Invokavit / 1. Fastensonntag (01.03.20)

Invokavit / 1. Fastensonntag


ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
1. Mose 3,1-19(20-24) Gen 2, 7-9; 3,1-7 Röm 5, 12-19 Mt 4, 1-11

Jahresthema 2019/2020: â€žVulnerabilitĂ€t“ (Verwundbarkeit, Verletzlichkeit)

Stellung im Kirchenjahr

In der evangelischen Perikopenordnung ist der 1. MĂ€rz 2020 der Sonntag Invokavit, nach katholischer Ordnung der 1. Fastensonntag im Lesejahr A. Impulse im Blick auf Nachhaltigkeit (im Sinn des Jahresthemas „VulnerabilitĂ€t“) können aus allen der vor­gegebenen Tagestexten gezogen werden, allerdings eigenen sich nicht alle Periko­pen gleichermaßen.

Predigtimpulse

Gen 3,1-19.(20-24)

Die ErzĂ€hlung vom so genannten SĂŒndenfall aus dem biblischen Schöpfungsbericht bietet einige Ansatzpunkte fĂŒr das Jahresthema VulnerabilitĂ€t:

· Die Menschen im ‚Garten Eden‘ wissen, wer sie geschaffen hat und ihr Leben erhĂ€lt, wem sie gehören und wem sie darum zutiefst vertrauen können. Wis­sen ist aber immer verbunden mit der FĂ€higkeit zu denken, zu fragen, sich Al­ternativen vorzustellen zu dem, was ist.

· Diese FĂ€higkeit, die klassischerweise als Freiheit bezeichnet wird, macht den Menschen zugleich versuchbar, krĂ€nkbar, zerbrechlich (‚vulnerabel‘).

· Da diese (nichtmaterielle) Ausstattung nach biblischem Zeugnis Teil der Got­tebenbildlichkeit ist, muss die VulnerabilitÀt irgendwie in Gott selbst angelegt und verankert sein.

· Die tiefste Verletzlichkeit, die in Gott ankert und die er gleichsam mit den Men­schen teilt, ist seine Liebe. Je grĂ¶ĂŸer die Liebe, desto grĂ¶ĂŸer die Verletzlich­keit.

· Die Verletzlichkeit der Menschen, die gleichsam die RĂŒckseite ihrer Freiheit ist, hat viele Dimensionen, die sich unterschiedlich auswirken: physisch und psychisch, individuell und kollektiv, sozial, ökologisch, ethisch, wirtschaftlich, digital...

· Die Verletzlichkeit kennzeichnet nicht nur den Menschen, die ganze Schöp­fung hat teil an dieser umfassenden FragilitĂ€t. Die ökologische Krise, die sich heute insbesondere am drohenden Klimawandel zeigt, ist ein eindrucksvolles Beispiel dafĂŒr. Sie macht ĂŒberdies deutlich: Immer, wenn wir die nicht-menschliche Schöpfung verletzten, verletzen wir zugleich auch uns selbst – und ebenso den Schöpfer in seiner Liebe zur Schöpfung.

· Der SĂŒndenfall ist nicht in erster Linie ein moralisches Versagen (etwa durch eine GebotsĂŒbertretung), sondern ein fundamentaler Vertrauensverlust ge­genĂŒber dem Schöpfer („...Gott weiß, an dem Tag, da ihr davon esst, werdet ihr sein wie Gott“). Erst durch diese Entfremdung spĂŒren die Menschen, wie verletzlich sie sind. Die Erkenntnis der eigenen ‚Nacktheit‘ ist ein unmittelbar verstĂ€ndliches Bild fĂŒr die existenzielle Ungeborgenheit und BedĂŒrftigkeit, eben die tiefe, bedrohliche, existenzielle Verletzlic­hkeit.

