Altjahrsabend / Silvester 2021
ev. Predigttext | kath. 1. Lesung | kath. Evangelium |
Mt 13, 24-30 | 1 Joh 2, 18-21 Hl. Silvester I: Ez 34, 11-16 |
Joh 1, 1-18 Hl. Silv.: Mt 16, 13-19 |
Die Autorin betrachtet zunächst eingehend das Gleichnis in Mt 13,24-30, das die heikle Frage berührt, wie eine Gemeinschaft mit Menschen, aber auch Pflanzen und Tieren umgeht, die als schädlich oder nicht nützlich betrachtet werden. Im Anschluss daran werden die Texte 1 Joh 2, 18-21 und Joh 1,1-18 kurz eingebunden.
Mt 13, 24-30
Einordnung des Textes
Das Gleichnis ist eingebettet in verschiedene Naturgleichnisse über Saat, Ernte und Wachsen. Dabei nimmt der Erzähler auf, dass in Weizenfeldern Taumellolch mitwachsen kann. Dieser ist anfänglich schwer vom Weizen unterscheidbar. Er wächst gut mit Weizen oder auch Hafer oder Gerste auf. Falls bei der Pflanze ζιζάνιον botanisch an Lolium temulentum L. gedacht ist, handelt es sich um eine psychoaktive Pflanze. Wird sie vor der Ernte nicht ausgerissen und mit dem Weizen zu Mehl vermahlen, kann dies zu Krämpfen, Sehstörungen, Taumeln, Verwirrtheit oder gar zum Tod führen. Damit kann man auch auf die Art des „Feindes“ im Gleichnis schliessen: Er ist dem nützlichen Weizen anfänglich täuschend ähnlich, er ist ein „Fake-Weizen“. Er hat die Wirkung, zu verwirren, um den Verstand zu bringen, die Klarheit zu verlieren wie das auch sogenannte „Fake-News“ auch tun: Falsche Informationen, die aber mit einigem Richtigen so geschickt vermengt sind, dass sie für bare Münze genommen werden können. Ein Beispiel: Eine Cyberkampagne versucht Leute dazu zu bewegen, zu verbreiten, dass die Covid-19-Impfung von Pfizer/Biontech Menschen sterben lasse [1]. Gerade um das Jahresende kann diese Thematik in Bezug auch auf Zukunftsprognosen in eine Predigt eingebettet werden.
Das Gleichnis gibt Einblick in ein Herrschaftsverhältnis von Sklaven und Grundherr. In der Frage der Sklaven, dass sie doch gutes Saatgut gesät hätten, kann die Angst vor Strafe oder die Kümmernis über eine verdorbene Ernte und damit verbundenen Hunger mitschwingen. Der Grundbesitzer verweist scheinbar emotionslos auf den „Feind“. Die Sklaven sollen den Lolch nicht ausreissen, da sonst auch der Weizen mitausgerissen werden könnte. Beim Fruchtragen wird der Lolch hingegen vom Weizen gut unterscheidbar. Es geht also letztlich um die Frage, die bereits in Mt 7,20 („An ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen“) angesprochen ist. Eine Gemeinschaft wird sich mit dem Qualifizieren, wie sie nachhaltig und umsichtig Lebensförderliches hervorbringt.
Auf der Bildebene nimmt der „Feind“, der diesen Saatfrevel begeht, eine bewusste Schädigung der Gemeinschaft in Kauf. Er ist damit buchstäblich diabolisch (griech. diábolos der Verleumder, Durcheinanderwerfer, Verwirrer), wie es dann in der Auslegung in Mt 13,36-43 betont wird. Dabei ist die historische Situation in den Blick zu nehmen: Es ist eine Zeit des Umbruchs; ein Ringen um den jüdischen Weg ist im Gange. Es gibt eine Vielfalt jüdischer und nicht-jüdischer Bewegungen, die sich in einem Umfeld der römischen Macht aneinander reiben und voneinander herausgefordert sind, ihren Glauben zu klären und auch die Frage zu stellen, wo man dazu gehört.
