13. Sonntag nach Trinitatis / 24. Sonntag im Jahreskreis (11.09.22)

13. Sonntag nach Trinitatis / 24. Sonntag im Jahreskreis

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
Lk 10,25-37 Ex 32, 7-11.13-14 1 Tim 1, 12-17 Lk 15, 1-32

Lukas 10, 25-37

Beim Thema ankommen

„Help! I need somebody. Help! Not just anybody. Help! You know I need someone. Help!” (Beatles) Was fĂŒr eine kulturelle Weiterentwicklung, Hilfe zu erbitten. Nicht jede*r hat die Möglichkeit dazu. Um Hilfe zu bitten, will gelernt sein. Und es muss gesellschaftlich gewollt sein. Nicht ĂŒberall ist es angesehen, am Straßenrand anzuhalten, um jemandem zu helfen. Nicht immer gibt es die Möglichkeit, schnell professionelle Hilfe zu holen.

„I never needed anybody's help in any way. But now these days are gone, I'm not so self-assured. Now I find I've changed my mind and opened up the doors. Help me if you can, I'm feeling down. And I do appreciate you being 'round. Help me get my feet back on the ground. Won't you please, please help me?” Der Mensch ist auf Hilfe angewiesen – besonders in den ersten Jahren nach der Geburt und in den letzten Jahren vor dem Tod. Doch auch mitten im Leben brauchen wir UnterstĂŒtzung. Meine Frau macht mir jeden Morgen das FrĂŒhstĂŒck und hilft mir so, gestĂ€rkt in den Tag zu gehen und Zeit fĂŒr meine RĂŒckenĂŒbungen zu machen. Eine vermeintlich kleine Tat, aber mit großer Wirkung. Es muss nicht immer gleich eine Lebensrettung sein, die uns bewusstwerden lĂ€sst, wer die Menschen sind, die unserem Herzen im Alltag am nĂ€chsten sind. Das zu wissen, ist auch viel wert.

Die biblische Geschichte lesen

Menschen, die kluge Fragen stellen können, fragen Jesus nach dem Weg zum ewigen Leben. „Liebe!“, sagt Jesus. Um sicher zu gehen, fĂŒgt er noch hinzu: „Liebe Gott – deine NĂ€chsten und dich selbst.“ Vielleicht hĂ€tte Jesus heute, wo die FlĂŒsse ĂŒber die Ufer treten, die Landstriche vor Hitze verbrennen und EisbĂ€ren wie Menschen vor zu viel WĂ€rme verhungern, noch hinzugefĂŒgt: „Liebe alles, was lebt! Liebe diese Welt, in der alles Leben miteinander verbunden ist!“ Eigentlich ist die Sache ganz einfach. Wenn du leben willst – dem Menschsein, der Ebenbildlichkeit Gottes, dem Geschenk des Lebens angemessen – dann sorge fĂŒr das Leben. Nun könnten die klugen Menschen in der biblischen Geschichte aufstehen und anfangen – doch sie fragen weiter: „Wer sind denn unsere NĂ€chsten?“ und Jesus erzĂ€hlt eine wirklich „krasse“ Geschichte von einem Gewaltverbrechen mit unterlassener Hilfeleistung. Die Person, die dem Menschen „halb tot auf der Straße liegend“ schließlich hilft, ist Samariter (Angehörige einer Religionsgemeinschaft, die wie das Judentum aus dem Volk Israel hervorgegangen ist) und sie ist auf einer Reise. Die Person kĂŒmmert sich, bringt die verletzte Person in Sicherheit und sorgt fĂŒr medizinische Hilfe.

„Liebe deine NĂ€chsten wie dich selbst“ bedeutet weder: deine eigenen GeschĂ€fte gehen vor; noch bedeutet es: kĂŒmmere dich zuerst um Angehörige deiner eigenen Gemeinde oder NationalitĂ€t. Es bedeutet auch nicht, dass du alles allein machen musst; auch als Helfer*in kannst du dir Hilfe holen. Nur so viel ist klar: deine dir nĂ€chste Person, begegnet dir im Hier und Jetzt. Punkt. „So geh und tu!“, sagt Jesus zu den klugen Leuten.

WeiterfĂŒhrende Fragen und mögliche Schwerpunktthemen

FĂŒr mich bleibt trotzdem die Frage nach dem Anspruch und dem, wie ich ihm persönlich gerecht werden kann. Ich bin keine Intensivmedizinerin, keine Seenotretterin und keine Klimaaktivistin. „Help me if you can, I'm feeling down. And I do appreciate you being 'round.” Da sein und zuhören, ja das kann ich. Aber reicht das? Woran erkenne ich, wann ich wirklich helfen kann und wann nicht, wo meine Grenzen liegen? Barmherzigkeit, Empathie – aber kenne ich mich gut genug, um mit der Hilfe fĂŒr andere nicht meine eigenen BedĂŒrfnisse zu ĂŒberdecken (Helfer*innensyndrom)? Wie kann Hilfe aussehen, die den zu Helfenden ihre WĂŒrde lĂ€sst und sie nicht zurĂŒck lĂ€sst mit dem GefĂŒhl, unendlich dankbar sein zu mĂŒssen (Aufopferung)? Wie kann ich das VerhĂ€ltnis zwischen Empathie fĂŒr andere und Achtsamkeit fĂŒr mich selbst gut ausbalancieren? Und sind das gegenĂŒber der RadikalitĂ€t des Textes nicht Luxusfragen?
Ich glaube, es ist gut diese Fragen aufzunehmen. Zum einen, weil der biblische Text ja unsere Lebenswirklichkeit nicht kennt und wir sie mindestens so aufmerksam wahrnehmen sollten, wie ihn, bevor wir zu anderen „predigend“ sprechen. Zum anderen sind die Fragen und Nöte der globalen Situation ja der einzelnen Person heute viel prĂ€senter als in der damaligen Welt ohne Internet. Die Fragen nach Klimawandel, WelternĂ€hrung, PandemiebekĂ€mpfung sind Fragen, die uns als einzelne schnell ĂŒberfordern können und vielen Angst machen.
Auch die Fragen nach Bezahlung und Zeit und Gendergerechtigkeit in Pflege und Carearbeit können nicht von Einzelnen bewĂ€ltigt werden. Ist „NĂ€chstenliebe“ heute fĂŒr weibliche, mĂ€nnliche, diverse oder nonbinĂ€re Personen unterschiedlich zu beschreiben? Wovon wĂŒrde heute ein modernes Gleichnis mit einer weiblichen oder trans Protagnist*in handeln?
Wie ist es mit einer strukturellen „NĂ€chstenliebe“, mit denjenigen, die zwar nicht direkt Leben retten, aber sich fĂŒr die VerĂ€nderung von lebensbedrohlichen Bedingungen einsetzen? Was kann „NĂ€chstenliebe“ heute fĂŒr die Kirche bedeuten, wenn diejenigen, die Hilfe leisten, im Internet bedroht werden. Vielleicht eine Initiative „from #hatespeech to #hopespeech“, wie das Projekt „Netzteufel“ an der Evangelischen Akademie Berlin (www.netzteufel.eaberlin.de).

Christina Biere, Dortmund