· Die ErzĂ€hlung vom SĂŒndenfall beschreibt nicht den zeitlichen Anfang, sondern den existenziellen Ursprung jener vielfĂ€ltigen Verletzlichkeit, die Menschen zu allen Zeiten leidvoll erleben und erleiden. Die psychische Mechanik des ge­brochenen Vertrauens wird, einmal in Gang gesetzt, in jeder Generation und in jeder einzelnen Lebensgeschichte immer wieder neu ratifiziert. Das Bild von der ‚ErbsĂŒnde‘, die nicht nur individuell, sondern auch strukturell und kollektiv weitergegeben, gleichsam ‚vererbt‘ wird, hat hier seinen Ursprung. Es be­schreibt den ĂŒberindividuellen, strukturellen Aspekt menschlicher Verletzbar­keit – und Verletztheit.

Gen 2,7-9; 3,1-7

Die Impulse fĂŒr die Paradiesgeschichte oben (Gen 3,1-19.(20-24)) gelten hier in glei­cher Weise.

Röm 5,12-19

In dieser Perikope zeigt sich die soziale und kollektive Dimension menschlicher VulnerabilitÀt.

· Paulus bezieht sich ausdrĂŒcklich auf die ErzĂ€hlung vom so genannten SĂŒnden­fall und seine Folgen: der „SĂŒnde“, die durch „Adam“ (das heißt ĂŒbersetzt „der Mensch“) in die Welt kam und an der alle seine Nachkommen (also alle Men­schen) strukturell teilhaben – und die sie durch ihr persönliches Tun immer wie­der neu ratifizieren. Die Menschen sind also nicht nur verletzbar, sondern von Anfang an auch tatsĂ€chlich verletzt, und zwar alle.

· Die Verletzlichkeit und die daraus entstandene Verletztheit fĂŒhrt die Menschen an die Grenze ihrer eigenen KrĂ€fte und Möglichkeiten. Doch gerade diese Ă€u­ßerste existenzielle BedĂŒrftigkeit ruft die „Gnade Gottes“ auf den Plan; gerade aus der grĂ¶ĂŸtmöglichen „Schwachheit“ – und nur aus ihr! – entsteht jene „Kraft“ der Gnade, derer Paulus sich zu rĂŒhmen wagt.

Mt 4,1-11

· Die Versuchung Jesu durch den „Satan“ wird von allen Synoptikern ĂŒberliefert. Sie ist ein höchst eindrucksvolles Beispiel fĂŒr die Versuchbarkeit, die den Men­schen in vielfĂ€ltiger Hinsicht verfĂŒhrbar macht.

· Macht, Autarkie, Unverletzbarbeit, ja sogar Unsterblichkeit – alle menschlichen Phantasien von Allmacht und GrĂ¶ĂŸenwahn fĂŒhrt der Versucher Jesus vor Augen.

· Der Mensch neigt grundsĂ€tzlich dazu, das Maß, das ihm als Geschöpf gesetzt ist, zu verlieren. Entweder er ĂŒberschreitet es und sieht sich als omnipotenten Übermenschen – oder er unterschreitet es und bleibt hinter den FĂ€higkeiten und Möglichkeiten, die er tatsĂ€chlich hat, zurĂŒck.

· WĂ€re Jesus seinem Angebot erlegen, hĂ€tte er – ganz Mensch – denselben Preis bezahlt wie alle Menschen: sein Menschsein, seine radikale Bezogenheit auf Gott, letztlich seine Liebe hĂ€tte er aufgegeben.

· In der Versuchungsgeschichte stellen die Evangelisten Jesus bereits am Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit als den ‚neuen Adam‘ vor: Er – und nur er – unterbricht den Zusammenhang (‚Teufelskreis‘) aus Verletzlichkeit, Verletztsein und Verletzen, den der ‚alte Adam‘ durch sein Misstrauen gegen die GĂŒte des Schöpfers in die Welt gebracht hat und an dem seither alle Menschen zu leiden haben.

Elisabeth Schmitter, Rottenburg