1. Adventsonntag (27.11.16)

1. Advent [III/A]

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
Jer 23, 5-8 Jes 2, 1-5 Röm 13, 11-14a Mt 24, 37-44 od.
Mt 24, 29-44

Jesaja 2, 1-5  

Die „Jerusalemer Bibel“ gibt der Perikope von Jes 2, 1-5 die Überschrift  „Der ewige Frieden“. Doch in eine friedliche Welt ist der Text nicht hineingesagt: Das sind Worte, verkündet in eine Zeit kriegerischer Auseinandersetzungen, Bedrohungen, Eroberungen gegen  Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr., als  die Königreiche Israel und Juda zwischen den damals rivalisierenden Großmächten Assyrien und Ägypten hin- und hergerissen wurden und in den Kriegen am Ende schließlich untergingen. Und doch ist der Text eines der ganz großen Worte des Friedens. Vorausgegangen waren in Kapitel 1 Drohworte und Untergangsankündigungen gegen das Volk Juda und die Stadt Jerusalem wegen der Verkehrung von Recht und Sitte, und dann kommt die große Wende zur heilsgeschichtlichen Bedeutung Israels und zum Ewigen Frieden. Der Text schlägt bereits einen Bogen zur späteren Verkündung von Deuterojesaja (Jes 51, 4). Jes 2, 1-5 mag in der komplexen Entstehungsgeschichte des Buches Jesaja vielleicht als Klammer gedient haben, die verschiedenen Teile kanonisch zusammenzuführen.

Das ist das Bild: Zum „Berg Jahwes“ werden die Völker strömen, das ist die Verkündung: weit über Israel hinaus wird von „Zion“ aus das Gesetz Jahwes für alle Nationen gelten, das ist die Verheißung: “Schwerter zu Pflugscharen und Speere zu Winzermessern“.  Später wird der Prophet diese Verheißung des Friedens in neuen Bildern wiederholen: Jes 11, 6: „Dann wohnt der Wolf bei dem Lamm und lagert der Panther bei dem Böcklein ... der Löwe nährt sich wie das Rind von Stroh...“.

Der Ewige Frieden des Jesaja ist nie geschichtliche Wirklichkeit geworden. Das Wort war wohl auch so nie gemeint, als ob in der irdischen Lebenszeit der Menschen, damals wie heute, jemals der Ewige Frieden als reale, geschichtliche, ja politische Wirklichkeit eintreten würde. Die Verkündung des Propheten ist eine heilsgeschichtliche, die über die Profangeschichte hinausreicht. Der Ewige Frieden hat eschatologische, transzendentale Dimension.

Doch mit dem Verweis auf die Transzendenz allein wird man dem Text nicht gerecht. Die Exegese darf einerseits nicht voraussetzen, dass in der israelitischen Prophetie des 8. Jahrhunderts v. Chr. bereits die Vorstellung eines Jenseits entwickelt ist, in das der Ewige Friede hineinprojiziert werden könnte, und kann andererseits vernünftigerweise nicht annehmen, dass der Verfasser des Textes dessen buchstäbliche irdische Erfüllung vielleicht noch zu seinen Lebzeiten erwartet haben könnte. Man wird den Text vielmehr in eine Kategorie einordnen müssen, in der Jenseits und Diesseits nicht geschieden sind: in die Utopie.

In der Tat, mit Utopie wird eine Vorstellung bezeichnet, in der sich irdische Wirklichkeit und unerreichbares Ideal durchdringen. Der „Geist der Utopie“ (Ernst Bloch) bezeichnet keine reale Wirklichkeit, aber auch keine jenseitige Realität. Utopie ist die Projektion der Hoffnung auf eine bessere Welt in die geschichtliche Zukunft hinein. Utopie ist mehr als Zukunftsprognose, aber weniger als Eschatologie. Auf die gegenwärtige geschichtliche Situation des Lebens gewendet, ist sie Anleitung zum gegenwärtigen Leben in der Perspektive auf eine durch menschliches Zutun herbeiführbare bessere Welt. Ist die bessere Welt auch nur asymptotisch erreichbar, bleibt sie inneres Movens zeitlichen Handelns.

