o5.10.25 – Erntedank / 16. Sonntag nach Trinitatis / 27. Sonntag im Jahreskreis

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
Joh 11, 1 (2) 3.17-27 (28-38a) 38b-45 Hab 1, 2-3; 2, 2-4 2 Tim 1, 6-8.13-14 Lk 17, 5-10

Joh 11, 1 (2) 3.17-27 (28-38a) 38b-45 Auferweckung des Lazarus

Exegetische Bemerkungen:

Die Auferweckung des Lazarus ist das letzte und gewaltigste «Zeichen», das Jesus vollbringt. Das Kapitel bildet, wie Jean Zumstein in seinem Johanneskommentar[1] formuliert, «den Höhepunkt und Abschluss der Offenbarung des Joh Jesus vor der Welt» (412). Es zeigt aber auch, dass der Offenbarer mit seiner Mission – der Welt «das Leben in Fülle zu bringen» (413) – scheitert, weil die Welt, repräsentiert durch die jüdischen Autoritäten, Jesus ablehnt, gerade weil er «viele Zeichen tut» (Joh 11,47).

Das theologische Zentrum der Perikope ist das «Ich-bin-Wort» in V.25: «Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt.» Das eigentliche «Wunder», die Auferweckung des Lazarus, ist nur ein Zeichen, das auf diese für das die Theologie des Joh absolut grundlegende Aussage. «Im Glauben», schreibt Zumstein, «empfängt der Glaubende ein ganz ‘anderes’, vollkommen ‘neues’ Leben. Er ist auferstanden.» (427) Der natürliche Tod hat deshalb für den Glaubenden seinen Schrecken und seine Macht verloren, sowohl in der Gegenwart als auch nach dem eigenen Ableben.

Wichtig ist, dass Johannes durchgehend zwei unterschiedliche Begriffe von Leben verwendet. Darauf hat der Philosoph François Jullien in seiner philosophischen Interpretation des Johannesevangeliums[2] insistiert. Das griechische psyché meint dabei „das Leben als das einfache Am-Leben-sein, das Beseelt-sein, weil den Lebensatem in sich bergend“ (55), die Übersetzung des hebräischen nephesh. Das griechische zoé dagegen meint bei Johannes das wahrhaft lebendige Leben, als ein Leben in der Fülle. «In sich selbst das Leben haben» (vgl. Joh 5,26) ist das Proprium Gottes. Nur Gott kann also wahrhaft lebendig machen. Jesus ist nach Joh 5,26 nun genau insofern Gottes Sohn und der Offenbarer, als er diese Fähigkeit, lebendig zu machen, übertragen bekommen hat. Von hierher wird auch noch einmal deutlich, dass Joh 11 nicht auf das Wunder zuläuft, dass hier einer (Lazarus) in einem physiologischen Sinne ein neues Leben bekommt, sondern auf die zu entfaltende Wahrheit, dass der Glaube eine neue, wahrhaft lebendige Weise des Existierens bedeutet. Oder wie Jullien in Bezug auf Johannes 12,25 («Wer sein Leben liebt, verliert es.») schreibt: „Wer dem Am-Leben-Sein verhaftet bleibt und sich darin festfährt, verliert seine Fähigkeit, völlig, d.h. übermässig lebendig zu sein. Wer sich jedoch von seiner Fixierung auf die einzige Sorge, am Leben zu bleiben, befreien kann, der kann dieses in einem tatsächlich lebendigen Leben zur Entfaltung bringen […]“ (ebd. 57).

Bezüge zu Nachhaltigkeitsthemen:

Auf der eben eingeschlagenen Route lassen sich auch Bezüge zu einem nachhaltigen Lebensstil herstellen. Die in den westlichen Industrienationen dominierende Lebensweise verbraucht viel zu viel an Ressourcen und geht auf Kosten ärmerer Teile der Weltbevölkerung[3] und der Tiere[4]. Der unserem Wirtschaftssystem inhärente Wachstumsdrang ist zu einem Wachstumszwang geworden. Wir brauchen (und verbrauchen) von allem immer mehr. Das erstreckt sich auch auf die Lebensdauer: Angestrebt ist ein möglichst langes Leben mit «möglichst viel drin», insbesondere vielen positiven Erfahrungen und Erlebnissen. Eine Kehrseite davon ist u.a. die auch durch Social Media verstärkte Verpassensangst («FOMA» genannt, «fear of missing out»). Das «Leben in der Fülle», das der Glaube gemäss Joh verspricht, ist kein Leben in materieller Fülle und generell nicht an Quantitätssteigerung gebunden. Es ist auch scharf abzugrenzen vom «Wohlstandsevangelium» oder «Prosperity Gospel», das ein Leben in Christus gerade als ein wohlstandsmässig gesegnetes Leben versteht. Der Glaube könnte in einer Predigt über Joh, die sensibel für die Nachhaltigkeitsdimension ist, gerade als ein Freisein von den Zwängen einer konsumistischen und nach immer mehr strebenden Existenzweise profiliert werden. Der Glaube an Christus führt gerade weg von einer um Selbsterhaltung und materiellen Überfluss kreisenden Existenz. Das «Leben in Fülle» ist ein Leben ohne die Sorge, zu kurz zu kommen (im Sinne von: weniger als andere) und von allem immer mehr haben zu wollen. Es ist ein Leben «in der Welt», das sich aber nicht nach den Kriterien unserer kapitalistischen Welt richtet.

 

Hab 1, 2-3; 2, 2-4

Diese Perikope weist in unseren Augen keine nennenswerten Bezüge zu Nachhaltigkeitsthemen auf.

 

2 Tim 1, 6-8.13-14

Die Perikope ist v.a. für V. 7 bekannt, wo der Geist der Verzagtheit dem Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit entgegengesetzt wird. In nachhaltigkeitssensibler Perspektive kann dies auf die Verzagtheit bezogen werden, die einen leicht befällt, wenn man auf den Zustand des Planeten und die erdrückenden ökologischen Probleme unserer Zeit blickt. Wer im Klima- oder Tierschutz aktiv ist, kennt diese Niedergeschlagenheit sehr gut, die durch die Tatsache noch verstärkt und verschlimmert wird, dass weite Teile der Bevölkerung und auch der Christenheit diesen Zuständen recht gleichgültig gegenüberzustehen scheinen. Es wird nicht weniger, sondern immer mehr geflogen; der Fleischverzehr pro Kopf nimmt in Ländern wie Deutschland oder der Schweiz nicht ab; gerade die Kirchen, die sich gerne ihres Ethos des Mitgefühls und der «Option für die Armen» rühmen, fehlt es – anders als etwa beim Thema Migration – bei Klimaschutz, Tierschutz und Förderung der pflanzlichen Ernährung an prophetischem Engagement. Das ist deprimierend, zumindest für Menschen wie mich, für die die ausbeuterische Seite des Kapitalismus besonders drastisch an unserem Umgang mit den sog. «Nutztieren» sichtbar wird.

2 Tim 1 erinnert uns daran, dass das Einstehen für das Evangelium kein konservatives Festhalten am Bestehenden (und vermeintlich «Normalen») meint, sondern ein Zeugnisablegen für ein im Grunde revolutionäres Geschehen ist: «JHWH ist», wie Jürgen Manemann in seinem Plädoyer für ein revolutionäres Christentum[5] schreibt, «eine revolutionäre Gottheit» (14). Auferstehung ist für ihn das Kennzeichnen einer christlichen Lebensform:

«Die christliche Auferstehungshoffnung beinhaltet die Weigerung, den Tod anderer einfach zu akzeptieren. Das gebietet allein schon die Liebe. […] Auferstehung als Lebensform bedeutet,

  • jegliche Komplizenschaft mit dem Tod zu verweigern
  • im alltäglichen Leben gegen die vielen Tode anzukämpfen: den Tod durch Verlassenheit, den Tod durch Unsichtbarkeit, den Tod durch Apathie, den Tod durch Bequemlichkeit und Zufriedenheit, den Tod der Vergessenheit…,
  • immer wieder aufs Neue aufzustehen gegen Entfremdungen, Ungerechtigkeiten…,
  • das Leben vor dem Tod zu feiern.» (29f.)

Manemann schärft dabei ein – was gerade in den Kirchen mit ihrem traditionell starken Anthropozentrismus bedeutsam ist –, dass hier nicht nur der Tod von Menschen im Blick ist. Er fordert die Kirchen auf, Teil einer «Revolution für das Leben» zu werden und unsere Vorstellung von Humanität auf den Prüfstand zu stellen: «Wenn wir wissen wollen, wie es um unsere Humanität bestellt ist, sollten wir, so hat es der Schriftsteller Milan Kundera vorgeschlagen, den Blick auf die Lebewesen richten, die voll und ganz von unserer Barmherzigkeit abhängen: die Tiere. Unser Versagen», so kommt Manemann zum Schluss, «ist hier offensichtlich.» (71)

Kann «Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit» nicht auch bedeuten, dass Christ:innen endlich zur Besinnung kommen und in der Rückbesinnung auf die revolutionäre Kraft der Liebe die Energie finden, sich für eine Abkehr vom vermeintlich «normalen» konsumistischen Lebensstil zu entscheiden?