Aspekte der Nachhaltigkeit
1. Die Natur ist nicht gut oder böse
In der Evolution und Natur ist eine Unterscheidung zwischen Gut und Böse unsinnig. Die Definition einer Pflanze als Unkraut ist anthropozentrisch und ideologisch: In einem herausgeputzten Ziergarten gilt schnell mal eine Pflanze als unerwünscht, als „Un-Kraut“. Eine giftige Pflanze oder eine vermeintlich nutzlose Pflanze kann als Unkraut gelten. Das Wissen um die ökologische Bedeutung der Unkräuter ist jedoch noch zu wenig im Bewusstsein. Einige „Unkräuter“ sind zum Beispiel wichtige Bodendecker zur Verhinderung der Bodenerosion und der Nährstoffauswaschung. Im Rebbau kann man dieses Umdenken verfolgen. Der Boden zwischen und neben den Rebstöcken wurde vielerorts „rein“ gehalten von Pflanzenwuchs, was am Rebhang viel Arbeit verursachte, denn die heruntergeschwemmte Erde musste stets mühsam wieder hangaufwärts geführt werden. Heute sind in Rebbergen mancherorts kleine ökologische Paradiese entstanden, die Insekten und anderen Tieren zwischen den Reben Heimat geben.
Der Taumellolch ist in der Geschichte nicht ausschliesslich negativ konnotiert. Schon früh versuchte man Lolch in der Medizin zu nützen wie etwa nach Plinius, Celsus oder Dioskurides zu entnehmen ist. In der Türkei und in Arabien wurde es bei Operationen als Anästhetikum benutzt. Heute kommt er auch in der Homöopathie zum Einsatz.[2] Samenfunde wurden in altägyptischen Gräbern nachgewiesen. In Ägypten und in Mesopotamien wurde beim Bierbrauen bewusst Taumellolch zugefügt, um das Bier rauschhaft zu machen.[3]
In Zukunft werden uns jedoch exotische Gewächse wie der Japanische Staudenknöterich, der Riesen-Bärenklau oder die Ambrosia beschäftigen. Sie wurden eingeschleppt, vermehren sich rasant und nachhaltig und bringen die Flora und Fauna Europas aus dem Gleichgewicht. Die gleichen Pflanzen stören jedoch an ihrem Ursprungsort das Gleichgewicht der Flora nicht. Dabei scheinen die im Zuge des Kolonialismus entstandenen botanischen Gärten und Parks mit den exotischen Gewächsen eine Schlüsselrolle zu haben.[4] Einige Neophyten sind auch extrem gesundheitsschädigend.
Wie beim Taumellolch können auch vom Menschen geschaffene Kulturlandschaften zu unerwünschter Verbreitung gewisser Pflanzen verhelfen. Der Taumellolch etwa ist aufgrund der kurzen Lebensdauer der Samen auf wiederkehrende Aussaat angewiesen.[5] Diese Sicht des Verwobenen und vom Menschen Geschaffenen spielt für das Verständnis des Gleichnisses eine Rolle.
2. Soziale Aspekte
Die christliche Ketzergeschichte ist randvoll mit Verfolgungswellen, in denen Andersdenkende wie „Unkraut“ eliminiert wurden, um die Reinheit der Gemeinschaft nicht zu gefährden. Das Gleichnis widerspricht dieser Haltung. Wo Menschen sich zu den „Reinen“ zählen und aus dieser Haltung heraus sich zu Richter*innen erheben, werden „Säuberungsaktionen“ plötzlich naheliegend. Im Ursprung dürfte bei Jesus dieses Gleichnis deshalb eine Warnung gewesen sein, auf diese destruktive Weise eine neue Gemeinschaft aufzubauen. Dabei ist auch Mt 5,45 mitzuhören: „Gott lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte“. Das letztendliche Richten wird Gott überlassen.