Im Blick auf den Propheten hat der Ewige Friede als Utopie einen doppelten Sinn: Er ist Auftrag und Verheißung. Auftrag, insofern der Ewige Friede vom sittlichen Handeln des Menschen abhängt und daher mit relativer, asymptotischer Annäherung im irdischen Leben erreicht oder erstrebt werden kann; Verheißung, indem Gott selbst „in der Folge der Tage“ (Jes 2, 2), das irdische Leben übersteigend,  die Vollendung schenkt. Der Ewige Friede des Jesaja meint schon den Frieden in dieser Welt. Aber die Vollendung, wie auch immer, ist das Werk Gottes.

Damit rückt der Friede in die Dimension menschlichen Handelns in dieser Welt. Dies gilt, auch nach dem Propheten, umso mehr, als der Unfriede Folge menschlichen Handelns und menschlicher Schuld ist. Gibt es aber ein Handeln für den Frieden, kommen die Bedingungen des Handelns und die Ursachen des Unfriedens in den Blick. Da setzt der Prophet denn auch die Maßstäbe, indem er immer wieder die Verletzung der Gerechtigkeit, ja der sozialen Gerechtigkeit anprangert und mit Drohworten belegt.  Gewiss, die Schuld der Menschen besteht in seinem Kontext in der Übertretung des mosaischen „Gesetzes“; aber das „Gesetz“ reicht in seiner Innentendenz weit über den israelitischen Kult hinaus, enthält Maßstäbe einer globalen Gerechtigkeit, die auf alle Zeiten übertragbar ist.

Bedingung des Friedens ist Gerechtigkeit. Gerechtigkeit zielt auf das irdische Leben. Alle Menschen, und nach dem Propheten nicht nur die Israeliten, sollen gleichermaßen teilhaben an den irdischen Gütern, damit ihr Leben gelingen kann. Das Leben kann gelingen, wenn es eine gerechte Ordnung der Güter und der Freiheiten gibt. An einer solchen Ordnung zu arbeiten und festzuhalten, ist sittliches Gebot. Dieses Gebot zielt sowohl auf die individuelle Verantwortung als auch auf das kollektive Handeln im Gemeinwesen. Es variiert je nach Situation und Handlungsraum, das ist selbstverständlich, liegt aber über allem Handeln.

In der Gegenwart und wohl auch nahen Zukunft ist die global ungerechte Verteilung der materiellen Güter eine Ursache des Unfriedens. Davon wird in Politik und Kirche viel gehandelt. Dabei ist in jüngerer Zeit ein Aspekt besonders ins Blickfeld geraten: Die einseitige und übermäßige Nutzung der natürlichen Ressourcen für Zwecke der menschlichen Wirtschaft. Auch zeichnen sich schon Kriege um Wasser, Boden und Jagdgründe ab. Das Problem bewegt die Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche. Papst Franziskus hat das globale Umwelt- und Ressourcenproblem mit der Enzyklika „Laudato si“ von 2015 signifikant auf den Begriff gebracht. Die Politik hat den Inbegriff globalen Handelns für die Erhaltung der natürlichen Ressourcen „nachhaltige umweltgerechte Einwicklung“, kurz „Nachhaltigkeit“ genannt. Dies meint, dass der Zugriff auf die natürlichen Güter wie Wasser, Luft, Boden und Biosphäre nicht weiter gehen darf als es die natürliche Regeneration zulässt und dass die Verbringung der Abfallprodukte menschlicher Wirtschaft in die natürlichen Medien Wasser, Boden und Luft nicht weiter gehen darf als deren Belastbarkeitsgrenze. Dieses Konzept lässt sich im Einzelnen in unendliche Handlungslinien ausziehen. Für das individuelle Leben läuft es auf die Frage zu, was als Konsum „genug“ oder als „Lebensstil“ verantwortbar sein mag. Geht es denn in der Tat um die Frage, wie die materiellen Bedingungen menschlichen Lebens auf der Welt für alle „gerecht“ bewahrt werden können. In dem ökumenischen Projekt „Nachhaltig Predigen“ ist davon viel die Rede.  

Nun mag dem Konzept der „Nachhaltigkeit“ ein utopischer Zug innewohnen. Es verlangt ja nicht mehr und nicht weniger als Maß und Beschränkung. Es läuft damit menschlicher Grunddisposition zuwider. Doch wie soll ohne eine Utopie, die immerhin bisher schon die Kraft hatte, umfassende politische und wirtschaftliche Handlungsansätze auf den Weg zu bringen, überhaupt ein gangbarer Weg in die Zukunft gefunden werden? Ohne die Utopie der Nachhaltigkeit versinkt die Welt in Chaos und Unfrieden. Die Utopie weist immerhin Wege zum Frieden.

