“ salben und umgibt sich, ja lernt sogar von allerlei unreinen Gestalten“) - und sich in der Zwischenzeit „dem heiligen Spiel der heiligen Messe“ (Romano Guardini) anzu­vertrauen.[3] Denn letztlich ist es der Glaube, der in der Ambivalenz aller menschlichen Erfahrungen und trotz aller menschlichen Negativität empfänglich macht für Glück und Glückendes als Gleichnis künftigen Heils und künftiger Menschendienlichkeit für alle. Hier gibt es mutige Geduld und letzte Gelöstheit und zugleich ein immer wieder neu befähigt werden, aufzustehen, wenn wir gefallen sind, um dem heiligenden Gott auf heil werdende Weise je neu handelnd entgegenzutreten.[4]

Entlastend sei in Erinnerung gerufent: Schon alttestamentlich sieht die Geschichte der Menschen mit ihrem Gott in etwa so: Als ER das kleine und bedeutungslos erscheinende Volk Israel aus dem erbarmungslosen Wirtschaftsbetrieb des Pharaos herausboxte, gab es zwar ein großes Aufatmen. „Wir wollen alles tun und hören, was Jahwe sagt“ (Ex. 24), bekannte das Volk in der großen Liturgie am Sinai. Aber die Euphorie währte nur kurz. Schon bald hatten „die Dama­ligen“ keine Lust mehr, die Spitzenmannschaft ihres Gottes zu sein. Sie wollten „sein wie alle Völker“ (1Sam 8, 20). Es gab zwar weiterhin großartige Propheten. Aber die Führungs­schicht blieb ein degenerierter Haufen, der das ganze Volk mit sich in den Abgrund riss. Es ging scheinbar sang- und klanglos unter. Mit Ezechiel gesprochen: Israel war als Vorzeigevolk geplant. Und jetzt: In alle Länder hat man sie vertrieben und überall haben sie ihren Gott zum Gespött gemacht. „Diese Versager da, die sind also Jahwes Spitzenprodukt? Was muss das für ein mickriges Göttlein sein!“ So oder so ähnlich höhnte man unter den Völkern. Israel hat seinen Gott blamiert bis auf die Knochen. (Ezechiel 36, 16-21) Und nicht viel anders hört es sich neutestamentlich variiert in den Worten von Kurt Marti an: „Jesus, mit einer Schar von Freunden (Freundinnen auch) durch Galiälas Dörfer und Städte ziehend, hat Kranke geheilt und Geschichten erzählt von der Weltherrschaft des ewigen Gottes. Privilegien der Klasse, der Bildung galten ihm nichts. Zu seinem Umgang zählten Tagelöhner und Zöllner. Wo Mangel sich zeigte an Nahrung oder Getränk teilte er Fische, Brot und Wein für viele. Die Gewalt von Gewalthabern verachtete er. Gewaltlosen hat er die Erde versproch­en. Sein Thema: die Zukunft Gottes auf Erden, das Ende von Menschenmacht über Menschen. Auf einem Jungesel kam er geritten - Kleinleutemessias - die Finger einer Halbweltdame vollzogen die Salbung an ihm... bald verwirrt, bald euphorisch folgten ihm die Freunde, die Jünger, um bei seiner Verhaftung ratlos unterzutauchen ins Dunkel... anstatt sich verstummt zu verziehen ins bessere Jenseits brach er von neuem auf in das grausame Diesseits zum langen Marsch durch die Viellabyrinthe der Völker, der Kirchen und unserer Unheils­geschichte. Oft wandelt uns jetzt die Furcht an, er könnte sich lang schon verirrt und verlaufen haben, entmutigt, verschollen für immer vielleicht - oder bricht er noch einmal (wie einst an Ostern) den Bann?"[5]

Und tatsächlich: Nicht wenigen erscheint es so, als ob es auch in heutigen christlichen Gemeinden und Kirchen weitgehend heillos zugehe.

