Invokavit / 1. Fastensonntag (05.03.17)

Invokavit / 1. Fastensonntag [III/A]

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
1 Mose 3, 1-19 (20-24) Gen 2, 7-9.3, 1-7 Röm 5, 12-19 Mt 4, 1-11

Genesis 3 / Römer 5

Genesis 3 ist Urgeschichte, entstanden aus den Sagen und Mythen der Völker, die seit uralter Zeit Mensch und Welt zu verstehen suchen. Diese Ur-ErzĂ€hlung endet nicht mit der „Moral von der Geschicht“, sondern bleibt offen. Um Moral geht es gar nicht, sondern um die Frage von Schuld und Erkenntnis, Verantwortung und Dialog in der Beziehung von Mann und Frau, in ihrem VerhĂ€ltnis zu Gott und seiner guten Schöpfung! Urgeschichte beschreibt, wie das Leben ist, versucht, ihm auf den Grund zu gehen und, in diesem Fall zu deuten, was als unverstĂ€ndlich durch alle Zeiten bleibt. Warum kann der Mensch nicht sein wie Gott? Wie kommt das Böse in die Welt oder in die Menschenherzen? Und warum mĂŒssen wir sterben? Warum aber dĂŒrfen wir trotz allem leben? Die Fragen aus Genesis 3 reflektiert Paulus in Römer 5 unter der Erkenntnis des Christusgeschehens, auf dem Hintergrund jĂŒdisch-griechischer Theologie, Kultur und Philosophie.

Der allen gelĂ€ufige Begriff SĂŒndenfall suggeriert eine historisierende Perspektive auf die GenesiserzĂ€hlung. Es wird Zeit, sich davon zu verabschieden. Nicht: erst die Schöpfung, dann der SĂŒndenfall, dann der Brudermord, dann die Sintflut, dann der Turmbau zu Babel, sondern die Kapitel 1-11 stellen die Welt und das Leben des Menschen aus jeweils unterschiedlicher Perspektive dar, natĂŒrlich in der literarischen Form einer ErzĂ€hlung. Gottes freundliches und bewahrendes, allen zugewandtes Wirken steht im Zentrum, trotz allem und fĂŒr alle. Es zielt auf alle Menschen und die ganze Schöpfung. Kreationistische Irrlehren vergewaltigen die Gedanken der Freiheit und die Schönheit dieser Texte, sie sind schlicht und einfach dumm.

Aus heutiger Sicht, gut feministisch geschult, verstehe ich das beschriebene Mann-Frau VerhÀltnis nicht moralisch und zunÀchst nicht gesellschaftspolitisch oder gar kirchenpolitisch. Das ist vom Text her eigentlich völlig klar, muss aber leider immer wieder betont werden.
Es ist eben der jahrtausendealten Kultur geschuldet, in deren Kontext die Genesis entstanden ist, dass der Mann ĂŒber die Frau herrschen wird. In anderen Kulturen ist es auch anders. Aber die biologische, kulturhistorische und auch soziologische Entwicklung ist hier nicht Thema. Nur als Anmerkung: Die Auferstehungsbotschaft setzt gegen diese Perspektive deutlich die Einheit aller in Christus.
Die Gleichheit der Geschlechter tritt als Wesensmerkmal in der Schöpfungsgeschichte in den Fokus und wird erst durch die folgende ErzĂ€hlung vom Garten Eden, als Konsequenz des Bruchs mit Gottes Wort, aufgehoben. Die forcierte Ungleichheit der Geschlechter ist Folge der SĂŒnde! Das macht Mut, gerade auch theologisch weiterhin fĂŒr jene ur-sprĂŒngliche Gleichheit zwischen Mann und Frau einzutreten, wann und wo immer das notwendig wird.
Die Schlange wird seit Jahrhunderten mit sexuellen GelĂŒsten in Verbindung gebracht. Das ist zwar nicht originell, hĂ€lt sich aber hartnĂ€ckig. Doch der Dialog zwischen der Schlange und der Frau zeigt vielmehr eine unzulĂ€ssige, pauschale Vereinfachung und eben die Suggestion seitens der Schlange. Im Blick auf die Freiheit von Menschen, untereinander und im VerhĂ€ltnis zu Gott, stellt die Frage: „Sollte Gott gesagt haben?“ den Inbegriff der HinterhĂ€ltigkeit dar, Zweifel durch Vereinfachung und Falschaussage zu sĂ€en. Wir kennen das aus aktuellen Debatten nur allzu gut: „Man wird doch nochmal fragen, das wird man doch wohl noch sagen dĂŒrfen
!“