In den Worten des Propheten sind „Schwerter“ und „Speere“ Instrumente des Krieges. Sie in Mittel zur Erzeugung von Nahrung und Lebensfreude zu verwandeln, sind sein ebenso utopisches wie hellsichtiges Ziel. „Pflugscharen“ und „Winzermesser“ sind, ohne dass man den Text zu trivialisieren oder überzuintepretieren braucht, „nachhaltiger“ als die Waffen des Krieges.   

Den Ewigen Frieden wird es auf dieser Welt nicht geben. Wege zum Frieden aber gibt es sehr wohl. Und die Hoffnung. Alles Andere ist Gottes.

Röm 13, 11-14

Mit „Das Leben der Glaubenden“ überschreibt die Einheitsübersetzung, mit „Ermahnungen“ die Jerusalemer Bibel  die Folge der Unterweisungen des Apostels Paulus im Brief an die Römer in den Kapiteln 12-15,13.  Diese Unterweisungen sind gleichsam der Ausklang, die lebenspraktische Umsetzung der großen Theologie des Römerbriefes, die der Apostel zuvor entwickelt hat. Die Forschung spricht von einer „katalogartigen Sammlung von Maximen, Sentenzen und Weisungen“ (Michael Theobald: Der Römerbrief, Darmstadt 2000, S. 301); gleichwohl stehen die Weisungen in einem umfassenden theologischen Bezugsrahmen sowohl alttestamentlicher als christologischer und eschatologischer Dimension. Die „Unterordnung unter die Obrigkeit“ (Röm. 13, 1-7) nimmt hier eine prominente, aber auch gesonderte Rolle ein.  Die Zeit- und Situationsbezogenheit einzelner Aussagen kann dabei nicht ausgeschlossen werden.

Der Perikope vom Röm. 13, 11-14  geht ein Satz voraus, der ihr erst den Stellenwert gibt:  „So ist die Liebe die Vollendung des Gesetzes.“ (Röm. 13, 10b).  Das ist die Botschaft Jesu Christi schlechthin.  Das ist die Theologie des Paulus. Vor diesem Horizont stehen Leben und Handeln des Christen in der Welt. Die Weisungen zielen auf  das Leben in dieser Welt, geben dem irdischen Handeln Grund, Richtung und Ziel. Aber es geht nicht nur um das Leben in der materiellen, physischen, vorfindlichen Welt, es geht um das Leben in der Weltzeit, im καιρος, in der „Zeitlage“ (Jerusalemer Bibel).  „Erkennt“ die Zeit, heißt es zu Beginn der Perikope (Röm. 13, 11a): Im καιρος wird die Liebe Gottes alle Zeit, den χρονος der Uhr, übergreifend und unwiderruflich, im absoluten Augenblick offenbar. Das ist die Parusie, die keines weiteren „Eintritts“ mehr bedarf (Karl Barth: Der Römerbrief, 11. Abdr., Zürich 1976, S. 484). In dieser „Zeit“ steht das Leben des Christen, in der Spannung zwischen Welt und Ewigkeit.

Diese Spannung bezeichnet die spezifische Existenz des Christen in der Welt. Das Leben ist nicht die Abfolge des Zeitkontinuums, in dem es dann auch sein Ende findet. Es erfüllt sich nicht in den irdischen Dingen. Es ist ein Leben vor dem Horizont der Liebe Gottes, die alle Zeit und Welt übergreift,  in der Öffnung für diese Liebe und in deren realer Erfüllung gegenüber dem Nächsten. In einem solchen Leben gibt es „Schlaf“ und „Erwachen“ (Röm. 13, 11b), gibt es Aufstieg (Röm. 13, 112a) und „Finsternis“ (Röm 13, 12b), gibt es als Möglichkeit den Abgrund (Barth, a.a.O, S. 486) und die Ausschweifung (Röm. 13,13) – und doch ist das „Heil“ nahegekommen (Röm. 13, 11c).

