Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr / 33. Sonntag im Jahreskreis (19.11.23)

Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr / 33. Sonntag im Jahreskreis

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
Mt 25,31-46 Spr 31, 10-13.19-20.30-31 1 Thess 5, 1-6 Mt 25, 14-30

Vorbemerkung

Ich entscheide mich für die eschatologisch ausgerichteten Texte: Mt 25, 31-46 „Vom Weltgericht" sowie für den 1. Thess. 5,1-6. Beide Texte verbindet die verändernde Kraft des kommenden Reiches Gottes. Es sind die Predigttexte des vorletzten Sonntags im Kirchenjahr, des 33. Sonntags im Jahreskreis und somit des Sonntags der Friedensdekade 2023.

Ich frage nach der friedens- und hoffnungsstiftenden Kraft der Texte für das gesellschaftliche Engagement von Christ*innen und Kirche. Welche (Aufbruchs-)Impulse gehen vom Glauben an das kommende Reich Gottes aus, angesichts bedrückender Zukunftsperspektiven und transformativer Mammutaufgaben? Wie korrespondieren angesichts des Ukrainekriegs Kerngedanken der Texte mit dem Ziel 16 der globalen Nachhaltigkeitsziele (SDG) „Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen"?

Situative Einordnung

Ich schreibe diesen Text im Juni 2022, etwas mehr als 100 Tage nach Kriegsbeginn in der Ukraine. Am 24. Februar 2022 hat die russische Staatsführung unter Putin einen mörderischen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen, der bereits tausende Opfer gefordert hat mit schrecklichen Kriegsverbrechen an der Zivilgesellschaft. 5,1 Millionen Menschen sind zurzeit in europäische Nachbarstaaten geflüchtet. Mehr als 7 Millionen sind in der Ukraine auf der Flucht. In der Ostukraine haben mehrere Millionen Menschen keinen Zugang zu fließendem Wasser. Die Ukraine erhält u. a. von Deutschland Waffen zur Verteidigung. Nato-Staaten und die EU haben umfangreiche Sanktionen gegen die russische Wirtschaft und das Finanzsystem betreffend beschlossen. Umgekehrt droht gerade ein umfassender Lieferstopp für Erdgas durch Russland, der Deutschland mit seiner großen Abhängigkeit vom russischen Erdgas besonders trifft.

Alte Gewissheiten haben keinen Bestand mehr. Der Krieg hat die friedensethische Debatte in Deutschland verändert. Aber nicht nur diese. Es geht nun auch darum, die bisherigen klima- und energiepolitischen Ziele mit sicherheitspolitischen Zielen (Abkehr vom russischen Gas) zu verknüpfen. Dadurch wird einerseits die Transformation des Energiesektors - weg vom russischen Erdgas - beschleunigt und im besten Fall „nachhaltig" befördert. Andererseits besteht jedoch die Gefahr von neuen, nicht-nachhaltigen Abhängigkeiten, z. B. von Flüssiggas und Steinkohle. Auch eine Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken wird zurzeit diskutiert. Eine hohe Inflationsrate - u.a. ausgelöst durch hohe Energiepreise – droht, die Armut in Deutschland zu vergrößern und soziale Spaltungen zu vertiefen.

Exegetische Anmerkungen

Die eschatologische Rede vom Weltgericht (Mt. 25,31-46) ist Sondergut des Matthäus. Sie knüpft an eine traditionelle Bildsprache an, bei der der König (und Richter) Gott ist und die in Palästina übliche, nächtliche Trennung von Schafen und Ziegen (Böcke) dem Gericht entspricht. Nächstenliebe und Barmherzigkeit sind der Maßstab für das Urteil. Die Menschen werden an ihren Taten gegenüber den Schwächsten und Schutzbedürftigsten gemessen.

Der 1. Brief des Paulus an die Thessalonicher ist ein genuiner Paulusbrief. Paulus hatte selbst die Gemeinde gegründet. Wobei sein Auftreten in Teilen der Bevölkerung einen Tumult auslöste. Nun schreibt er der neu entstandenen Gemeinde und versucht, sie mit dem Blick auf die bevorstehende Wiederkunft Christi in ihren Bedrängnissen zu trösten.

Die urchristliche Naherwartung, von der die beiden Texte geprägt sind, hat sich buchstäblich nicht bewahrheitet. Dennoch verweisen uns beide Texte auch heute noch auf eine andere, bessere Welt, die im Lichte der Zukunft möglich ist.