Dennoch muss ein Rechtsstaat natürlich Recht sprechen und seine Bürger*innen schützen. Eine eindrückliche Haltung dazu hat der Nürnberger Chefankläger Benjamin Ferencz gezeigt. Aus 3000 SS-Mitgliedern verurteilte er exemplarisch 22 gut ausgebildete Angeklagte, deren Schuld zweifelsfrei belegt war. Zu diesem exemplarischen Verurteilen gab er an: „Ich beschloss, dass es nicht um perfekte Gerechtigkeit gehen kann, sondern dass es um Rechtsstaatlichkeit gehen muss.“[6] Ferencz war sich bewusst, wie sehr die Schuldfrage verästelt ist, und dass eine durchgängige Unterscheidung von Schuldigen und Unschuldigen unmöglich ist. Vielmehr ging es ihm darum, künftigen Generationen eine Botschaft der Menschlichkeit mitzugeben, um damit eine Wiederholung eines solchen Mordens zu verhindern. Ferencz‘ Haltung, verknüpft mit einer zukunftsweisenden Botschaft, die mehr Menschlichkeit pflanzen will, drückt meines Erachtens in der Frage der notwendigen Verurteilung der bösen Tat Augenmass auf und ist auf Nachhaltigkeit angelegt.
3. Nachhaltiges Kirchenprojekt: Lieben in Tat und Wahrheit
Aus dem Ausschnitt 1 Joh 2, 18-21 könnte man zunächst gerade eine solche strikte Scheidung zwischen Antichrist*innen (was Pseudochrist*innen meint) und Heiligen – Bösen und Guten – ableiten. Doch das ganze Schreiben ist sehr versöhnlich gehalten. Die Kinder Gottes zeigen sich dadurch, dass sie „Gerechtigkeit“ machen. Kinder, lasst uns nicht mit Wort und Zunge lieben, sondern in Tat und Wahrheit! (1 Joh 13,8) Zentral ist die Geschwisterliebe, das Bleiben in der Liebe. Es gibt keinen Aufruf, Leute aus der Gemeinde auszuschliessen und wie den Taumellolch auszureissen und zu verbrennen. Die Versöhnung gilt der ganzen Welt (4,14). Es sind auch keine Sanktionen angedroht für jene, die sich nicht dem Bekenntnis anschliessen. Als besonders sticht das Bild vom Salböl des Gesalbten, des Messias, heraus (V. 20), das Wissen verleiht; wohl ist auch an Schutz und Stärke gedacht. Diesem sinnlichen Bild vom Salböl ist alles Gewalttätige und Ausmerzende fremd. Es ist vielmehr ein Geschenk für jene, die es annehmen. Das Heil bringende Ereignis ist nicht etwas, das in der Zukunft liegt, sondern ist schon Fleisch in den Frauen und Männern geworden, die in „Tat und Wahrheit“ lieben. Damit schafft er eine Verbindung zum Prolog des Johannesevangeliums (Joh 1,1-18): Die geistigen Ideale sind erst in „Tat und Wahrheit“ und nachhaltig, wenn sie Fleisch werden, wenn sie sich manifestieren in unserem konkreten Zusammenleben, in unseren Auseinandersetzungen und in unseren Projekten.
Sara Kocher, Zürich
[1] In: Neue Zürcher Zeitung NZZ, Ausgabe Sa, 29. Mai 2021, S. 20, „Gegen Pfizer/Bionteck läuft eine Cyberkampagne“
[3] https://nadjahorlacher.ch/wp-content/uploads/2016/11/Bier-selber-brauen. Die Autorin zeigt auch, wie andere rauschhafte Kräuter wie Bilsenkraut dem Bier zugeführt worden sind.
[4] Invasion der Pflanzen. Gefahr für Umwelt und Mensch? Filmdokumentation, Ausstrahlung arte, 29.5.2021, Regie Ingo Thöne, Deutschland 2014, NDR
[5] Siehe dazu den spannenden Beitrag von P. Zwerger, Unkraut oder Wildkraut - Ein Diskussionsbeitrag zum Begriff und Wesen des Unkrauts, in: Nachrichtenblatt des Deutschen Pflanzenschutzdienstes, 47 (12), 1995, S. 321-325, ISSN 0027-7479. © Eugen Ulmer GmbH & Co., Stuttgart Biologische Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft, Institut für Unkrautforschung, Braunschweig. https://ojs.openagrar.de/index.php/NachrichtenblattDPD/article/view/7984
Umgekehrt kann eine Art durch Veränderung im Kulturraum wieder verschwinden. Der Taumellolch steht heute auf der roten Liste der gefährdeten Arten.