Altjahrsabend / Silvester (31.12.21)

Altjahrsabend / Silvester 2021

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. Evangelium
Mt 13, 24-30 1 Joh 2, 18-21
Hl. Silvester I: Ez 34, 11-16
Joh 1, 1-18
Hl. Silv.: Mt 16, 13-19

 

Die Autorin betrachtet zunĂ€chst eingehend das Gleichnis in Mt 13,24-30, das die heikle Frage berĂŒhrt, wie eine Gemeinschaft mit Menschen, aber auch Pflanzen und Tieren umgeht, die als schĂ€dlich oder nicht nĂŒtzlich betrachtet werden. Im Anschluss daran werden die Texte 1 Joh 2, 18-21 und Joh 1,1-18 kurz eingebunden.

Mt 13, 24-30

Einordnung des Textes

Das Gleichnis ist eingebettet in verschiedene Naturgleichnisse ĂŒber Saat, Ernte und Wachsen. Dabei nimmt der ErzĂ€hler auf, dass in Weizenfeldern Taumellolch mitwachsen kann. Dieser ist anfĂ€nglich schwer vom Weizen unterscheidbar. Er wĂ€chst gut mit Weizen oder auch Hafer oder Gerste auf. Falls bei der Pflanze ζÎčÎ¶ÎŹÎœÎčÎżÎœ  botanisch an Lolium temulentum L. gedacht ist, handelt es sich um eine psychoaktive Pflanze. Wird sie vor der Ernte nicht ausgerissen und mit dem Weizen zu Mehl vermahlen, kann dies zu KrĂ€mpfen, Sehstörungen, Taumeln, Verwirrtheit oder gar zum Tod fĂŒhren. Damit kann man auch auf die Art des „Feindes“ im Gleichnis schliessen: Er ist dem nĂŒtzlichen Weizen anfĂ€nglich tĂ€uschend Ă€hnlich, er ist ein „Fake-Weizen“. Er hat die Wirkung, zu verwirren, um den Verstand zu bringen, die Klarheit zu verlieren wie das auch sogenannte „Fake-News“ auch tun: Falsche Informationen, die aber mit einigem Richtigen so geschickt vermengt sind, dass sie fĂŒr bare MĂŒnze genommen werden können. Ein Beispiel: Eine Cyberkampagne versucht Leute dazu zu bewegen, zu verbreiten, dass die Covid-19-Impfung von Pfizer/Biontech Menschen sterben lasse [1]. Gerade um das Jahresende kann diese Thematik in Bezug auch auf Zukunftsprognosen in eine Predigt eingebettet werden.

Das Gleichnis gibt Einblick in ein HerrschaftsverhĂ€ltnis von Sklaven und Grundherr. In der Frage der Sklaven, dass sie doch gutes Saatgut gesĂ€t hĂ€tten, kann die Angst vor Strafe oder die KĂŒmmernis ĂŒber eine verdorbene Ernte und damit verbundenen Hunger mitschwingen. Der Grundbesitzer verweist scheinbar emotionslos auf den „Feind“. Die Sklaven sollen den Lolch nicht ausreissen, da sonst auch der Weizen mitausgerissen werden könnte. Beim Fruchtragen wird der Lolch hingegen vom Weizen gut unterscheidbar. Es geht also letztlich um die Frage, die bereits in Mt 7,20 („An ihren FrĂŒchten also werdet ihr sie erkennen“) angesprochen ist. Eine Gemeinschaft wird sich mit dem Qualifizieren, wie sie nachhaltig und umsichtig Lebensförderliches hervorbringt.

Auf der Bildebene nimmt der „Feind“, der diesen Saatfrevel begeht, eine bewusste SchĂ€digung der Gemeinschaft in Kauf. Er ist damit buchstĂ€blich diabolisch (griech. diĂĄbolos der Verleumder, Durcheinanderwerfer, Verwirrer), wie es dann in der Auslegung in Mt 13,36-43 betont wird. Dabei ist die historische Situation in den Blick zu nehmen: Es ist eine Zeit des Umbruchs; ein Ringen um den jĂŒdischen Weg ist im Gange. Es gibt eine Vielfalt jĂŒdischer und nicht-jĂŒdischer Bewegungen, die sich in einem Umfeld der römischen Macht aneinander reiben und voneinander herausgefordert sind, ihren Glauben zu klĂ€ren und auch die Frage zu stellen, wo man dazu gehört.