Nachhaltige Predigtideen

1. Beide Bibelstellen erinnern uns an eine zentrale Verheißung des christlichen Glaubens: Trotz allem - trotz Krieg, Not und Katastrophen - kommt Gottes Reich auf uns zu.

2. Es gibt dieses Reich bereits mitten unter uns: oft im Verborgenen, »sub contraria specie« (unter dem Anschein des Gegenteils). »Denn siehe ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihrs denn nicht.« (Jesaja 43,19).

3. Das Neue ist, weiß Gott, angesichts des Kriegs, der Hungerkrise, der Nahrungsmittelspekulation, von Flucht, immer schnellerer Klimaveränderung und (immer noch) Covid 19 schwer zu erkennen. Und dennoch gilt Gottes Verheißung: Nicht das Böse wird das letzte Wort haben, sondern die Liebe. Nicht der Tod, sondern das Leben!

4. Ich habe in diesen Tagen des Ukrainekriegs oft Dietrich Bonhoeffer gelesen. Ich habe mich von seinem Glauben und seiner Hoffnung trösten und faszinieren lassen, von seiner Lebensenergie, von seinem Mut, in schweren Situationen zu handeln. Bei Bonhoeffer habe ich den „tätigen" Glauben gefunden, die Opfer (wie er es formulierte) „unter dem Rad zu verbinden" und „dem Rad gleichzeitig in die Speichen zu greifen". Immer wieder ging er dabei - verantwortungsethisch abwägend - das Risiko ein, schuldig zu werden.

5. Die Androhung und Ausübung von Gewalt sind nach christlich-ethischer Vorstellung strikt an die Aufgabe gebunden, in der nicht erlösten Welt für Recht und Frieden zu sorgen. Dies gilt im Besonderen für den Staat (Barmen V). Die gerade von Deutschland und anderen Staaten geleistete Waffenhilfe kann daher nur die „Ultima Ratio" sein, den überfallenen ukrainischen Staat dabei zu unterstützen, seiner Verpflichtung nachzukommen, für Recht und Frieden zu sorgen. Das ist kein Gutheißen von Krieg, sondern unmittelbare Nothilfe. Dabei muss immer kritisch gefragt werden, ob (und wie) die Lieferung und der Einsatz von Waffen tatsächlich dem Schutz der Menschen und ihrer Rechte gelten. „Es muss darum gehen, das Recht der Einzelnen auf ein Leben in Freiheit und Würde zu verteidigen. Verteidigt werden muss deshalb auch die Souveränität des Staates, der dieses Recht schützt und garantiert." (Annette Kurschuss, Jenseits von Eden" FAZ 07.06.2022). Dies ist die Grundlage für eine friedliche, inklusive Gesellschaft und damit auch die Grundlage für die Verwirklichung der Ziele von SDG 16. Daran ist alles Handeln zu messen. Oft ist dies ein schwerer verantwortungsethischer Abwägungsprozess (s.o. Bonhoeffer), in dem es kein einfaches „richtig" und „falsch" gibt, sondern ein- egal wie die Entscheidung ausfällt – Schuldigwerden.

6. Christinnen und Christen und der Kirche wird in dieser Situation eine zentral wichtige Orientie-rungsaufgabe gegeben. Im Gegenüber zum Staat erinnert die Kirche auch und gerade in dieser Situation an „Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten" (Barmen V). Das bedeutet: Es gibt kein sich schicken in die Logik des Krieges, sondern gerade jetzt gilt es, an das Reich Gottes zu erinnern und mit dem Blick auf das kommende Reich nach dem zu fragen, was über das brutal Vorfindliche hinaus geht, was Jesu Vision von der besseren Gerechtigkeit dient und der Verfeindung eine Entfeindung entgegensetzt. Nun geht es darum, den „Frieden zu fertigen" (Matth. 5, 9). Hierfür sind beide Bibelstellen voller Ermutigung und positiver Impulse.

7. Auf je ihre Weise ermutigen sie, damit zu rechnen, dass die Welt nicht an ihrem „So Sein", an Krieg und Hunger erstickt. Auf je ihre Weise ermutigen beide Texte, damit zu rechnen, dass es (positive!) „Kipppunkte" und „Disruptionen" geben kann, und wir alle eingeladen sind, das uns Mögliche dafür zu tun: Dass „der Frieden ausbricht", dass Not, Flucht Klima und Umweltzerstörung ein Ende finden.