„Wo bist du?“ Die zentrale Frage dieses Textes hat literarisch und kulturell, philosophisch wie theologisch zu unzĂ€hlig vielen Gedanken, Darstellungen, Polemiken, oder gar zu Satire gefĂŒhrt.
Sie ist eine existentielle Kernfrage im VerhĂ€ltnis Mensch-Mensch und Gott-Mensch. Es geht nicht zuerst um die ethische Dimension, gerade in dieser Frage angesichts der langen Auslegungsgeschichte um die verbotene Frucht und das jeweilige Verhalten von Mann und Frau. Sie sehen: „Wir sind nackt“, sie verstecken sich, sie fĂŒrchten, entdeckt  zu werden, sie reichen die eigene ZustĂ€ndigkeit weiter, in dem Augenblick, wo sie sich fĂŒr ihr Fehlhandeln verantworten mĂŒssen– uralte Verhaltensmuster! Das alles ist menschheitsgeschichtlich und kulturhistorisch von großem Gewicht. Genesis 3 ist in sich eine der nachhaltigsten ErzĂ€hlungen der Bibel, in ihren Folgen eben auch und gerade in ethischer Hinsicht.

„Wo bist du?“ NatĂŒrlich fallen einem sofort Hunderte AnlĂ€sse ein, mit dieser Frage Menschen an ihre Verantwortung zu erinnern (ein paar Beispiele weiter unten), oft eher die anderen als uns selbst . Aber zunĂ€chst bleibt es eine existentielle Frage an uns alle, Individuen und Gemeinschaften. Wir sind als Menschen ansprechbar. Mit Geist und Wissen ausgestattet, mit Erinnerungen und ZukunftsplĂ€nen, mit GefĂŒhlen und Begabungen, auf alles sind wir ansprechbar, in millionenfacher Weise. In dieser Frage Gottes an den Menschen leuchtet m.E. die Gottebenbildlichkeit des Menschen noch einmal auf. Darum ist sie so wichtig. Es ist hinzuzufĂŒgen: Wir sind alle ansprechbar, so unterschiedlich unsere Herkunft auch sein mag. In den unzĂ€hligen positiven FlĂŒchtlingsgeschichten, die wir seit 2015 bis heute (Juni 2016) kennengelernt haben, wird etwas davon sichtbar. „Wo bist du?“ lassen sich eben auch viele GeflĂŒchtete fragen. Schon weil sie nicht allein bleiben wollen, aber auch, weil sie als Menschen anerkannt werden möchten.

„Wo bist du?“ hat auch die andere Seite: Gott spricht uns an, noch einmal: als Individuen und als Gemeinschaft. Wir sind nicht gottlos, nirgends. Die Urgeschichte lĂ€sst außerhalb aller Religionen und Weltanschauung durchblicken, dass niemand ohne Gott ist. Er fragt uns alle. Er sucht uns alle. Er blickt neugierig auf das Leben der Menschen, aller Menschen. Die sich schĂ€men, können hervortreten, die nichts haben, dĂŒrfen reden, die alles falsch gemacht haben, werden angesprochen, nicht: „Was hast du getan?“ steht als erstes an, sondern: Wo bist du?!   