 

Doch siehe da: Der Heilige und das Zentrierende kommen – damals wie heute!

Aber irgendwann hält es Jahwe dem Zeugnis der Bibel nach jetzt einmal sehr vermenschlicht weiter gesprochen nicht mehr aus. Sein „Name“ war zwar kaputt. Er schien mit seinem Gottesvolk total auf die Nase gefallen zu sein. Aber seinen Plan gab ER nicht auf. ER ist es, der seinen geschändeten Namen wieder zu Ehren bringen und eine „fundamentale Wende“ herbeiführen will. ER will ihn „heiligen“ wie es auch das auf Jesus selbst zurückgehende „Vater unser“ später ausdrücken wird. Wie aber macht er das? Er holt die Zerstreuten, die Armen und Kleinen Jahwes aus allen Ländern und Völkern zurück. Er führt sie zusammen, versammelt sie an seinem Tisch und feiert mit ihnen einen Neuanfang. (Ezechiel 36, 23f.) Oder pfingst­lich-neutestamentlich ausgedrückt: Der dreieine Gott kommt in einem unerwar­teten Abstieg als Liebeseinheit in diese Welt, welche die einzelnen Menschen, Gruppen und Völker allererst zu sich selbst bringt und dadurch in eine personal bestimmte Vielheit frei gibt. Diese Viel­gestaltigkeit ist nicht der Gegensatz zur Einheit, sondern wird in der Einheit der Liebe als gemeinsame Freiheit als Ich=Wir und Wir=Ich gleichsam anti-imperial erfah­ren.[6]

Es scheint, als sei die Wiederentdeckung der Konzilsgruppe der „Kirche der Armen“, deren Katakombenpakt sich unmittelbar nach dem Abschluss des 2. Vatika­nischen Konzills wundersamerweise zwischen­zeit­lich an die 10% der versammelten Bischöfe der katholischen Weltchristenheit an­schlossen, etwas, was sich unmittelbar in dieser Spur verstehen lässt. Noch unter dem Eindruck des in der Eröffnungsansprache von Konzils-Papst Johannes dem XXIII. ausgegebenen und nunmehr so reichlich verkörperten Mottos einer „Kirche der Armen“ übergab Papst Paul VI seine Tiara an die Armen und Bedürftigen. Seither sind viele der aus der Renaissance stammenden Symbole und Wegmarken eines weltabgekehrten, sich selbst genügenden und in sich abgeschlossenen Verständnisses von imperialer Kirchlichkeit - wie auch die Tiara - nie mehr wieder ernsthaft aufgetaucht. [7] Diese historische Spur darf man nicht ganz vergessen; auch wenn ansonsten in der Folgezeit zuweilen recht wenig prophetische Aktualisie­rungs­bereitschaft zu spüren ewesen ist und wenigstens in Deutschland sogar vielerorts ein markantes zu viel an Anpassungsbereitschaft, innere Emigration, ja eine gewisse Freudlosigkeit eingekehrt sind, sodass manche sogar glaubten, das missverständliche Programmwort von der „Ent­weltlich­ung“ dagegen mobilisieren zu müssen. Solange bis ein argentinischer Papst „vom Ende der Welt“ sich aufmachte, das innere zerrrissen-sein, die jeweiligen Gegenpole unintegriert lassende und darüber müde werdende kirchliche Dasein neu anzufachen.[8] Er stellte die ungeteilte, über Zwiespälte, Banalisierungen und Veraus­gabung hinaus führende Freude am bzw. im Evangelium allem anderen voran. Auf dieser Grundlage konnte er propagieren, eine verbeulte Kirche, die inmitten der Krise des gemeinschaftlichen Engagements nein zum sterilen Pessimismus sage, sich vielmehr der Wirklichkeit stelle und von daher nach draußen an die Ränder der Menschheit zu gehen habe, wo der Mensch ganz unheilig wie ein Konsumgut betrachtet werde, das man gebrauchen und auch wegwerfen kann, sei ihm wichtiger als eine sich selbst bewahrende, aber sich dabei nicht schmutzig machende Glaubensgemeinschaft.[9]

