Karfreitag (7.04.23)

Karfreitag

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung
Kol 1,13-20 Jes 52, 13 - 53, 12 Hebr 4, 14-16; 5, 7-9

Annäherung ans Thema:

Leben aus der Fülle

Karfreitag. Tod des Gottessohnes, von uns Menschen ans Kreuz genagelt. Für unsere Sünden. Auf dass wir leben. Auf dass wir Leben und volle Genüge haben.

Ohne Tod keine Auferstehung, ohne Karfreitag keine Ostern. Jesus der Christus muss in den Tod hineingegeben werden, um am dritten Tag aufzuerstehen. Auf dass wir Leben und volle Genüge haben. Das Schicksal Gottes mit dem der Menschen verbunden.

Dieser theologisch unentrinnbare Zusammenhang macht den Karfreitag zum höchsten evangelischen Feiertag, auch wenn das Bewusstsein dafür selbst in der kirchlichen Öffentlichkeit schwindet.

Ist es nicht eigentlich geradezu pervers, aus diesen leichenbitteren Szenen Hoffnung auf einen Jubel über allem Jubel zu ziehen? Wie intensiv muss man die biblischen Urszenen zum Schicksal Jesu gelesen, geglaubt, verdammt, missverstanden, dechiffriert haben, um an diesem Glauben zu wachsen?

Liturgisch ist der Karfreitag kahl in unseren Kirchen, mager und leichenbitter. Alle Freude erstirbt, der Vorhang des Tempels zerreißt. Es leuchtet kein Licht mehr.

Und welche Übersetzungsaufgabe haben die Prediger*innen in einer Gemeinde, denen das existenzielle Durchleben dieser Szenen immer fremder geworden ist. Szenen, die dann aber doch alle verstehen können als radikale Infragestellung aller Gewissheiten des Lebens. Und am Ende doch als Hoffnungstext.

Karfreitag ist ein Festtag, an dem man zumindest evangelischerseits unter keinen Umständen am Kasus vorbeipredigen darf. Der Kasus steht im Vordergrund. Gleichwohl besteht die Möglichkeit, sich an die Themen der Nachhaltigkeit heranzutasten. Über welche Brücken können die Prediger*innen gehen?

Der kosmische Christus (Kol. 1,13-20)

Anders als in allen anderen Briefen des NT macht der Kolosserbrief die kosmische Seinsweise Christi zu einem zentralen Thema. In dem Hymnus der Verse 15-16 erkennen wir die starke Beziehung zwischen dem geglaubten Christus und der Schöpfung. Wie später im nicänischen Glaubensbekenntnis wird Christus als vor der Schöpfung präexistent bekannt, alles ist durch ihn geschaffen. Christus wird als aus Gott Geborener bezeichnet, durch ihn erst erkennen wir Gott („Ebenbild des unsichtbaren Gottes"); wiederum anders als bei Paulus ist vom Geist an dieser Stelle keine Rede, Kosmos wird christologisch gedacht. Ziel ist die Allversöhnung durch Christi Blut und Tod.

Ich sehe – mindestens – zwei Zugänge zu den Themen der Nachhaltigkeit:

  1. Die in und durch Christus geschaffene Schöpfung leidet, sie leidet mit ihren Pflanzen und Tieren, mit den Meeren, Flüssen und Bächen, mit der Luft, mit allem für uns Sichtbaren und Unsichtbaren. Die Schöpfung selbst wird ans Kreuz geschlagen.

    o Natürlich ist der Einwand berechtigt, dass zwischen Christus und Schöpfung keine Identität besteht, sondern ein Verhältnis der Nachordnung. Anders als die Indigenen Südamerikas glauben wir keine Identität von Gott und Erde („Pachamama"). Gleichwohl kann man, so meine ich, den Gedanken des Zusammenhangs von Christus und Schöpfung meditieren. Was gequält und zerstört wird, steht in einem unmittelbaren Hervorbringungsverhältnis zu Christus. Alles besteht in ihm (v 17). Es geht um die Schöpfung Christi, die nicht ein einmalig mechanisch Geschaffenes ist, sondern indem sie in Christus besteht, unmittelbar mit ihm verbunden ist (creatio continua). Insofern müssen wir uns nicht nur nach unserem Bruder Kain fragen lassen, sondern auch danach, was wir in und mit der Schöpfung anrichten. Schöpfung ist nicht nur kalte und nackte Natur, sondern steht in einem unmittelbaren Verhältnis zu Christus, zu Gott.