Es ist ein Leben im Vorläufigen, und doch im Absoluten.  Es mag scheitern, ist aber nicht verloren. Und es steht eben auch unter den Bedingungen der physischen Existenz. Auch diese gilt es mit praktischer Ethik zu bewältigen. Paulus spricht davon, daß die „Werke der Finsternis“ abgelegt und die „Waffen des Lichts“ angelegt werden sollen (Röm. 13, 12b). Das erinnert an die „Christliche Waffenrüstung“ in Eph. 6, 11-17. Ins Weltliche gewendet ist die „Christliche Waffenrüstung“ die Abkehr von Zerstörung, Haß, Verblendung, Hochmut, Ungerechtigkeit und der Einsatz von Mitteln des Friedens und der Gerechtigkeit, aber auch der klugen Erkenntnis als dem „Schwert des Geistes“ (Eph. 6, 17) und der Selbstgewißheit des Glaubens („der Gürtel der Wahrheit, der Panzer der Gerechtigkeit“, Eph. 6,14;  „das Schild des Glaubens“, Eph. 6, 16; „der Helm des Heiles“, Eph. 6, 17). Die Weisungen, die in die Welt gehen, sind normative Leitbilder des objektiv Richtigen, verlangen nicht pazifistische Unterwerfung oder kleinmütige Verzagtheit, sondern begründen einen geistigen Kampf um Frieden und Gerechtigkeit in der Welt.  „Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ (Matth. 10, 34). Und so stellt sich denn auch der Zusammenhang zur Rede von der „Obrigkeit“ her, der der Christ Gehorsam schuldet, insofern diese das „Gute“ im Sinne der Gerechtigkeit und des Friedens tut (Röm. 13, 1-7).  

So versteht sich auch der kleine, für Paulus typische  „Lasterkatalog“  in Röm. 13, 13. Die „Laster“ sind die Maßlosigkeit und die Selbstsucht, die Verabsolutierung der leiblichen Existenz (Röm. 13, 14: „das lüsterne Fleisch“). Das „Fleisch“ bedarf gewiß der physischen Pflege, aber nicht in dem Maße, daß es die Hinwendung zu Gott und dem Nächsten  vergißt.  Die notwendigen Bedingungen für das physische Leben sind unabwendbar, aber wenn die Erfüllung dieser Bedingungen das erforderliche Maß überschreitet, werden dem Nächsten eben diese Bedingungen genommen: Selbstsucht ohne Maß nimmt hier und jetzt und für die Zukunft, was der Nächste hier und jetzt, was  der Mensch für die Zukunft braucht.

Wer den „Herrn Jesus Christus anzieht“ (Röm. 13, 14), indem er sich mit den „Waffen des Lichts“ rüstet (Röm. 13, 12b) und im physischen Leben Maß hält, führt in dieser Welt, wenn man so will,  gewiß auch ein „nachhaltiges Leben.“

 

Matth 24, 29-44

Die Perikope Matth. 24, 29-44 ist Teil der großen „Rede über die Endzeit“ (Einheitsübersetzung) von Matth. 24, 1-51.

Die „Rede über die Endzeit“, in mehreren Varianten überliefert (Mk. 13, 1-37; Lk. 21, 5-36), hat seit jeher Fragen aufgeworfen.

Die eine Frage ist diejenige nach der historischen Authentizität. Hat Jesus wirklich eine solche oder ähnliche Rede gehalten oder sich sonst im Sinne einer solchen Rede geäußert?  Diese Frage geht aber über in die weiter ausgreifende Frage, ob und inwieweit die synoptischen Evangelien überhaupt historisch authentische Reden und Lebenszeugnisse Jesu enthalten. Sind sie doch lange nach Jesu Tod schriftlich abgefaßt worden und setzen sie demnach eine mündliche und damit eine nicht streng historischen Kriterien entsprechende  Tradition in der Urkirche voraus. Zudem ist anerkannt, daß die Evangelien aus der „nachösterlichen Sicht“ heraus entstanden sind und die Überlieferung der Worte Jesu von diesem Standpunkt aus interpretieren.  Schließlich gibt es Anzeichen, daß jedenfalls die Endzeitreden von der späteren Erfahrung der Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. geprägt sind. Auch ist die Sprache der Apokalyptik jedenfalls nicht originär eine Ausdrucksform Jesu, sondern bereits in den späten Propheten des Alten Testamentes vorgezeichnet (Sacharja, Daniel).  Andererseits läßt die gleich dreifache Überlieferung bei den Synoptikern und die auf jeden Fall „eschatologische“ Dimension der Botschaft Jesu, was diese immer auch bedeuten mag, darauf schließen, daß der Überlieferung ein historischer „Kern“ von Worten Jesu zugrundeliegt. Doch diese Frage mag hier letztlich dahingestellt bleiben.

