16. So. n. Trinit. / Erntedank / 27. Sonntag im Jahreskreis (02.10.22)

16. So. n. Trinit. / Erntedank / 27. Sonntag im Jahreskreis

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
Lk 7,11-17 Hab 1, 2-3; 2, 2-4 2 Tim 1, 6-8.13-14 Lk 17, 5-10

 

Lk 7, 11-17

Die Erweckung eines jungen Mannes in Naïn

Steh auf! Das sagt Jesus zu einem Toten. Eine Volksmenge hatte den Toten gerade aus den Stadttoren herausgetragen und da trifft sie auf Jesus. Steh auf, sagt er zu dem Toten auf der Bahre und – oh, Wunder – der Tote, ein Jüngling aus Naïn, lebt.

Steht auf! Das predigten vor gut 40 Jahren die Befreiungstheologen den Völkern Lateinamerikas. Steht auf und wehrt euch gegen die ungerechten Verhältnisse, die Ausbeutung, die Unterdrückung. Basisgemeinden lasen das Evangelium und ließen sich zum Handeln gegen die Unterdrückung inspirieren. Sie teilten die Bibel, wie sie es nannten, demokratisch, lebensnah und handlungsorientiert.

Die Theologie der Befreiung ist lange vergessen. Die Befreiungsbewegungen Lateinamerikas sind Vergangenheit, neue Regime haben neue Verhältnisse geschaffen. Aber die Ausbeutung der armen Bevölkerung ist geblieben. Die Rolle der Kirche dabei ist nicht gerade rühmlich und das Evangelium hat seine revolutionäre Sprengkraft nicht allein in Lateinamerika eingebüßt.

Heute ist die Ausbeutung der armen Ländern Teil unseres Alltags geworden, die ausbeuterischen Verhältnisse sind in Handelsabkommen geregelt und die befreiende Botschaft des Evangeliums Kirchengeschichte.

Steh auf! Das ist die Botschaft an alle, deren Kinder hungern, denen wir keinen angemessenen Lohn für ihre Arbeit zahlen und die hier bei uns Leiden an der ungerechten Welt. Jesus selbst ruft uns auf, die tödlichen Verhältnisse zu ändern, den Armen neues Leben zu schenken, damit auch wir das Leben haben. Steh auf!

Hab 1,2-3; 2,2-4

„Schreib nieder, was du siehst!“ Das ist die Antwort Gottes auf die Klagen des Habakuk über Gewalt und Unterdrückung in dieser Welt und damit beginnt auch im heutigen Medienzeitalter Veränderung. Einer schreibt über die Macht des Bösen, eine schaut bei Gewalt und Misshandlung nicht weg, einer spürt die Zwietracht der Menschen untereinander. In Russland, in Myanmar oder Honkong, überall werden Journalisten und Blogger verfolgt, inhaftiert und gefoltert. Die Macht weiß, wie gefährlich diese Schreiber sind, wie nahe sie sie an den Abgrund führen können.

Doch mit dem Schreiben ist es nicht getan. Die Berichterstattung über die Macht des Bösen ist der Anfang ihres Endes, verspricht Gott in seinem Wort an Habakuk, und das Ende wird kommen, auch wenn es sich hinzieht und auch bis heute Tausende von Menschen unter der Macht des Bösen leiden. Das Reich Gottes, das uns der Sohn Gottes ankündigt, lässt auf sich warten. Gottes Versprechen ist, dass der Gerechte am Ende am Leben bleibt, während der nicht Rechtschaffende dahinschwindet.

Eine Hoffnung für die heute ungerecht Behandelten, die Verfolgten? Ja und nein. Nein, weil sie ungerecht leiden und ja, weil die Erlösung kommt, irgendwann. Bis dahin müssen wir gemeinsam miteinander leiden und um gerechte, faire Verhältnisse kämpfen und zwar jeder mit seinen Mitteln. Bei Habakuk ist es das Mittel der Berichterstattung und der Prophetie. Eine Rolle, die wir in unserer Gesellschaft nicht hoch genug einschätzen können auf unserem Weg hin zu einer besseren Welt.

2 Tim 1,6-8.13-14

Ermutigung zu furchtlosem Zeugnis

Die Gnade Gottes neu entfachen, das wünsche ich auch heute den Geistlichen und pastoralen Mitarbeiter/innen in den Kirchengemeinden und den vielen Einrichtungen, an denen die Kirche heilsam tätig ist. Stattdessen lastet das Wort von Kardinal Marx schwer auf ihrem Tun: „Die Kirche ist an einem toten Punkt angelangt“, beschrieb er im Sommer 2021 dem Papst die Situation der Katholischen Kirche in Deutschland.

Dieser tote Punkt ist ein Zustand der Reglosigkeit zwischen widerstreitenden Kräften. Da die Reformbewegungen in der Kirche, dort die vielen, die alles so lassen wollen, wie es ist. Beide suchen in der Kirche das Heil, während die Mehrheit schon längst abgewandert ist und woanders ihr Heil sucht. Sie fehlen im Ringen um den rechten Weg der Kirche. Ihre Argumente und ihre Kraft lässt den Wandel erlahmen.

„Bewahre das dir anvertraute kostbare Gut“, mahnt Paulus die Gemeindevorsteher von damals. Das kostbare Gut, das ist das Evangelium vom Reich Gottes, das in der Liebe, die in dieser Welt ist, Gestalt annimmt und diese Welt vollendet. Das kostbare Gut ist aber auch die Gemeinschaft derer, die an diese gute Botschaft glauben und sie deshalb in die Welt bringen.

Die Gnade Gottes sollen die Christ/innen neu entfachen, nicht zuerst, damit sie gerettet werden, sondern damit die Welt gerettet wird, hier und heute.

Lk 17, 5-10

Ja, Jesus erzählt von den ungerechten Verhältnissen seiner damaligen Zeit, von Knechtschaft und Unterdrückung, von oben und unten. Jesus kritisiert diese Verhältnisse nicht, er nimmt sie als Ausgangspunkt für einen Vergleich: So wie der Knecht dient, sollen auch die dienen, die den Glauben verkünden. Sie sollen sich wie „unnütze Knechte fühlen“, die nur ihre Schuldigkeit getan haben.

Was für ein Frontalangriff auf die triumphalistische Kirche, die die Ursache von jahrelangem sexuellem und geistlichem Missbrauch war. Hochwürden und seine nebligen Mitbrüder haben von oben herab über andere geurteilt und ihre Kraft zur Sündenvergebung missbraucht. Sie haben sich aufgeführt wie die Herrschaft, die zuerst zum Tisch drängt und sich bedienen lässt.

Mit dem Bekanntwerden der Missbrauchsfälle ist diese Herrschaft vom Thron gestürzt und eine neue Kirche erscheint am Horizont. Eine Kirche, die ernst damit macht, dass sie „unnütze Knechte“ beschäftigt, die demütigt das tut, was der Herr ihnen befiehlt. Mehr nicht.

Diese Kirche arbeitet mit an der besseren Welt, in der Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung vorherrschen. Eine Kirche, die niemanden ausgrenzt und alle einlädt, eine Kirche, die um einen staken Glauben betet, um für eine gerechte Welt stark zu sein.

Eckhard Raabe, Rottenburg