Aspekte der Nachhaltigkeit

1. Die Natur ist nicht gut oder böse

In der Evolution und Natur ist eine Unterscheidung zwischen Gut und Böse unsinnig. Die Definition einer Pflanze als Unkraut ist anthropozentrisch und ideologisch: In einem herausgeputzten Ziergarten gilt schnell mal eine Pflanze als unerwĂŒnscht, als „Un-Kraut“. Eine giftige Pflanze oder eine vermeintlich nutzlose Pflanze kann als Unkraut gelten. Das Wissen um die ökologische Bedeutung der UnkrĂ€uter ist jedoch noch zu wenig im Bewusstsein. Einige „UnkrĂ€uter“ sind zum Beispiel wichtige Bodendecker zur Verhinderung der Bodenerosion und der NĂ€hrstoffauswaschung. Im Rebbau kann man dieses Umdenken verfolgen. Der Boden zwischen und neben den Rebstöcken wurde vielerorts „rein“ gehalten von Pflanzenwuchs, was am Rebhang viel Arbeit verursachte, denn die heruntergeschwemmte Erde musste stets mĂŒhsam wieder hangaufwĂ€rts gefĂŒhrt werden. Heute sind in Rebbergen mancherorts kleine ökologische Paradiese entstanden, die Insekten und anderen Tieren zwischen den Reben Heimat geben.

Der Taumellolch ist in der Geschichte nicht ausschliesslich negativ konnotiert. Schon frĂŒh versuchte man Lolch in der Medizin zu nĂŒtzen wie etwa nach Plinius, Celsus oder Dioskurides zu entnehmen ist. In der TĂŒrkei und in Arabien wurde es bei Operationen als AnĂ€sthetikum benutzt. Heute kommt er auch in der Homöopathie zum Einsatz.[2] Samenfunde wurden in altĂ€gyptischen GrĂ€bern nachgewiesen. In Ägypten und in Mesopotamien wurde beim Bierbrauen bewusst Taumellolch zugefĂŒgt, um das Bier rauschhaft zu machen.[3]

In Zukunft werden uns jedoch exotische GewĂ€chse wie der Japanische Staudenknöterich, der Riesen-BĂ€renklau oder die Ambrosia beschĂ€ftigen. Sie wurden eingeschleppt, vermehren sich rasant und nachhaltig und bringen die Flora und Fauna Europas aus dem Gleichgewicht. Die gleichen Pflanzen stören jedoch an ihrem Ursprungsort das Gleichgewicht der Flora nicht. Dabei scheinen die im Zuge des Kolonialismus entstandenen botanischen GĂ€rten und Parks mit den exotischen GewĂ€chsen eine SchlĂŒsselrolle zu haben.[4] Einige Neophyten sind auch extrem gesundheitsschĂ€digend.

Wie beim Taumellolch können auch vom Menschen geschaffene Kulturlandschaften zu unerwĂŒnschter Verbreitung gewisser Pflanzen verhelfen. Der Taumellolch etwa ist aufgrund der kurzen Lebensdauer der Samen auf wiederkehrende Aussaat angewiesen.[5] Diese Sicht des Verwobenen und vom Menschen Geschaffenen spielt fĂŒr das VerstĂ€ndnis des Gleichnisses eine Rolle.

2. Soziale Aspekte

Die christliche Ketzergeschichte ist randvoll mit Verfolgungswellen, in denen Andersdenkende wie „Unkraut“ eliminiert wurden, um die Reinheit der Gemeinschaft nicht zu gefĂ€hrden. Das Gleichnis widerspricht dieser Haltung. Wo Menschen sich zu den „Reinen“ zĂ€hlen und aus dieser Haltung heraus sich zu Richter*innen erheben, werden „SĂ€uberungsaktionen“ plötzlich naheliegend. Im Ursprung dĂŒrfte bei Jesus dieses Gleichnis deshalb eine Warnung gewesen sein, auf diese destruktive Weise eine neue Gemeinschaft aufzubauen. Dabei ist auch Mt 5,45 mitzuhören: „Gott lĂ€sst seine Sonne aufgehen ĂŒber Bösen und Guten, und er lĂ€sst es regnen ĂŒber Gerechte und Ungerechte“. Das letztendliche Richten wird Gott ĂŒberlassen.