Und in wundersamer Ergänzung dazu ließ sich beinahe zur gleichen Zeit die Vollversamm­lung des Weltkirchenrates in Busan vernehmen: „Wir bekräftigen, dass Menschen in Situationen der Marginalisierung eine aktive Rolle in der Mission übernehmen und ihnen die prophetische Rolle zukommt, ein Leben in Fülle für alle zu fordern. Die Menschen am Rande der Gesellschaft sind die Hauptpartner in Gottes Mission (..) In unserer Verpflichtung auf Gottes Leben spendende Mission müssen wir auf die Stimmen der Menschen an den Rändern der Gesellschaft hören, um zu erfahren, was dem Leben dient und was es zerstört.“ [10] Weiters ist von den Rändern der Gesellschaft die Rede, die im Namen Gottes die Ökonomie der Habgier anprangern und die göttliche Ökonomie der Liebe, des Miteinanderteilens und der Gerechtigkeit praktizieren – und auf diesem Weg von Heiligkeit und menschendienlicher Diakonie persönliche Ernsthaftigkeit und inter-religiöse Beziehungen sicherstellen.[11] Der Schweizer Dekan i.R. Urs Eigenmann geht sogar noch einen Schritt weiter und zieht daraus Konsequenzen für die ganze Kirche: „Eine Kirche ist so weit Reich-Gottes-verträglich, wie sie aufgrund ihrer Option für die Erhaltung der Bedingungen der Möglichkeit von Leben die herrschenden Verhältnisse aus der Sicht von deren Opfer analysiert, sie im Licht des Reiches Gottes beurteilt, um sie Reich-Gottes-verträglich mitgestalten zu können.“[12]

Das nämlich versteht man in der biblischen Tradition neben manchem anderen, was aus der Religions­geschichte der Völker mitgeführt wird auch und vor allem unter der Tätigkeit des „Heiligens“: Israel, das neue Volk Gottes aus den Völkern, die Kirche und ihre Gemeinden heraus­rufen aus Kleinglauben und Anpassungsbereitschaft, sie aus der Zer­streuung und inneren Zerrissenheit sammeln, am Tisch zusammenführen, eins machen. Die Heiligen sind nicht primär moralische Hochseilakrobaten. Heilig wird man, weil ER uns über alle Grenzen und Unterschiede hinweg aufgelesen, zusammengeführt, unter seinem Wort ver­sammelt und neu ausgesendet hat, um den Verlorenen nachzugehen und sie wenn möglich zurückzuholen; aber eben auch den uneinholbar mächtig erscheinenden Herrschern über Völker, Energie­quellen und Gewohnheiten „fundamtentale Wenden Gottes“ anzusagen. Heilig sind wir, wenn wir sonntags zusammenkommen und uns vor und in IHM versammeln, um dann wieder hörbereit bis an die Ränder menschlicher Existenz gehen zu können mit aller Wucht seiner Botschaft im Gepäck.

Und gott­lob gibt es in dieser Versammlung auch Heiliggesprochene oder im Glaubenssinn des Volkes Gottes bereits als heilig verehrte Spitzenkönner in Sachen „der herrschaftsfreien neuen Welt Gottes“ (Walter Wink) wie einen Franz von Assisi, eine Hildegard von Bingen, Roger Schutz oder Helder Camara und die vielen Namenlosen, die waren wie sie. Sie sind ein Hoffnungsstrahl, dass wir, die von IHM Versammelten, den Namen unseres Gottes in einer auch heute wieder apokalyptisch zugespitzten Weltzeit doch noch bzw. doch wieder bekannt machen werden. Zugleich verehrt sie das katholische Glaubensverständnis nicht nur als bereits Vollendete, sondern sieht sie auch als Brückenbauer zu uns hin, auf dass aus „Allerheiligen“ immer mehr „Allerseelen“ werde.

