31.10.25 – Reformationstag

«

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. Evangelium
5 Mose 6, 4-9 Eph 6, 10-20 Lk 13, 31-35

Vorbemerkung

Am 31. Oktober 1517 veröffentlicht Martin Luther seine »95 Thesen«. Neben Luther gedenkt man am Reformationstag weiterer Reformatoren wie Philipp Melanchthon, Huldrych Zwingli und Jean Calvin und ihres Einflusses auf christl. Glaubens- und Lebenspraxis. So steht dieser Gedenktag für ein freies Bekenntnis; zugleich hinterfragt er Glaubenstraditionen und Missstände, auf die Kirche stets neu zu reagieren hat (ecclesia semper reformanda).

Die ev. Epistellesung (Röm 3,21-28) endet in dem für Protestant*innen zentralen Satz: »So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben« (Röm 3,28), aus sich die bis heute gültigen reformatorischen Kernbotschaften (sola gratia, sola fide, sola scriptura) ableiten. Der Evangeliumstext der ev. Perikopenordnung (Mt 5,1–10(11–12)) unterstreicht dies.

 

5 Mose / Dtn 6, 4-9 („Schema Israel“ – „Höre, Israel“)

Der christliche Glaube wurzelt im Judentum. Jesus Christus war Jude; der christlich-dreieinige Gott ist kein anderer als der eine Gott Israels. Auf diesem Hintergrund können auch wir Christ*innen das jüdische »Glaubensbekenntnis« (Ben Chorin) auslegen – mit allerdings gebührendem Respekt und Achtsamkeit gegenüber unseren jüdischen Glaubensgeschwistern. Für ihren Glauben ist Ausgangspunkt und zentraler Bestandteil auf Gott zu hören. Sie sprechen das Schema Israel stets laut und deutlich und legen somit öffentlich hörbar Zeugnis ab. (Im eigentlichen Bekenntnis (V. 4b) sind in den meisten jüdischen Tora-Ausgaben [nicht in »unserer« Biblia Hebraica] zwei Buchstaben hervorgehoben: Ayin am Ende des ersten und Daleth am Ende des letzten Wortes; zusammen gelesen ergibt dies hebr. ed, dt. Zeuge: Wer das Schema Israel spricht, ist Zeuge und bezeugt in einem Umfeld, das viele Götter kennt, kraftvoll die Einzigartigkeit, die Alleinigkeit, die Einheit und Einheitlichkeit Gottes.) – vgl. die Erkenntnis aus Röm 10,17:  Der Glaube erwächst aus dem Hören.

Das Gebot »Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller deiner Kraft« fordert dabei den ganzen Menschen. Im Herz sitzen nach jüd. Vorstellung das Gefühl und der Verstand; es geht um die bewusste und zugleich innige Zuwendung zu Gott. Der hebr. Begriff für Seele (Näfäsch) schlägt den Bogen zur Schöpfungsgeschichte: Näfäsch, das ist der göttliche Odem, den Gott den Menschen einblies, die Lebenskraft, das Lebendige an sich. Alles, was in uns lebendig ist, soll davon beseelt sein, sich Gott zuzuwenden. Und dies mit aller Kraft: Das schließt neben der körperlichen und geistigen Kraft durchaus das materielle Vermögen mit ein. Diese Liebe zu Gott zeigt sich in einer umfassenden Liebe zu den Menschen und zu Gottes Schöpfung insgesamt. Denn wie sollte man Gott, den Schöpfer lieben und ehren, aber seine Geschöpfe, die Menschen, unsere Mitmenschen, unsere Mitgeschöpfe verachten? Das Schema Israel ruft auf, genau dieses Allumfassende zu bezeugen, in Wort und Tat, immer und überall.

Und das gilt auch für uns Christ*innen, denn Jesus antwortet auf die Frage, was das größte Gebot sei, mit genau diesen Worten: »Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.« Und in guter rabbinischer Tradition ergänzt er es um das Gebot aus 3 Mose 19,18): »Ein anderes Gebot aber ist ihm gleich: ›Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!‹« (Mk 12,29-31; vgl. Mt 22,37-40). Dieses ur-jüdische Doppelgebot der Liebe gilt demnach völlig uneingeschränkt auch für uns; es macht uns zu jüngeren Geschwistern im Volk Gottes. Denn anders als die Feindesliebe ist die Nächstenliebe ein Bestand jüd. Frömmigkeit von alters her.

Doch hören und aussprechen allein reichen nicht aus: „Diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen“. Im Englischen gibt es den Begriff „to learn by heart“, etwas zutiefst verinnerlichen. Man soll diese Worte schon den Kindern einschärfen. Sie sind das Erste, was man einem jüd. Neugeborenen ins Ohr flüstert, und das Letzte, das Sterbende sprechen. Man lebt unter diesem Grundbekenntnis, immer: „Wenn du in deinem Haus sitzt und wenn du unterwegs bist“ – also privat und öffentlich, in der Freizeit, am Schlaf-, Wohn- und Arbeitsplatz, von morgens bis abends: „Wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst“.