  2. Als „Erstgeborener vor aller Schöpfung", „wohnt" in Christus die Fülle Gottes. Christus ist das „Haupt" der Gemeinde und Gott hat durch ihn das Werk der Versöhnung vollbracht. Subjekt dieses weiteren Kerngedankens des Kolosserbriefes ist Gott, Ziel ist die Allversöhnung. Die Auferstehung scheint vor: Christus ist der Erstgeborene von den Toten. Durch ihn erfahren wir „Erlösung", „Vergebung der Sünden". Wie auch immer man sich Vergebung der Sünden durch das Blut Christi vorzustellen hat – die späteren theologischen Streitigkeiten sind Legion – sind Sündenvergebung, Erlösung und Versöhnung das Ziel. Insofern wird uns Zukunft eröffnet in einer schier ausweglosen Situation, nämlich trotz unserer Verstrickungen aus der Fülle Christi leben zu dürfen.

Der leidende Gottesknecht (Jes 52,13–15; 53,1–12)

Die Theologie hat das erstaunliche Bild des verachteten und missgebildeten „Gottesknechts", der unsere Krankheit trug und unsere Schmerzen auf sich lud, immer schon mit Christus identifiziert. Die Gestalt des Christus ist umgekehrt aber auch immer schon an diesen Strang biblischer Tradition entlang geformt worden. Die in viele Richtungen ausgezogene Darstellung ist jedenfalls darauf angelegt, alle Attribute des Schönen und Guten, alle Vorstellungen des mit Gott Verbundenen – „der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen" (Ps. 1,3) – zu konterkarieren. Die Figur des Gottesknechts ist das Gegenbild des von Gott gesegneten Frommen. Und gerade als solcher erweist er sich bis zu seinem Grab bei den Gottlosen als der, der „die Fülle haben" wird (v. 11).

Gott ent-täuscht unsere Vorstellungen von dem, was vor Gott gilt. Gott richtet denjenigen auf, der sein Leben für andere einsetzt. Schon hier erscheint das Motiv, dass der leidende Gerechte die Sünden „der Vielen" trägt (v. 11). Auch hier wieder ist das Stichwort „Fülle" zentral: Derjenige, der im Leben leer ausgegangen ist und von allen geschmäht wurde, wird „das Licht schauen und die Fülle haben" (v. 11).

Eng mit dem Schicksal des Gottesknechts verknüpft ist der Irrtum derer, die ihn verachten: „Wir hielten ihn für den, der von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber ist um unsrer Missetat willen verwunden und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten..." (v. 4 f.). Leben kommt von Gott her, durch das stellvertretende Leiden eines einzelnen.

In beiden Figuren, Jesus wie dem Gottesknecht, wird uns der Spiegel unserer Taten und unserer Irrtümer vorgehalten. Beide Texte halten eine überraschende Wende bereit, nämlich die eines Lebens in Fülle, obwohl doch eigentlich das Leben verwirkt erscheint.

Der Hohepriester (Hebräer 4,14-16; 5,7-9)

Das Bild des Hohenpriesters, „der die Himmel durchschritten hat", ist mir fremd und ich empfinde diese Figur als eher abstrakt. Gleichwohl wird in diesem Text das Leiden Jesu zumindest zitiert. Als Sohn Gottes hat er Gehorsam gelernt (5,8). Bitten, Flehen, lautes Schreien und Tränen hat er vor Gott gebracht (5,7). Das Aussageinteresse einer Rettung aus dem Leiden ist insofern zumindest teilweise identisch mit dem der beiden anderen Textstellen, jedoch scheint mir zu den Themen der Nachhaltigkeit ein weiter Weg zu sein.

Homiletische Brücken

Kaum können wir die Stellvertretungskonzepte des Kolosserbriefs oder des Jesaja-textes eins zu eins den heutigen Predigthörer*innen servieren und Verständnis erwarten oder Erleichterung im Sinne neue Erlösungsgewissheit verschaffen. Die Schilderung dessen, was wir durch unsere Lebens- und Wirtschaftsweise anrichten, kann sich auf ganz unterschiedliche Schwerpunkte beziehen und wird vielfach auf Zustimmung stoßen. Ein gemeinsames Bewusstsein des schier Unentrinnbaren im Blick auf unseren Umgang mit der natürlichen Mitwelt, im Blick auf Fairness und Gerechtigkeit in der Wirtschaft und im Blick auf Frieden und Gewalt könnte uns mit dem Sündenbewusstsein früherer Generationen zusammenschließen, wenn wir es zunächst einmal mit dem weniger theologisch kontaminierten Begriff „Schuld" versuchen.

