Invokavit / 1. Fastensonntag (06.03.22)

Invokavit / 1. Fastensonntag

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
2 Kor 6,1-10 Dtn 26, 4-10 Röm 10, 8-13 Lk 4, 1-13


2. Korinther 6

(Ich empfehle die Neue Genfer Übersetzung zu lesen)

Die Kirche ist an einem Tiefpunkt angelangt. Das war die Quintessenz des RĂŒcktrittsgesuchs von Kardinal Marx im vergangenen Jahr. Egal wie, eine solche Analyse scheint vernichtend, sie ist die faktische Anerkennung, dass in der Kirche etwas grundfaul ist. Dabei geht es schon lange nicht mehr um „die eine“ Konfession.
Es geht eigentlich um die Sichtweise, dass am Tiefpunkt der Blick nach vorne gerichtet wird, nicht ohne die bittere Erkenntnis, dass die GedankengebĂ€ude, die (zumindest in beiden großen Kirchen) noch immer und immer mehr von einer derartigen RealitĂ€tsferne und AbsurditĂ€t gekennzeichnet sind, die nun wirklich nicht mehr schwer zu durchschauen sind. Die kirchenleitenden Behörden und der oft ĂŒberhebliche Habitus von leitenden Geistlichen jeder Couleur haben daran ihren entsprechenden Anteil.
Die Zeit der „klassischen“ kirchlichen Arbeit und der gesellschaftlichen Bedeutung dieser Institutionen ist in Europa schon lĂ€nger (von Polen und Ungarn einmal abgesehen) vorbei, zugeben will es natĂŒrlich niemand. Welche Rolle soll man auch von einer Institution noch erwarten, die sich beharrlich weigert, die Rechte der Frauen in ihren eigenen Reihen durchzusetzen und Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung munter weiter diskriminieren zu mĂŒssen meint?

Nun ist Kirchenbashing das eine, die Alternativen zu suchen und zu gehen das andere, vom logischen Schritt des Austritts mal abgesehen. Die Fastenzeit, die der Sonntag Invokavit markiert, ist der Beginn einer jĂ€hrlich wiederkehrenden Übung frommer und auch nicht so frommer Menschen, neue Wege gemeinsame zu suchen und zu beschreiten. Dahinter steckt fast immer der Wunsch, das Leben ehrlicher zu machen. VielfĂ€ltig und mit hohem Einsatz, vor allem Ă€ußerst kreativ brechen unterschiedliche Menschen jeglicher Herkunft auf zu neuen Ufern. Von den AnfĂ€ngen des „7 Wochen ohne“ bis hin zum Klimafasten können wir heute sehen, wie bunt unsere Gesellschaften sind, wie sich zukunftsorientierte Menschen Gedanken machen und in die Pflicht nehmen lassen, aus eigenen, freien StĂŒcken wohlgemerkt.

Wenn wir den Abschnitt aus 2. Korinther 6 nicht nur als persönliche Darstellung des Paulus sehen, sondern darin eine Art Modell des Lebens unter schwierigsten UmstĂ€nden und vielfĂ€ltigen Erfahrungen von Unrecht, dann werden wir nicht umhinkönnen, die jeweiligen Attribute: „Bis ans Äußerste erschöpft, in existentielle Not geraten, geschlagen, geschmĂ€ht und als BetrĂŒger angesehen“, eben diese und noch viel mehr Attribute auf gegenwĂ€rtiges Geschehen zu mĂŒnzen: Von dem Unrecht, dass Menschen in der Opposition in Russland durchzustehen haben bis hin zur geschlagenen afrikanischen Frau, die fĂŒr sich und ihre Kinder ums Überleben kĂ€mpft – „als die Sterbenden und siehe wir leben“. Die hĂ€usliche Gewalt, durch die so viele Frauen und Kinder (und wenige MĂ€nner) in der Pandemie gezeichnet wurden, wird uns noch auf Jahre beschĂ€ftigen. Von der unsĂ€glichen Not ausgebeuteter Kinder in der Kakao- oder Textilindustrie, die fĂŒr unsere Lebensmittel und Kleidung bzw. die Handels-Konzerne ihr Leben lassen, oft unbeachtet und doch nicht gebrochen. Wie viel Freundlichkeit und Respekt hat man mir in den Gegenden der Welt entgegengebracht, die wirklich ums Überleben kĂ€mpfen, Tag fĂŒr Tag. Immer sind das Lehrstunden in dem und fĂŒr das, was wirklich zĂ€hlt.