8. Besondere Aspekte von Matthäus 25,31-46
Das Weltgericht mit dem plötzlich einbrechenden Reich Gottes zeigt zunächst, wie schonungslos realistisch, ja illusionslos die Bibel auf unsere Welt schaut. Bis zum Kommen des Menschensohns gibt es Hunger, Durst, „nackte" Armut, Krankheit und Repressalien (Gefängnishaft). Oder wenn wir es abstrakter betrachten: Da wird eine Welt beschrieben, die an schlechter Regierungsführung und korrupten Rechtssystemen unendlich leidet, bei der Unterernährung und Dürre, Krankheit, Flucht und früher Tod ein Normalzustand sind.

Aber dies ist kein ehernes Gesetz: Denn - auch das lehrt die Rede vom Weltgericht - es gibt ebenso Menschen, die sich damit nicht abfinden wollen, die sich dagegen massiv auflehnen, die auf unterschiedlichste Weise helfen, dass diese brutalen „Mangelzustände" sich bessern, dass Hunger, nackte Armut, Krankheit besiegt, dass Fluchtursachen bekämpft und korrupte Rechtssysteme beseitigt werden. Wir erkennen hier die Umrisse einer starken Zivilgesellschaft. Und wir erkennen auch die Grundzutaten einer friedlichen, inklusiven Gesellschaft, wie sie im Zentrum von SDG 16 stehen:

»Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich be-sucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. (...). Wahrlich ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. (...) Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.«

Die Rede vom Weltgericht lehrt uns: Es geht bei allem, was die Strategien für eine menschenge-rechte Zukunft und die großen Transformationsprozesse betrifft, diese von den „Rändern" her zu denken. Wir müssen unsere gesellschaftliche Verantwortung konsequent aus einer sozial-ökologischen Perspektive entwickeln, die benachteiligte und einkommensarme Menschen ausdrücklich miteinschließt, sie beteiligt und ihre Position verbessert. Gerade mit Blick auf die, die in Hunger und nackter Armut leben: Es ist notwendig, mit gerechter Verteilung des Reichtums, mit Effizienz- und Suffizienzstrategien Wege in eine sozialgerechte Postwachstumsgesellschaft zu bahnen. Es geht um einen Wohlstand, der verallgemeinerungsfähig ist, ein Wohlstand, den alle Menschen leben können, ohne dass die planetaren Grenzen zerbrechen. Es geht um einen „Wohlstand für eine bessere Welt aller". Das bedeutet: Nicht nur „die" Industrie wird sich transformieren müssen, sondern auch wir selbst. Wir werden lernen, einfacher zu leben, damit alle Menschen menschenwürdig leben können. Jesus ermutigt uns explizit dazu.

9. Besondere Aspekte von 1 Thess 5, 1-6
Auch hier ist die Beobachtung wichtig, dass der Tag des Herrn für die Gerechten, wie ein „positiver" Tipping point kommt, ein, von vielen vorher nicht erkennbarer Paradigmenwechsel, der die Verhältnisse auf den Kopf stellt. Wie der Fall der Mauer für viele unvorhersehbar war, haben viele, besonders die Herrschenden, den plötzlichen Ausbruch des Friedens, die Überwindung von Zerstörung, Flucht und Tod nicht auf ihrer Rechnung. Diese Etablierten, die von „Frieden und Sicherheit" reden und das Gegenteil meinen, sie werden Opfer ihrer eigenen Verfeindungen. Wenn sie sagen: »Friede und Sicherheit«, dann überfällt sie schnell das Verderben wie die Wehen eine schwangere Frau, und sie werden nicht entrinnen.

Den dunklen Seiten des Menschseins stellt der Text das Licht des Glaubens und nüchterne Han-deln der Christ*innen gegenüber - vielleicht in Anspielung auf das weltverändernde Engagement der Christ*innen, die berufen sind, Salz der Erde und Licht der Welt zu sein.

Ihr aber seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme. Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis.

10. Schlussimpuls für beide Texte
Nicht auf ein dunkles Loch gehen wir zu, sondern auf einen neuen Himmel und eine neue Erde. Deshalb (in Anlehnung an D. Bonhoeffer): Lasst uns beten, lasst uns aus der Kraft des Gebets das Gerechte tun und lasst uns warten auf Gottes Zeit. Denn sein Reich kommt.

Klaus Breyer, Schwerte