Wege und Weite einstweilen möglich erscheinender Ausprägungen

In unserer Weltzeit gibt es für Bekenner, Märtyrer und (Volks-)Heilige, die in sich auf­ge­nommen haben, dass wer in Gott eintaucht, einstweilig lebenslustig bei all den mühsamen und be­ladenen Menschen seiner Gnade wieder auftaucht, in heutiger (Um-)Welt vieles mit der Spannkraft geläuterter Herzen zu berühren und durchlässig zu machen für den leisen Ruf nach Heiligkeit und der diakonischen Wiederherstellung/Bekräf­tigung der feinen Netzwerke des Lebens in allen ihren Schattierungen. Solange die Wirtschafts­ordnungen, in Verantwortung ste­henden politischen Institutionen und in diesem Kontext nahe­liegend erschei­nenden Hand­lungs­strate­gien im Auge des Hurrikans den globalen Konsumenten­­klassen einen imperialen Lebens­­stil nahelegen, der zuverlässig und sogar nachhaltig ein gutes Leben für alle ver­hin­dert, indem er den Alltag lediglich auf Kosten weniger Privilegierter, der Ökosphäre bzw. der Zukunft ordnet[13], wird es zu apokalyptisch aufgeladenen Situationen kommen. Der so dring­end er­sehnte und im Seufzen und Sterben der Schöpfung widerhallende Ruf nach sozial-öko­lo­gischer Transfor­mation muss insofern auf allen Ebenen der imperialen Lebens­weise an­setzen, weil diese weiterhin den bestimmenden Gruppen einen übermäßigen Zugriff auf Ar­beits­kraft, Energie­sklaven und Biosphäre ermöglicht und negative Folgen mit großer Selbst­­ver­ständ­­lichkeit in den globalen Süden auslagert und auf zukünftige Generationen verschiebt.

Richten wir uns also wirklich innerlich an Gottes Heiligkeit und an der dem einen oder anderen näherliegenden menschlichen Größe aller Heiligen auf! In den zugleich nach­denklich-geerdet erscheinenden und geradezu zärtlich durchdrungenen Worten von Papst Franziskus klingt das so: „Die Macht, die das Gegenüber nur als Objekt wahrnimmt, wird überwunden in einer Art Erlösung, die sich im Schönen und seiner Betrachtung vollzieht. Die echte Menschlichkeit, die zu einer neuen Synthese einlädt, scheint inmitten der technischen Zivilisation zu leben, gleichsam unmerklich wie ein Nebel, der unter der geschlossenen Tür hindurchdringt. Wird sie trotz allem eine fortwährende Verheißung sein, die wie ein zäher Widerstrand des Echten hervorsprießt?“[14] Ja, mir scheint, wir brauchen die von diesem Papst aufgerufene, „ganzheit­liche Ökologie“ genauso wie „ökologische Erziehung und Spiritualität“ - besonders gut brauchen können wir eine Neueinprägung des Vorzeichens vor der Klammer, vom „Evan­gelium von der Schöpfung“.[15]

Wenn unsere Erlösung und Heiligung als in den Zeiten der Müdigkeits­gesellschaft besonders krisen­geschüttelte Menschheit noch immer wirklich nahe ist, dann dürfen wir wieder neu und mit Freimut sprachfähig werden, aus dem gewohnten „kirchichen (Insider-)Kauderwelsch“ (Reinhard Körner OCarm) heraustreten und „randvoll von Gott“ (Paul Zulehner) ganz offen für die Menschen werden, um uns nach der Heiligkeit Gottes und aller Heiligen ausstrecken. Denn: Christen ist verheißen, dass ganz besonders im sich einlassen auf die Begegnung mit Jesus, dem „Heiligen Gottes“ das gewahr werden von unbedingter Achtung und Zentrierung auslösender Heiligkeit jederzeit neu widerfahren kann. Dies gilt es sprachmächtig in Erinn­erung zu halten; gerade jetzt in der dunklen Jahreszeit und der sich zuspitzenden Welt­zeit, die uns zuweilen den Mut und die Gelöstheit nehmen können. Entmutigung und Sterben vor der Zeit werden nicht das letzte Wort behalten. Diese über die Jahrhunderte seit Einführung des katholischen Allerheiligen-Festes als „kleines Ostern“ dem Vergessen abge­rungene (= tra­dier­te) Gewissheit zu wecken und unsere mögliche Anteilnahme im Geist Gottes daran (Paulus: „Ihr seid Heilige!“) erfühlen zu lassen, ist die vornehmste Aufgabe des Predigens.  