Ob es jene Kraft des Glaubens und der Liebe ist, die so viele dieser Menschen trotz allem weitermachen und einfach – menschlich – sein lĂ€sst, ist ja lĂ€ngst nicht immer ausgemacht. Aber dass sie in derart großer Not und BedrĂ€ngnis ihrem Leben eine Chance geben, ist nicht nur fĂŒr uns so etwas wie ein Zeichen, dass Gott seine Menschen nach wie vor zu Gerechtigkeit und Einhaltung des Rechts ruft, weil die Liebe bleibt. Es ist daher eine der vornehmsten Aufgaben der weltweiten Kirche, Menschen an allen Orten zu stĂ€rken, zu trösten(!) und zu ermutigen, auch zum Kampf fĂŒr die Gerechtigkeit.

Der Beginn des 6. Kapitels des zweiten Korintherbriefs ist ein LehrstĂŒck, ĂŒber den Theologen sich streiten mögen, aber der apodiktische Beginn: „Seht zu, dass Ihr Gottes Gnade nicht vergeblich bekommt“ darf nicht als ein Theologumenon fĂŒr sich stehen. Das darauffolgende Jesaja-Zitat: „Siehe, jetzt ist der Tag des Heils, jetzt ist die Zeit der Gnade fĂŒhrt so etwas wie den Cantus Firmus des Glaubens an.

Dabei ist es ja wirklich kaum zu vermitteln, dass wir „jetzt in der Zeit der Gnade leben“. Das Gegenteil erfahren wir nahezu tĂ€glich und die Pandemie hat uns dramatisch die Grenzen vor Augen gefĂŒhrt, die unserem Leben und unserer ganzen Lebensweise gesetzt sind. Die Klimakrise ist in ihren Auswirkungen noch nicht ansatzweise erkannt, die nur allzu berechtigten Forderungen der jungen Generation an die Ă€ltere deuten unĂŒberhörbar auf einen nachhaltigen Konflikt, aber eher nicht auf die „Zeit der Gnade“ hin.

Und doch ist das fast schon schlichte Festhalten des Paulus an diesem Cantus Firmus des Lebens genau jene subversive Form einer Hoffnung, die sich praktisch durch alle biblischen Zeugnisse zieht und sich einfach nicht irre machen lĂ€sst. Wir haben aufgrund des Todes und der Auferstehung des Einen den offenen Himmel ĂŒber uns, damit wir mit allen anderen gemeinsam nach Wegen suchen, die auf Erden, und oft ganz unten, Neues eröffnen. Mehr gemeinsames Leben, mehr Verantwortung, mehr Respekt und mehr Neugier auf Wahrheit und Wissenschaft. Das Alles fĂŒhrt unweigerlich in den Kampf gegen alle, die nicht loslassen können, in Kirche und Gesellschaft und vor allem in großen Teilen der globalen Wirtschaft. Ein „Weiter so“ wird es nicht mehr geben.

Aber es bleibt aus unserer Perspektive ein Kampf, ĂŒber dem jenes Motto des Kirchentages 1975 steht, der damals schon weitsichtig in den Diskussionen um wirtschaftliche Gerechtigkeit ermutigte: „In Ängsten – und siehe wir leben“. Es ist schon so viel gewonnen, wenn Menschen wieder Mut schöpfen und Hoffnung gewinnen.

Martin Domke, Herne