Welche inhaltlichen Beispiele die Prediger*innen bemühen, hängt sehr stark von der jeweiligen Situation und auch den Betroffenheiten der Gemeinden ab. Zurzeit spielt das Thema Frieden (Krieg in der Ukraine, Mai 2022) eine dominante Rolle. Die Überschreitung unserer „Planetarischen Leitplanken" (WBGU 2014) beobachten wir jedoch ebenfalls mit zunehmender Bedrückung.

Weiterhin zukunftsweisend ist die Klimadenkschrift der EKD Umkehr zum Leben. Nachhaltige Entwicklung im Zeichen den Klimawandels (2009), die für eine „Ethik des Genug" eintritt. Mit ihrer schöpfungstheologischen, christologischen und befreiungstheologischen Argumentation zeigt sie Wege des Wirtschaftens und des Lebens auf, die im Anthropozän begehbar sind. Eine Ethik des Genug ist anschlussfähig an die Verheißung eines Lebens in Fülle in Christus. Statt vom fehlgeleiteten „immer mehr" der Wachstums-Ideologie, die ständig weiter falsche Anreize setzt, denkt sie von der Fülle des in Christus geschenkten Lebens her.

Erfreulich ist die große Hilfsbereitschaft, mit der Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen werden – höchst bedrückend jedoch, wie weiterhin mit Geflüchteten aus anderen Kriegs- und Notgebieten umgegangen wird. Sehr unterschiedlich werden vor Ort die jeweiligen Wirtschaftsfragen sein. Es kommt sehr darauf an, welche Möglichkeiten sich in einer Region und einer Gemeinde aktuell ergeben, selbst in kleinen Schritten zu handeln. Wichtig scheint mir auch bei allen Fragen zu sein, dass man zwar in kleinen Schritten handeln kann und muss, aber bei der Analyse und Beobachtung vernetzt denken muss. Vielleicht gelingt es, die Gemeinde in das eine oder andere Netzwerk der Region zu integrieren ...

Meine Erfahrungen mit Wirtschaft und Politik haben mir manchmal bis zum Über-druss deutlich gemacht, dass wir in einer zum Erfolg verdammten medial vermittelten Situation leben. Fehler einzugestehen, gar Schuld, ist kaum möglich. Immerzu heißt es: „Wir sind gut aufgestellt" oder schlimmstenfalls müssen die eigenen Entscheidungen der geneigten Öffentlichkeit nur „besser erklärt" werden. Wie schwer es ist, anderen gegenüber Fehler einzugestehen, wissen wir alle aus Alltagssituationen unseres eigenen Lebens.

Die Texte dieses Sonntags ermutigen uns dazu, erste Schritte zu gehen und Fehler einzugestehen oder zu sehen, wo und wie wir uns schuldig machen. Sie ermutigen uns dazu, weil sie uns die Möglichkeit des Freispruchs vor Augen stellen. Solcher Freispruch kann nach biblischem Verständnis nur von Gott her kommen, selbst wenn andere es sein sollten, die uns im Namen Gottes freisprechen. Auch ist das Einschlagen neuer Wege damit noch nicht garantiert, aber ein Anfang ist gemacht, die Möglichkeit von Umkehr eröffnet sich.

Vielleicht kann solches Umkehren aufgrund der Anerkenntnis von Fehlern sich auch auf wirtschaftliche und technische Pfadabhängigkeiten und auf politische Entscheidungen beziehen. Gut wäre es nachzubuchstabieren, dass wir individuell denken und handeln, aber immer in überindividuelle Zusammenhänge eingebunden sind. Wie können wir individuelles Handeln in kollektiv verankerten Strukturen verantworten? Um nicht zu kurz zu springen, müssen wir die Dialektik des Individuellen und des Strukturellen zu verstehen suchen. Die Schuldunfähigkeit unserer Gesellschaft wäre aufgebrochen, auch wenn ein gutes Ende damit noch nicht garantiert wäre.

Aber die Verheißung ist in der Welt, dass wir aus einer Fülle leben können, die wir nicht selbst schaffen und produzieren, sondern die wir uns schenken lassen und miteinander teilen.

Dr. Thomas Posern, Mainz