Die andere Frage besteht darin, wie die Ankündigung der „Endzeit“ überhaupt zu verstehen ist. Immerhin enthält die Endzeitrede drastische Aussagen zu einem Weltuntergang als buchstäblicher kosmischer Katastrophe. Ein Weltuntergang in diesem Sinne hat bisher aber nicht stattgefunden. Das hat in der Kirchengeschichte teilweise zu einer Enttäuschung über die ausgebliebene „Parousie“, teils aber auch, bis in die heutige Zeit, zu einer aktuellen Nah-Erwartung eben dieser Weltkatastrophe seitens bestimmter Sektenbewegungen geführt. Wenn nicht überhaupt der Unglaube sich im Nichteintritt der „Prophezeiung“ bestätigt sieht. So haben denn Kirche und Theologie immer wieder vor der Frage gestanden, wie wörtlich oder wie übertragen der Text zu verstehen ist, in welchem Verhältnis die Vorstellung von einem physischen Weltuntergang zur angekündigten „Wiederkunft Christi“, zur „Parousie“ steht, wie überhaupt der Bruch der im Alten Testament noch vorgestellten Einheit von Messianismus, Weltuntergang und Reich Gottes zu deuten ist. Hat doch insbesondere das „Reich Gottes“ im Neuen Testament bis ins Vaterunser hinein (Matth. 6, 10) eschatologische Dimension. Ist die „Endzeit“ nur der physische Tod des individuellen Menschen und damit der letzte Ernst seiner Existenz? Ist „Endzeit“ die je und je sich ereignende „Ankunft“ des Reiches Gottes im existentiellen Glaubensakt des Christen oder im sakramentalen Vollzug der Kirche? Gerade der Schlußsatz der Endzeitrede, der die kosmischen Zeichen gerade nicht mehr weltzeitlich fixiert, spricht für eine derartige Interpretation (Matth. 24, 42-44; vgl. auch Lk. 21, 34-35). Oder ist „Endzeit“ in Matth. 24 lediglich, aber immerhin, nur die realistische Sicht auf die Weltgeschichte mit ihrem Verhängnis, mit Elend und Tod, mit ihrer Kontingenz und Hoffnungslosigkeit, in der als solcher kein Heil liegt und der sich allenfalls eine christliche Jenseitshoffnung entgegensetzt?  Schließlich aber: Bleibt nicht ein unaufgebbarer, die Heilsbotschaft erfüllender  Rest von „Endzeit“ im Sinne einer Vollendung der gesamten Schöpfung (Offb. 21, 1-5) am „Ende der Welt“ (Matth. 28, 20b)?

Die letztere Frage kann nicht als eindeutig beantwortet gelten. Was aber in der Gegenwart besondere Bedeutung erlangt hat, ist eine frappante Säkularisierung der Rede von der „Endzeit“ in der Ökologiebewegung seit  den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. In diesen Jahren ist in das öffentliche Bewußtsein getreten und durch Erfahrung bestätigt worden, daß die technisch-industrielle Entwicklung insbesondere in den Industriestaaten die natürlichen Ressourcen der menschlichen Wirtschaft wie die Träger fossiler Energien, Bodenschätze, Landflächen, Wasser und Luft sowie die Tier- und Pflanzenwelt unwiederbringlich aufbraucht und mit Schadstoffen belastet. Man erkannte die „Endlichkeit der Welt“ und postulierte die „Grenzen des Wachstums“. „Tschernobyl“ und „Seveso“ wurden zum Fanal einer globalen Bedrohung. Die politischen Bewegungen, die das Umweltproblem ausgelöst hat, und die sie begleitende Publizistik fanden dabei ihr Vokabular genau in den Bildern und Worten, die die apokalyptischen Texte des Neuen Testamentes für den Weltuntergang bereithalten: die Verfinsterung von Sonne und Mond (Matth. 24, 29), die große Flut Noahs (Matth. 24, 37-39), Wetterkatastrophen und Feuerbrände (Offb. 8, 6-7), Vulkanismus und Tod der Tiere (Offb. 8, 8-10), die Vergiftung des Wassers (Offb. 8, 10-11). Man muß den biblischen Texten in der Tat zugutehalten, mit welcher Intuition die Realität des Weltuntergangs als ökologische Katastrophe vorgestellt und beschrieben wird. Dementsprechend ist in der Umweltbewegung von „Ende der Natur“ (McKibben 1989), „Himmelfahrt ins Nichts“ (Gruhl 1992), „Der lautlose Tod“ (Paul Ehrlich / Anne Ehrlich 1983), „Die sechste Auslöschung“ (Leakey / Lewin 1996), „Die sinkende Arche“ (Myers 1985), „Das Ende des blauen Planeten (Crutzen / Müller 1989) die Rede. Man darf die These wagen,  daß es nicht zuletzt diese evokative Sprache war und die damit verbundenen suggestiven  Assoziationen an apokalyptische Vorstellungen des Neuen Testamentes, die der Umweltbewegung politische Wirkkraft verliehen haben. Das geradezu soteriologische und damit anmaßende Postulat einer „Großen Transformation“, 2011 aufgestellt vom „Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“, vollendet schließlich diese „Politische Theologie“ (Carl Schmitt 1922).