Was aber kann perspektivisch daraus folgen? Die Haltungen, einfach dankbar zu sein, zu sich selber zu kommen, Barmherzigkeit zu üben, staunend leben zu können, mögen unter diesen Eindrücken zunächst einmal zusammenfinden.[16] Dann wird sich unser Leben nicht mehr von unserem Beten trennen lassen und das mag so klingen: „Guter Gott, unsere Welt ist so schrecklich unheilig, so voll von Ohnmacht und Gewalt. Viele Menschen scheitern mit ihrem Leben, mit ihrer Liebe. Viele sterben vorzeitig oder werden umgebracht. Sind da nicht die Seligpreisungen deines Sohnes zynische Vertröstung der Menschen in Not, Schönrednerei, Beschwichtigung, Betrug? Du willst doch das Leben und nicht den Tod. In Jesus hast du gezeigt, dass deine Liebe sich hineintraut in die Abgründe unseres Todes, dass du an dem Gelingen unseres Lebens interessiert bist. Lass deine Hoffnung mit uns Menschen nicht scheitern! Lass unsere Hoffnung auf dich nicht scheitern! Lass uns schon jetzt inmitten aller Not und aller Hoffnung erfahren, was dein Sohn mit seinen Seligpreisungen meinte, wenig­stens etwas davon, damit wir nicht erliegen.“[17] Denn als Jesus die vielen Menschen sah, die gekommen waren, um ihm zuzuhören, überließ er sie nicht der inneren oder äußeren Dunkel­heit, sondern vermittelte sinnlich, körperlich und bis in das als anstößig Em­pfun­dene hinein berührbar etwas von das, was wir den von Ermüdungserscheinungen und viel­fältiger Zerrissenheit geplagten Zeitgenossen heute vielleicht am besten so weitersagen können:

„Wie froh können die sein, die zwar arm dran sind, aber Vertrauen zu Gott haben – denn sie haben das Gottesreich gefunden!

Wie froh könnt ihr sein, auch wenn jetzt Trauer in euch ist – denn ihr werdet Gottes Trost in euren Herzen erfahren. Wenn ihr jetzt auch weint – ihr werdet lachen.

Wie froh könnt ihr sein, dass ihr euch nicht der Gewalt verschrieben habt – denn ihr baut mit an der neuen Welt der Achtung und der Liebe.

Wie froh könnt ihr sein, auch wenn ihr jetzt hungert – ihr werdet satt werden; und dass ihr Hunger und Durst nach Gerechtigkeit in euch spürt – denn ihr werdet die Kraft bekommen, Gerechtigkeit zu schaffen.

Wie froh können die Barmherzigen sein – denn auch sie selbst werden Barmherzigkeit erfahren.

Wie froh könnt ihr sein, wenn ihr im Herzen aufrichtig und ehrlich seid – denn ihr werdet immer tiefer erkennen, wer Gott ist.

Wie froh können alle sein, die Frieden stiften – denn sie sind Töchter und Söhne Gottes.

Wie froh könnt ihr sein, selbst wenn ihr ausgelacht oder gar angefeindet werdet, weil ihr im Geist der Liebe lebt und handelt – denn ihr lebt das Reich Gottes.