Dennoch muss ein Rechtsstaat natĂŒrlich Recht sprechen und seine BĂŒrger*innen schĂŒtzen. Eine eindrĂŒckliche Haltung dazu hat der NĂŒrnberger ChefanklĂ€ger Benjamin Ferencz gezeigt. Aus 3000 SS-Mitgliedern verurteilte er exemplarisch 22 gut ausgebildete Angeklagte, deren Schuld zweifelsfrei belegt war. Zu diesem exemplarischen Verurteilen gab er an: „Ich beschloss, dass es nicht um perfekte Gerechtigkeit gehen kann, sondern dass es um Rechtsstaatlichkeit gehen muss.“[6] Ferencz war sich bewusst, wie sehr die Schuldfrage verĂ€stelt ist, und dass eine durchgĂ€ngige Unterscheidung von Schuldigen und Unschuldigen unmöglich ist. Vielmehr ging es ihm darum, kĂŒnftigen Generationen eine Botschaft der Menschlichkeit mitzugeben, um damit eine Wiederholung eines solchen Mordens zu verhindern. Ferencz‘ Haltung, verknĂŒpft mit einer zukunftsweisenden Botschaft, die mehr Menschlichkeit pflanzen will, drĂŒckt meines Erachtens in der Frage der notwendigen Verurteilung der bösen Tat Augenmass auf und ist auf Nachhaltigkeit angelegt.

3. Nachhaltiges Kirchenprojekt: Lieben in Tat und Wahrheit

Aus dem Ausschnitt 1 Joh 2, 18-21 könnte man zunĂ€chst gerade eine solche strikte Scheidung zwischen Antichrist*innen (was Pseudochrist*innen meint) und Heiligen – Bösen und Guten – ableiten. Doch das ganze Schreiben ist sehr versöhnlich gehalten. Die Kinder Gottes zeigen sich dadurch, dass sie „Gerechtigkeit“ machen. Kinder, lasst uns nicht mit Wort und Zunge lieben, sondern in Tat und Wahrheit! (1 Joh 13,8) Zentral ist die Geschwisterliebe, das Bleiben in der Liebe. Es gibt keinen Aufruf, Leute aus der Gemeinde auszuschliessen und wie den Taumellolch auszureissen und zu verbrennen. Die Versöhnung gilt der ganzen Welt (4,14). Es sind auch keine Sanktionen angedroht fĂŒr jene, die sich nicht dem Bekenntnis anschliessen. Als besonders sticht das Bild vom Salböl des Gesalbten, des Messias, heraus (V. 20), das Wissen verleiht; wohl ist auch an Schutz und StĂ€rke gedacht. Diesem sinnlichen Bild vom Salböl ist alles GewalttĂ€tige und Ausmerzende fremd. Es ist vielmehr ein Geschenk fĂŒr jene, die es annehmen. Das Heil bringende Ereignis ist nicht etwas, das in der Zukunft liegt, sondern ist schon Fleisch in den Frauen und MĂ€nnern geworden, die in „Tat und Wahrheit“ lieben. Damit schafft er eine Verbindung zum Prolog des Johannesevangeliums (Joh 1,1-18): Die geistigen Ideale sind erst in „Tat und Wahrheit“ und nachhaltig, wenn sie Fleisch werden, wenn sie sich manifestieren in unserem konkreten Zusammenleben, in unseren Auseinandersetzungen und in unseren Projekten.

Sara Kocher, ZĂŒrich

 


[1] In: Neue ZĂŒrcher Zeitung NZZ, Ausgabe Sa, 29. Mai 2021, S. 20, „Gegen Pfizer/Bionteck lĂ€uft eine Cyberkampagne“

[3] https://nadjahorlacher.ch/wp-content/uploads/2016/11/Bier-selber-brauen. Die Autorin zeigt auch, wie andere rauschhafte KrĂ€uter wie Bilsenkraut dem Bier zugefĂŒhrt worden sind.

[4] Invasion der Pflanzen. Gefahr fĂŒr Umwelt und Mensch? Filmdokumentation, Ausstrahlung arte, 29.5.2021, Regie Ingo Thöne, Deutschland 2014, NDR

[5] Siehe dazu den spannenden Beitrag von P. Zwerger, Unkraut oder Wildkraut - Ein Diskussionsbeitrag zum Begriff und Wesen des Unkrauts, in: Nachrichtenblatt des Deutschen Pflanzenschutzdienstes, 47 (12), 1995, S. 321-325, ISSN 0027-7479. © Eugen Ulmer GmbH & Co., Stuttgart Biologische Bundesanstalt fĂŒr Land- und Forstwirtschaft, Institut fĂŒr Unkrautforschung, Braunschweig. https://ojs.openagrar.de/index.php/NachrichtenblattDPD/article/view/7984

Umgekehrt kann eine Art durch VerÀnderung im Kulturraum wieder verschwinden. Der Taumellolch steht heute auf der roten Liste der gefÀhrdeten Arten.