Welcher Sprache und welchen Vorstellungsbildern sich die Umweltbewegung auch bedient, so liegt ihr doch eine reale Erfahrung zugrunde: Die Erfahrung der Zerstörung der natürlichen Umwelt durch den Menschen. Zu dieser Erfahrung kommt die reale Möglichkeit hinzu, daß die Zerstörung weitergeht und, gar über einen nuklearen Unglücksfall, katastrophale Ausmaße annimmt. Der Weltuntergang, in der Bibel apokalyptisch und eschatologisch vieldeutig, wohl auch symbolisch  thematisiert, ist unter den Bedingungen der realen Welt möglich geworden, kann durch den Menschen selbst herbeigeführt werden. Die kosmischen Katastrophen in der Endzeitrede von Math. 24 (und in Offb. 8, 6-10) sind Zeichen für das Ende der Welt und die bevorstehende Wiederkunft Christi, sie werden nicht von Gott herbeigeführt, sondern bezeichnen die Befindlichkeit der Welt und stehen im Horizont des Heils. Die Umweltkatastrophen der Gegenwart aber sind Menschenwerk  und als solches ohne Hoffnung. In diesem Sinne, und nur in diesem, nicht im Sinne eines fundamentalistischen Textverständnisses, das die „Vorhersagen“, die „Prophezeiungen“ buchstäblich als erfüllt ansieht, sind auch sie mit der Endzeitrede gemeint.

Dann aber bleibt die Frage, wie denn überhaupt die reale Möglichkeit der Weltzerstörung durch den Menschen schöpfungstheologisch und heilsgeschichtlich gedacht werden kann. Darauf mag es keine definitive Antwort geben. Aber nach drei Richtungen hin könnte eine Antwort gesucht werden.  So bleibt denn auch bei allem Untergang die Heilszusage bestehen: Es gab viele Untergänge in der Geschichte, doch der Glaube ist nicht untergegangen; letztlich ist das Kreuz die ultimative Katastrophe – und es ist zum Grund des Heils geworden. So ist zum zweiten ungewiß, ob es überhaupt zu einem finalen Untergang der physischen Welt kommen kann: Die Schöpfung hat sich in allen Phasen der Erdgeschichte und trotz aller Naturkatastrophen, deren Begriff sich allein bereits dadurch relativiert,  als überlebensmächtig erwiesen. Und es bleibt schließlich die Hoffnung, daß es zu einem ökologischen Weltzusammenbruch nicht kommt: Teils, weil die Kräfte des Menschen nicht ausreichen, die Natur, die Gegenkräfte entfaltet,  zu zerstören, teils aber weil der Mensch selbst Verantwortung für die natürliche Umwelt übernehmen und sein Leben und seine Wirtschaft im Einklang mit der Natur gestalten kann. Der Schöpfungsauftrag nach Gen. 1, 28-30 setzt den Menschen in Freiheit und Verantwortung: Es gäbe diesen Auftrag nicht, hätte der Mensch nicht die Kraft und die Fähigkeit, ihn auch zu erfüllen. Hier setzt denn auch in Politik und im praktischen Leben eine aktive Verantwortungs-, Schöpfungs- und Umweltethik an. Das theoretische Konzept ist mit dem Prinzip der „Nachhaltigkeit“ weltweit und national formuliert. Für das individuelle, „nachhaltige“ Leben stehen vielfältige Möglichkeiten und Handlungshilfen bereit. Mag gelingen, was gelingen kann, und was scheitert, liege in Gottes Hand.

Das beunruhigende Wort, das Luther zugeschrieben wird „Wenn ich wüßte, daß morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“ bringt die Dialektik von sittlichem Handlungsauftrag und Zukunftsungewißheit am Ende auch trostreich zum Ausdruck.

Dr. Frank Hennecke, Bistum Speyer