 

Lk 17, 5-10

Ein Sklave ist zum Arbeiten da – das ist der Stoff, aus dem dieses Gleichnis geschöpft wird, das zu den «bewegendsten und vielleicht auch ärgerlichsten Gleichnisse Jesu» zählt, wie Gerhard Lohfink[6] ausführt; und er fährt fort:

«Man sollte das Bild, das mithilfe dieses Stoffes von den ‘Sklaven Gottes’ gezeichnet wird, nicht verschleiern oder gar retuschieren. Es ist erschreckend. Jesus geht hier offenbar bis an die Grenzen des Sagbaren, um eine bestimmte Seite gläubiger Existenz zu verdeutlichen. Glaube ist reiner Dienst, der keine Forderungen stellt, keine Ansprüche geltend macht, nicht auf Anerkennung aus ist, nicht auf sein Recht pocht und einem ‘Anderen’ Recht über sich einräumt.» (207).

Die Schroffheit, mit der hier der ethische Anspruch des Glaubens angesichts der herannahenden Gottesherrschaft vorgebracht wird, ist für heutige Ohren verstörend.[7] Aber vielleicht ist es in unseren verbürgerlichten Kirchen auch nötig, die Radikalität der Verkündigung Jesu hervorzuheben. Ist vielleicht sogar diese Radikalität nötig, um uns angesichts der drohenden Klimakatastrophe aufzuwecken aus dem Schlaf der Sicherheit und Selbstzufriedenheit, in dem uns ein braves Evangelium des Trosts und der Gnade hält? Den Geist dieser Radikalität atmet ein Zitat von Johann Baptist Metz:

«Die Krise (oder die Krankheit) des kirchlichen Lebens besteht (…) nicht nur darin, dass diese Umkehr nicht oder zu wenig stattfindet, sondern dass das Ausbleiben der Umkehr der Herzen unter dem Schein eines nur geglaubten Glaubens auch noch verschleiert wird. Kehren wir Christen in diesem Land um, oder glauben wir lediglich an die Umkehr und bleiben unter dem Deckmantel der geglaubten Umkehr die alten? Folgen wir nach, oder glauben wir nur an die Nachfolge und gehen dann unter dem Deckmantel der geglaubten Nachfolge die alten, immer gleichen Wege? Lieben wir, oder glauben wir an die Liebe und bleiben unter dem Deckmantel der geglaubten Liebe die alten Egoisten und Konformisten? […] Denn theologisch ist ja gerade darauf zu achten, dass uns die Berufung auf die Gnade nicht jener Gnade gerät, die wir mit uns selbst haben.»[8]

Dr. Christoph Ammann, Zürich

Fußnoten:

[1] Jean Zumstein, Das Johannesevangelium, Göttingen 2016. Die weiteren Seitenzahlen dieses Abschnitts beziehen sich auf dieses Buch.

[2] François Jullien: Ressourcen des Christentums, Gütersloh 2019.

[3] Vgl. dazu z.B. Stephan Lessenich: Neben uns die Sintflut. Wie wir auf Kosten anderer leben, Berlin 2016 oder Maja Göpel: Unsere Welt neu denken. Eine Einladung, Berlin 2021.

[4] Vgl. z.B. Corine Pelluchon, Manifest für die Tiere, München 2020 und Alice Crary / Lori Gruen: Animal Crisis, Cambridge / Medford 2022.

[5] Jürgen Manemann, Revolutionäres Christentum. Ein Plädoyer, Bielefeld 2021.

[6] Gerhard Lohfink, Die vierzig Gleichnisse Jesu, Freiburg 2023 (7. Aufl.)

[7] Lohfink weist aber zurecht darauf hin, dass andere Gleichnisse einen ganz anderen Aspekt akzentuieren und in Jesu Verkündigung eine eigentliche Dialektik von Freiheit und Unfreiheit und von Verzicht auf jeden Gedanken an Lohn und überreichem Lohn herrscht. (vgl. ebd., 208).

[8] J.B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion, 11f. (zit. nach Manemann, Revolutionäres Christentum, 75).