Palmarum / Palmsonntag (02.04.23)

Palmarum / Palmsonntag

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
Joh 12,12-19 Jes 50, 4-7 Phil 2, 6-11 Mt 21, 1-11

Ecce Homo

Ein zentraler Gedanke durchzieht die Texte dieses Sonntags: „Wer ist dieser Mensch?" An ihm schieden sich die Geister, von Anfang an. Er war als Wanderprediger umstritten wie als Wundertäter, als Retter der Nation wie als Gottessohn. Familien ließ er ohne ihre Arbeitskräfte zurück, weil er die Ernährer bat, mit ihm zu kommen. Aber auch Frauen folgten ihm und halfen ihm im Kampf gegen unmenschliche Traditionen und Gesetze. Er wandte sich zugleich den Ärmsten zu, in tiefem Mitleid und zugleich voller Hoffnung, dass auch für sie etwas Neues geschieht, ihre Rettung nahe ist. Jeshua von Nazareth, dieser Radikalinski und zugleich fromme Mensch. Auf ihn wurden die Attribute des Gottessohns gemünzt, auch das nicht unumstritten. Am Ende erwartete ihn der Tod, ein Justizmord, der auch von Religionsführern betrieben wurde, die keine Taliban waren, sondern einfach nur die Ruhe und Ordnung sicherstellen wollten – und die Tradition. Sie wollten selbst unter der Fremdherrschaft der Römer schlicht ihren Glauben leben, und zwar richtig. Sie lagen schon damals falsch, die Religionsführer, die die Tradition wahren wollten und denen es nur um den richtigen Glauben ging. Damals falsch und heute auch...

Die Perspektive Jesajas und Jochen Kleppers

Mit Jeshua, dem Nazarener wurde die Frage: „Wer ist dieser Mensch?" zum Symbol für die Frage nach dem Menschen überhaupt. Was ist eigentlich der Mensch, wenn er denn Mensch genannt wird? Anders gesagt: Worin liegt der Mehrwert unseres Daseins? Eine Spur legt das geheimnisvolle so genannte „Gottesknechtslied" des Jesaja: „Er weckt mich alle Morgen, dass ich höre, wie ein Jünger hört". Das Morgenlied, das Jochen Klepper auf Grund dieses Textes gedichtet hat, geht diesem geheimnisvollen Menschsein auf den Grund. Das Hören eines Menschen, der sich von Gott berufen weiß, und zugleich stark genug ist, Anfeindungen zu widerstehen, wird in Kleppers eigenem Leben abgebildet. Aber es wird zugleich die Grenze sichtbar: Klepper, der mit seiner Frau und seiner jüngeren Stieftochter wegen der Verbrechen der Nazis in den Freitod ging, hat den Zuspruch des Jesaja-Wortes bis in den Tod in Anspruch genommen. Er, der keinen Ausweg mehr wusste, hat doch im Moment der Entscheidung sich das Bild des Christus vorgehalten: „Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des Segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben". Ecce homo!

Zwischen allem: Das Leben

Wir müssen heute wieder dem Tod ins Auge blicken. Der Krieg in der Ukraine ist das aktuelle Beispiel. Zwischen jenen, die meinen, dass die Ukraine sich widerstandslos dem Schicksal ergeben solle und all denen, die elementare Werte unseres Zusammenlebens bedroht sehen, die es notfalls auch mit Waffen(-lieferungen) zu verteidigen gilt, tut sich ein unüberbrückbarer Graben auf. Sehr viele scheinen sich bis jetzt irgendwo dazwischen anzusiedeln. Dahinter steckt doch auch diese geheime Frage: Was ist der Mensch? Wozu ist er, wozu ist sie fähig, was kann er und sie leisten? Welches Potential steckt in uns, zu wie viel Leid und Mitleid sind wir wirklich in der Lage? Zwischen Größenwahn und Empathie, Egomanie und Gemeinschaftssinn vollzieht sich, was wir sehen und erleiden, zwischen Geburt und Sterben. Dazwischen liegt das Leben, dieses schöne Scheißleben1.

In Anfechtung – und siehe wir leben!

Dieses immer besondere Leben ist nur angesichts des Todes ein ganzes Leben. Nur wenn wir begreifen und annehmen, dass alles, was ist, ein Ende hat, können wir offenbar aus dem Vollen schöpfen. So wird auch die Widersprüchlichkeit des Palmsonntags ein wenig „normaler". Zwischen denen, die Hosianna singen und denen, die später das „Kreuzige" schreien, stehen wir, in allen unterschiedlichen Formen unseres Menschseins, angenommen und versöhnt mit Gott. Und wage niemand vorschnell zu wissen, auf welcher Seite er oder sie bei heiklen Fragen steht. Wäre ich so mutig gewesen wie die Frauen in Belarus, die trotz Todesdrohungen ihre Freiheit und Demokratie einfordern? Oder bin ich doch eher ein Feigling, der kneift, wenn's brenzlig wird. Einfache Antworten gibt es nicht, das zeigt nicht nur das Beispiel Jochen Kleppers. Mir gruselt gerade, wenn ich sehe, welche unheimliche Allianz rechte und linke Ideologien eingehen, wenn es um Waffenlieferungen geht. Auch das hat der Ukrainekrieg deutlich zutage treten lassen. Wehren wir auch hier den Anfängen!

Wir bleiben angefochtene, schwache Menschen, anfällig für wechselnde Meinungen und Überzeugungen. Manchmal wachsen wir über uns hinaus, oft ohne, dass wir darauf vorbereitet sind. Vielleicht bleibt am Ende Dankbarkeit, wenn etwas gelingen konnte, was wir nicht für möglich gehalten haben.

Christushymnus als Fest

Der Frage: „Was ist der Mensch?" geht der Philipperbrief noch einmal besonders nach. Der berühmte so genannte Christushymnus zeigt pointiert die Schnittstelle zwischen Gott und Mensch und definiert das Menschsein neu. Wie er, Gott selbst, sich den Ärmsten und Ausgestoßenen zugewendet und letztlich das Leben aller anderen über sein eigenes gestellt hat, um daraus zu neuem Leben aufzustehen, so auch wir: nur im Gegenüber zu anderen und mit ihnen sind wir überhaupt Mensch. Menschsein ist jetzt etwas Neues, war es aber eigentlich immer schon: Im Angesicht des Todes, aber immer gemeinsam mit der ganzen Schöpfung neues Leben in Fülle genießen. Im anderen Menschen leuchtet Gottes Antlitz auf, in allen Völkern und Erdteilen, in aller Diversität: Eine Anleitung zum Feiern, angesichts des Königs, der auf einem Esel in die Stadt einzieht, eine Aufforderung zur Loveparade, Party, Jubel. So bescheiden und so groß! Und zugleich so endlich. Dazwischen das Leben, dieses wunderschöne Scheißleben.

Martin Domke, Herne


1) Vgl. Titel des Films von Doris Dörrie 2014