Wie froh könnt ihr sein, auch wenn ihr beschimpft oder gar verfolgt werdet und auf alle mögliche Weise zu leiden habt, weil ihr meine Freunde seid. Dann freut euch und jubelt, denn ihr habt den Schatz des Lebens gefunden – für jetzt und für die Ewigkeit.“[18]

Lic. Theol. Peter Schönhöffer M.A. (Ingelheim)


[1] Ingrid Schneider, Claudine Villemot, Die Freiheit der anderen. Wo finden wir das Verbindende? In: evolve 10/2016, 38-41, hier: 40.

[2] Vgl. als bereits klassisch gewordenen philosophischen Bestseller dazu die Monografie des in Berlin lehrenden Philosophen Byung-Chul Han, Die Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 2010 sowie neuerdings den gleichnamigen Film von Isabella Gresser. Seine Hauptthese: Die im Übermaß allüberall propagierte „Positivität des Könnens“ schlage angesichts des massenhaften realen „nicht schaffens“ in „Infarkte“ um, die sich in Burn-out, Depressionen, Borderline und Aufmerksamkeits-Defizitit-Syndromen (ADHS) niederschlage.

[3] Vgl. Manfred Lütz, Lebenslust in unlustigen Zeiten, München 2010.

[4] So etwa Gisbert Greshake in seiner Gnadenlehre. Vgl. ders., Geschenkte Freiheit, Freiburg 1992, bes. 139.

[5] Kurt Marti, zitiert nach: Nachhaltig predigen, Band 6 für die Jahre 2010-2011 (Thema: Friedenssicherung) (=Reihe 3 / Lesejahr A) Mainz 2010, 68.

[6] Vgl. Herwig Büchele, Eine Welt oder keine. Sozialethische Grundfragen angesichts einer ausbleibenden Welt­ordnungspolitik, Innsbruck 1996, bes. 63.

[7] Vgl. Norbert Arntz, Der Katakombenpakt. Für eine dienende und arme Kirche, Kevelaer 2015 sowie die be­eindruckenden Revitalisierungsversuche und ihre Widerstände, die vom Institut für Theologie und Politik diesbezüglich 50 Jahre danach hervorgebracht worden sind.

[8] Vgl. erhellend dazu auf den Spuren von frühem Mönchtum, Meister Eckehardt und C.G. Jung: Anselm Grün, Zerrissenheit, Münsterschwarzach 1998.

[9] Vgl. Papst Franziskus, Evangelii gaudium, Vatikanstadt 2013, Nr. 50-53 und Nr. 84ff. sowie passim.

[10] ÖRK-Missionserklärung „Gemeinsam für das Leben. Mission und Evangelisation in sich wandelnden Kontexten“. Zitiert nach: Ökumenischer Rat der Kirchen, Referentexte zur 10. Vollversammlung, Genf 2013, 78.

[11] ebd. 79-85.

[12] Urs Eigenmann, Kirche in der Welt dieser Zeit, Zürich 2010, 260.

[13] Augen öffnend dazu: I.LA. Kollektiv, Auf Kosten anderer? München 2017.

[14] Papst Franziskus, Laudato si-Enzyklika, Vatikanstadt 2015, Nr. 112.

[15] ebd. Kapitel 4 und 6 sowie Kapitel 1. Vgl. dazu auch die bereits zitierte Missionserklärung des ÖRK Nr. 19.

[16] Vgl. in der Tat sprachmächtig und Mut machend dazu als ökumenische Antwort auf „Lautdato si“: Friedrich Schorlemmer, Unsere Erde ist zu retten. Haltungen, die wir jetzt brauchen. Freiburg 2016,

[17] Ferdinand Kerstiens, Wachsame Geduld – Zeit für Entscheidung, Luzern 2002, 272.

[18] Kompilation aus (Mt 5,3-12 u. Lk 6,20-23; Übertragung: Reinhard Körner OCD)