Die Nacktheit steht im Raum. Sie wird sozusagen im Nachhinein als ein Zeichen der Offenheit im VerhĂ€ltnis Gottes zu den Menschen aufgedeckt. Der Unterschied zu allen anderen Geschöpfen liegt darin, dass die Menschen ihre Nacktheit verhĂŒllen. Die Scham, unerklĂ€rlich zuweilen, wird so begrĂŒndet, nicht moralisch, sondern existentiell. Scham ist weit ĂŒber die körperliche Nacktheit hinaus tief in unserer Seele verankert. Tiefenpsychologie hin oder her – Scham ist ein Kontinuum und inwieweit wir europĂ€isch, christlich-abendlĂ€ndisch oder eben kirchlich eine verheerende Entwicklung im VerhĂ€ltnis zu Nacktheit und Offenheit hinter uns haben:  Scham ist eine menschliche Konstante und weder als Gut noch als Böse zu bewerten. Manchmal hilft diese Erkenntnis, aus unseren festgefahrenen Verhaltensmustern herauszutreten.

Gott macht den Menschen Kleider. Ihre Nacktheit wird verhĂŒllt, der Scham etwas entgegen gesetzt. Es ist eine zĂ€rtliche Geste, umsorgend und zugewandt, mitten im Konflikt schon wieder schöpferisch. So verbindet sich die SchöpfungserzĂ€hlung mit dieser vom „Fall“ des Menschen. Gott bleibt der fĂŒrsorgliche Schöpfer in nahezu allen ErzĂ€hlungen der Genesis.

In diesem Rahmen spricht die ErzĂ€hlung die natĂŒrlichen und schmerzhaften Prozesse von Geburt und Tod an, von Arbeit und der Entfremdung von Arbeit, von den unerklĂ€rlichen Prozessen des lebenspendenden Ackers und der unfruchtbaren Erde. Die Paradigma vom Garten, in dem alle alles im Überfluss haben und der mĂŒhseligen Feldarbeit leuchten auf, und wer mag, kann dahinter auch ein Spiegelbild alter sozialer und kultureller Unterschiede entdecken. Der Garten aber wird fĂŒr den Menschen auf immer verschlossen. So wird neben der Scham auch die Sehnsucht nach Ganzheit und Unversehrtheit und ein Leben ohne MĂŒhe angedeutet. Die Frage nach dem VerhĂ€ltnis Gott-Mensch bleibt offen, die Geschichte geht weiter.

Diese wenigen Bemerkungen sollen ergÀnzt sein durch ein paar Fragen der Gegenwart, auch sie nur kurze Ausschnitte.

Die geneigte Leserschaft möge verzeihen. Aktuell steht die Frage nach dem Brexit im Raum, dem Austritt der Briten aus der EU. Er wird uns noch mindestens zwei Jahre beschÀftigen, wahrscheinlich wesentlich lÀnger.
Interessant dabei war der oft beschworene Morgen danach. Durch alle seriösen Zeitungen hindurch wurde die Frage laut: „Was haben wir da getan?“ Es wurde klar: Die wichtige Zukunftsfrage war eine zwischen den Generationen. Die jungen Leute wurden, oft von ihren Altersgleichen, tatsĂ€chlich gefragt: „Wo wart ihr an den Urnen?“ Fast drei Viertel der jungen Leute waren gegen einen Ausstieg ihres Landes aus der EU, gewĂ€hlt haben zu viele nicht, weil sie nicht fĂŒr möglich gehalten haben, dass es so kommen könnte. Im Nachhinein ist man immer schlauer. Aber schon am Tag danach formierte sich eine grĂ¶ĂŸere Bewegung vor allen der jungen Leute und verbreitete im Netz das Motto: "F... you Brexit!"
Niemand kann heute sagen, wie alles weitergeht. Doch die unverantwortliche nationalistische und rassistische, demokratie- und menschenfeindliche Bewegung in England hat ihre Entsprechungen auf dem Kontinent. Sie haben sich die Strategie der Schlange zu eigen gemacht: Vereinfachungen, gepaart mit Falschaussagen oder leichten, aber entscheidenden AbĂ€nderungen des Gesagten. Es war in den 20-er und 30-er Jahren die Strategie der Nazis und es ist die Strategie von AfD, dem Front National oder wie sie alle heißen. Erst das Klima vergiften, dann alles auf die anderen schieben.

