Invokavit / 1. Fastensonntag
ev. Predigttext | kath. 1. Lesung | kath. 2. Lesung | kath. Evangelium |
2 Kor 6,1-10 | Dtn 26, 4-10 | Röm 10, 8-13 | Lk 4, 1-13 |
2. Korinther 6
(Ich empfehle die Neue Genfer Übersetzung zu lesen)
Die Kirche ist an einem Tiefpunkt angelangt. Das war die Quintessenz des Rücktrittsgesuchs von Kardinal Marx im vergangenen Jahr. Egal wie, eine solche Analyse scheint vernichtend, sie ist die faktische Anerkennung, dass in der Kirche etwas grundfaul ist. Dabei geht es schon lange nicht mehr um „die eine“ Konfession.
Es geht eigentlich um die Sichtweise, dass am Tiefpunkt der Blick nach vorne gerichtet wird, nicht ohne die bittere Erkenntnis, dass die Gedankengebäude, die (zumindest in beiden großen Kirchen) noch immer und immer mehr von einer derartigen Realitätsferne und Absurdität gekennzeichnet sind, die nun wirklich nicht mehr schwer zu durchschauen sind. Die kirchenleitenden Behörden und der oft überhebliche Habitus von leitenden Geistlichen jeder Couleur haben daran ihren entsprechenden Anteil.
Die Zeit der „klassischen“ kirchlichen Arbeit und der gesellschaftlichen Bedeutung dieser Institutionen ist in Europa schon länger (von Polen und Ungarn einmal abgesehen) vorbei, zugeben will es natürlich niemand. Welche Rolle soll man auch von einer Institution noch erwarten, die sich beharrlich weigert, die Rechte der Frauen in ihren eigenen Reihen durchzusetzen und Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung munter weiter diskriminieren zu müssen meint?
Nun ist Kirchenbashing das eine, die Alternativen zu suchen und zu gehen das andere, vom logischen Schritt des Austritts mal abgesehen. Die Fastenzeit, die der Sonntag Invokavit markiert, ist der Beginn einer jährlich wiederkehrenden Übung frommer und auch nicht so frommer Menschen, neue Wege gemeinsame zu suchen und zu beschreiten. Dahinter steckt fast immer der Wunsch, das Leben ehrlicher zu machen. Vielfältig und mit hohem Einsatz, vor allem äußerst kreativ brechen unterschiedliche Menschen jeglicher Herkunft auf zu neuen Ufern. Von den Anfängen des „7 Wochen ohne“ bis hin zum Klimafasten können wir heute sehen, wie bunt unsere Gesellschaften sind, wie sich zukunftsorientierte Menschen Gedanken machen und in die Pflicht nehmen lassen, aus eigenen, freien Stücken wohlgemerkt.
Wenn wir den Abschnitt aus 2. Korinther 6 nicht nur als persönliche Darstellung des Paulus sehen, sondern darin eine Art Modell des Lebens unter schwierigsten Umständen und vielfältigen Erfahrungen von Unrecht, dann werden wir nicht umhinkönnen, die jeweiligen Attribute: „Bis ans Äußerste erschöpft, in existentielle Not geraten, geschlagen, geschmäht und als Betrüger angesehen“, eben diese und noch viel mehr Attribute auf gegenwärtiges Geschehen zu münzen: Von dem Unrecht, dass Menschen in der Opposition in Russland durchzustehen haben bis hin zur geschlagenen afrikanischen Frau, die für sich und ihre Kinder ums Überleben kämpft – „als die Sterbenden und siehe wir leben“. Die häusliche Gewalt, durch die so viele Frauen und Kinder (und wenige Männer) in der Pandemie gezeichnet wurden, wird uns noch auf Jahre beschäftigen. Von der unsäglichen Not ausgebeuteter Kinder in der Kakao- oder Textilindustrie, die für unsere Lebensmittel und Kleidung bzw. die Handels-Konzerne ihr Leben lassen, oft unbeachtet und doch nicht gebrochen. Wie viel Freundlichkeit und Respekt hat man mir in den Gegenden der Welt entgegengebracht, die wirklich ums Überleben kämpfen, Tag für Tag. Immer sind das Lehrstunden in dem und für das, was wirklich zählt.
Ob es jene Kraft des Glaubens und der Liebe ist, die so viele dieser Menschen trotz allem weitermachen und einfach – menschlich – sein lässt, ist ja längst nicht immer ausgemacht. Aber dass sie in derart großer Not und Bedrängnis ihrem Leben eine Chance geben, ist nicht nur für uns so etwas wie ein Zeichen, dass Gott seine Menschen nach wie vor zu Gerechtigkeit und Einhaltung des Rechts ruft, weil die Liebe bleibt. Es ist daher eine der vornehmsten Aufgaben der weltweiten Kirche, Menschen an allen Orten zu stärken, zu trösten(!) und zu ermutigen, auch zum Kampf für die Gerechtigkeit.
Der Beginn des 6. Kapitels des zweiten Korintherbriefs ist ein Lehrstück, über den Theologen sich streiten mögen, aber der apodiktische Beginn: „Seht zu, dass Ihr Gottes Gnade nicht vergeblich bekommt“ darf nicht als ein Theologumenon für sich stehen. Das darauffolgende Jesaja-Zitat: „Siehe, jetzt ist der Tag des Heils, jetzt ist die Zeit der Gnade führt so etwas wie den Cantus Firmus des Glaubens an.
Dabei ist es ja wirklich kaum zu vermitteln, dass wir „jetzt in der Zeit der Gnade leben“. Das Gegenteil erfahren wir nahezu täglich und die Pandemie hat uns dramatisch die Grenzen vor Augen geführt, die unserem Leben und unserer ganzen Lebensweise gesetzt sind. Die Klimakrise ist in ihren Auswirkungen noch nicht ansatzweise erkannt, die nur allzu berechtigten Forderungen der jungen Generation an die ältere deuten unüberhörbar auf einen nachhaltigen Konflikt, aber eher nicht auf die „Zeit der Gnade“ hin.
Und doch ist das fast schon schlichte Festhalten des Paulus an diesem Cantus Firmus des Lebens genau jene subversive Form einer Hoffnung, die sich praktisch durch alle biblischen Zeugnisse zieht und sich einfach nicht irre machen lässt. Wir haben aufgrund des Todes und der Auferstehung des Einen den offenen Himmel über uns, damit wir mit allen anderen gemeinsam nach Wegen suchen, die auf Erden, und oft ganz unten, Neues eröffnen. Mehr gemeinsames Leben, mehr Verantwortung, mehr Respekt und mehr Neugier auf Wahrheit und Wissenschaft. Das Alles führt unweigerlich in den Kampf gegen alle, die nicht loslassen können, in Kirche und Gesellschaft und vor allem in großen Teilen der globalen Wirtschaft. Ein „Weiter so“ wird es nicht mehr geben.
Aber es bleibt aus unserer Perspektive ein Kampf, über dem jenes Motto des Kirchentages 1975 steht, der damals schon weitsichtig in den Diskussionen um wirtschaftliche Gerechtigkeit ermutigte: „In Ängsten – und siehe wir leben“. Es ist schon so viel gewonnen, wenn Menschen wieder Mut schöpfen und Hoffnung gewinnen.
Martin Domke, Herne