Durchdringt die Gottes- und Nächstenliebe derart unser Leben, schließt das ein gedankenloses »Sonntagschristentum« aus. Vielmehr erwächst daraus eine achtsame Lebenspraxis, die auf die Nöte der Nächsten hört und in diesem Hören das Seufzen der Schöpfung mithört – auch im Alltag. Sie gesteht Menschen, Tieren und Pflanzen, aber auch Wasser, Boden, Luft, eine je eigene Würde und ein eigenes Recht zu – ganz im Sinne des konziliaren Prozesses hin zu mehr Frieden, Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung. Der Dialog darüber in der Gemeinde und mit Gemeinschaften christlicher, jüdischer, muslimischer und weiterer Glaubensrichtungen in der Nachbarschaft hilft, sich auch im ökumenischen und interreligiöse Verbund – und durchaus mit Spaßfaktor – für eine lebensfreundliche Umwelt zu engagieren.

Sichtbare Zeichen verleihen den Worten Nachdruck: „Du sollst diese Worte binden zum Zeichen auf deine Hand, sie sollen dir ein Merkmal zwischen deinen Augen sein.“ Beim Beten tragen fromme Juden ihre Gebetsriemen, sog. Tefillin. Mit Lederriemen befestigen sie am linken Handgelenk und zwischen den Augen kleine Kapseln, in denen drei Pergamentstreifen stecken. Die Kapsel an der Hand unterstreicht: Kein Werk, keine Arbeit, nicht eine Bewegung der Hände, die nicht unter dem Anspruch stünde: Liebe deinen Gott und liebe die Menschen, für die du mit deiner Hand, deinem Arm, deiner Kraft da sein sollst. Die Kapsel am Kopf sagt: Kein Gedanken, ohne auf Gott und meinen Mitmenschen zu blicken. Alles, was im Kopf vorgeht, steht in Beziehung zu Gott. Dort, wo Ideen und Pläne entstehen, Gedanken gebildet, Wünschen und Vorstellungen geformt werden, dort steht vor, hinter, über und unter allem das „Höre, ich bin dein Gott, der einzige Gott.“ Denn es gibt nichts Wichtigeres, als mit aller Kraft diesen Gott und deine Mitmenschen, deine Mitgeschöpfe insgesamt zu lieben.

Du sollst diese Worte schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore. In der Tat hängt eine Mesusa, eine Metall- oder Glas-Kapsel mit dem Schema Israel, rechts am Eingang vieler Häuser und Wohnungen jüdischer Familien. Auf einem Pergamentstreifen in der Kapsel steht in Erinnerung an den Auszug aus Ägypten (Dtn 11,13–21): „Er beschütze die Türen Israels“. Beim Betreten und Verlassen berühren fromme Juden kurz die Mesusa und erinnern sich daran.

Tefillin und Mesusa als Erinnerungszeichen erscheinen uns vielleicht fremd. Doch auch wir kennen solche Zeichen des Glaubens, die Andersgläubigen oder Atheisten manchmal ebenso seltsam vorkommen mögen: Nicht nur kath. Familien haben über dem Eingang ein C+M+B von Dreikönig für Christus mansionem benedicat (lat.: „Christus schütze das Haus“). Das kommt dem Segensspruch der Mesusa schon sehr nahe. Es erinnert uns und stärkt uns im Glauben: Gott ist bei uns und hält zu uns. Es hält uns Schmerz und Leid zwar nicht vom Leib, gibt uns aber die Zuversicht, darin nicht allein gelassen zu sein und es mit seiner Hilfe zu überstehen!

Der Gott, zu dem wir dann beten, ist und bleibt der Gott Israels. Doch dank Jesus Christus sind wir alle, die wir uns zu ihm bekennen, mit hineingenommen in den Bund Gottes mit seinem Volk. Kein Weg zu dem einen Gott führt an Israel und an unseren jüdischen Wurzeln vorbei. Unser Glauben mit seiner Liebe zu Gott und zu unserem Nächsten wurzelt im Alten Testament und in diesem Bekenntnis: »Höre Christenheit! Jahwe, der Gott Israels ist unser Gott. Gott allein.«

 

Eph 6,10-20

Nicht auf dem achtsamen Hören auf Gott und die Mitschöpfung, sondern auf dem durchaus wehrhaften Handeln im Sinne der Botschaft liegt der Schwerpunkt dieser kath. Epistel-Perikope. Sie ist von Metaphern des Nahkampfes durchzogen: Kraft und Macht des Herrn, Rüstung Gottes, gegürtet mit Wahrheit, gepanzert mit Gerechtigkeit, in den Schuhen der Bereitschaft, mit dem Helm des Heils und dem Schwert des Geistes.

Ansatzpunkt für eine Predigt im Sinne der Ziele des Konziliaren Prozesses könnte sein zu entfalten, worin Wahrheit und Gerechtigkeit im Sinne Gottes liegen, und wie das Wort Gottes für gewaltfreie Wege, ohne Konfrontation und persönliche Abwertung der gegnerischen »Fürsten und Gewalten«, »Beherrscher der finsteren Welt« und »bösen Geister« möglich wird. Vielleicht kann man diese als Metaphern für Depressionen, tückische Krankheiten, Verrohung der Sprache, Fake News in den sozialen Medien verstehen? Oder auch die ignorante Haltung gegenüber drängenden ökologischen Krisen wie Artensterben und Klimawandel?

Christina Mertens, München