Genauso aber wird die Frage an die EU laut: Wo bist du und wo warst du – fĂŒr die kleinen Leute, die ihre Sozialleistungen gekĂŒrzt sahen, obwohl es keine Arbeit gab und gibt, die zum Leben reicht. „Wo bist du?“ bleibt eine Frage an die Menschen in den Institutionen, die sich der Verantwortung zu stellen haben. Ja, die soziale Frage eines geeinten Europas ist eine Frage nach Nachhaltigkeit und sie bleibt eine der dringendsten. Bislang haben die FinanzmĂ€rkte und die Konzerne die Arbeit der europĂ€ischen Institutionen bestimmt. Es ist nun deutlich genug geworden, welchen Scherbenhaufen sie angerichtet haben. „Wo bist du?“ ist hier auch die Frage nach den Visionen von Menschen, die einen großen Lebens- und Wirtschaftsraum zu gestalten haben. Nur wenn Gerechtigkeit wieder hergestellt wird, kann unser gemeinsames Leben sich entfalten und schön werden, schön im Sinne der Schöpfung Gottes.

Auch im Rahmen der schon erwĂ€hnten FlĂŒchtlingsarbeit ist das „Wo bist du?“ eine durchgehende Frage der einen an die anderen und umgekehrt. Wir sind ja gewohnt, von FlĂŒchtlingskrise zu reden. Aus Sicht vieler Kirchengemeinden ist das blanker Unsinn. FlĂŒchtlinge haben uns viel abverlangt, aber sie haben auch viel verĂ€ndert. Wo Menschen in den Gemeinden sich angesprochen wussten und sich nicht wegduckten bei der Frage: „Wo bist du?“ haben sie unendlich viel gewonnen, neben dem, was sie fĂŒr andere getan haben.
Ja, die Krise ist da und es gibt nichts schön zu reden. NatĂŒrlich werden wir nicht unbegrenzt Menschen aufnehmen können. NatĂŒrlich gibt es Spannungen, UnverstĂ€ndnis und ja, auch mancherorts gewaltbereite junge MĂ€nner. Nichts davon ist auf Dauer hinnehmbar. Doch was davon hĂ€lt einer echten ÜberprĂŒfung stand und in wie vielen FĂ€llen unterliegen wir VerdĂ€chtigungen, verfĂ€lschten Aussagen und suggestiver Propaganda. Die Schlange ist listig wie immer.
Wo sind wir heute, wenn es um Menschen geht, die vor allem deswegen Schutz suchen, weil das Verhalten und das Wirtschaften unserer Staaten in Europa Kriege und Gewalt in unertrĂ€glicher Weise in den LĂ€ndern des Nahen und Mittleren Ostens hervorgebracht haben? Wo sind wir, wenn GeflĂŒchtete zu uns kommen und mit uns leben wollen? Wo sind wir, wenn es darum geht, fĂŒr den Frieden zwischen den zukĂŒnftigen Generationen Verantwortung zu ĂŒbernehmen? Gott der Herr machte den Menschen Kleider aus Tierfellen. Hier liegt die Ur-handlung fĂŒr alles Weitere: Schutz geben denen, die nichts (mehr) haben, auch und gerade wegen der gemachten Fehler!

Mit welcher Einstellung, besser: mit wie viel Barmherzigkeit bezeugen wir diese zugewandte und liebevolle Haltung unseres Gottes im eigenen Leben?

Martin Domke, Herne