22. Sonntag nach Trinitatis / 30. Sonntag im Jahreskreis
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Röm 7, 14-25a | Jer 31, 7-9 | Hebr 5, 1-6 | Mk 10, 46-52 |
Jer 31,7-9: Das Exil und unsere Flüchtlinge
So schwierig es auch sein mag, eine zuverlässige Biografie des Propheten Jeremia vollständig und lückenlos zu rekonstruieren, kann mit ziemlicher Sicherheit gesagt werden, dass der historische Jeremia die Deportation seines Volkes ins Exil miterlebt hat, worauf sich diese Lesung (Jer 31,7-9) bezieht. Das Volk wurde vom neuen Machthaber in drei Gruppen aufgeteilt: eine, die freigesprochen, eine, welche verschleppt und eine, die persönlich vom König Nebukadnezar gerichtet wurde. Unter dieser letzten Gruppe befand sich auch der Prophet. Das Volk war nun völlig zerstreut.
Diese Lesung kann durchaus in Verbindung mit dem aktuellen Flüchtlingsdrama gebracht werden. Selbstverständlich kann man konzeptuell Flucht von Deportation differenzieren. Die dramatischen Auswirkungen auf das Leben eines Volkes, einer Gruppierung oder eines Individuums sind jedoch relativ ähnlich. Man lässt alle Sicherheiten, alles Vertraute hinter sich und zieht ins Ungewisse hinaus. Familiäre sowie freundschaftliche Bande werden zerrissen, Identitäten zerstört, Lebensentwürfe durchkreuzt. Solchen Menschen wird der Boden unter den Füßen weggezogen, die Existenzgrundlage geraubt. Nicht umsonst spielen die Bilder des Heimbringens und Sammelns eine entscheidende Rolle bei Jeremia.
Angesichts einer solchen trostlosen Situation verkündet der Prophet seinem Volk ein vielversprechendes Heilswort, ja eine Heilstat: "Der Herr hat sein Volk gerettet (Jer 31,7)". Dies ist jedoch die Version der Einheitsübersetzung, die bei diesem Vers dem griechischen Text der Septuaginta folgt (sowohl in der Fassung wie auch in der Gliederung sind erhebliche Unterschiede zwischen dem hebräischen und dem griechischen Text des Jeremiabuches festzustellen). Im hebräischen Text, in der Vulgata, und in der Lutherbibel steht das Verb im Imperativ: “Herr, rette (oder hilf) dein(em) Volk!” Die hebräische Version scheint die Ernsthaftigkeit der Situation, in der sich der Prophet und sein Volk befinden, noch nachdrücklicher zu verdeutlichen. Jedenfalls kommt hier sehr deutlich zum Ausdruck, wie sehr der Herr, der sich in dieser Stelle als Vater ausgibt (V.9), sein gesamtes Volk sammeln will. Und zwar alle. Sogar die Blinden und Lahmen, die Schwangeren und Wöchnerinnen werden die über 1300 km vom Norden (Babylon) zurück nach Zion (Jerusalem) schaffen. Dort werden sie Trost und ihr vom Herrn vorbereitetes, endgültiges Zuhause finden.
Welche Hoffnung können wir Flüchtlingen anbieten? Auch sie haben weite Strecken hinter sich gebracht, in der Hoffnung, ein neues, vielversprechendes Zuhause finden zu können. Auch sie suchen Trost und Geborgenheit, wie es das Volk Israel einst nötig hatte. Darüber hinaus ist es bemerkenswert, dass die Hoffnung auf ein neues Land an Menschen wie Blinde und Lahme, Schwangere und Wöchnerinnen geknüpft wird, also jene Menschen, die für Machtpositionen oder sogar für den Markt nicht die “beste Wahl” sind. Aus dem Norden sah Jeremia einst eine starke Armee kommen, deren Mitglieder Helden und deren Köcher ein offenes Grab waren (Jer 5,16). Sie brachten aber nur Tod und Zerstörung. Nun werden aus dem Norden diese von Jeremia genannten Menschen kommen und sie bringen mit sich die Hoffnung auf ein neues Leben. Können wir denn auch an solchen Menschen Hoffnung oder neues Leben erkennen?
Mk 10,46-52: Der Blinde Bartimäus und die Ausgeschlossenen
Diese Heilung geschieht auf dem Weg Jesu und seiner Jünger hinauf nach Jerusalem. Jeder, der sich auf eine Pilgerreise nach Jerusalem begab, musste zwangsläufig Jericho passieren. Eine Tagesreise entfernt von Jerusalem liegend war die Stadt die letzte Station vor Jerusalem. In der Tat saßen sehr viele Bettler wie der blinde Bartimäus am Rand dieser Strecke, welche auf die Barmherzigkeit der Pilger hofften. Auch heute ist für viele Bettler die Umgebung eines Tempels oder einer Pilgerstrecke ein geeigneter Ort, um zu betteln. Doch diese sind eine absolute Minderheit.
Da stellt sich die Frage, wo man heute noch mitten in unseren Großstädten Armen begegnet. Da die Städte vom Tourismus profitieren und sie größtenteils durch den Immobilienmarkt (Stichwort Miet- und Kaufpreise) umstrukturiert worden sind, können die Armen weder im Stadtkern wohnen noch sich dort aufhalten. Sie sind fast unsichtbar geworden. Und selbst wenn sie dort sind, sieht man meistens durch sie hindurch. Man kann beispielsweise schön und relativ sicher Urlaub in Rio de Janeiro oder in vielen anderen brasilianischen Städten machen und vielleicht den Eindruck bekommen, dass die Realität in Entwicklungsländer gar nicht so schlimm sei, wie sie zum Teil in den Medien dargestellt wird. Diese Länder modernisieren und entwickeln sich tatsächlich. Das ist jedoch nur so, weil die Armut ziemlich verdrängt wurde. Wohin?
Auch traditionelle Kirchen scheinen heute nicht mehr so ganz genau zu “wissen”, wo sich die Armen aufhalten. Die Pfingst- bzw. evangelikalen Kirchen hingegen kommen ihnen näher - das ist jedenfalls der Eindruck, den man in Lateinamerika und Afrika bekommt. Sie gehen entschlossen auf sie zu. Ihre Wirkung ist in der Tat sehr umstritten, aber sie heilen sie, treiben ihre “Dämonen” aus, nehmen sich deren Problemen an und stehen ihnen bei. Sie gehen in die ärmsten und gefährlichsten Favelas und jeder seiner Mitglieder wird zu einem Missionar, zu einem Bruder bzw. Schwester für die anderen. Können unsere Kirchen mit ihren Strukturen die am Rande der Gesellschaft lebenden Menschen überhaupt noch wahrnehmen? Sind unsere Kirchen dort überhaupt anwesend? Und es sind ganz konkrete Probleme wie Krankheiten, Depression, Arbeitslosigkeit, etc. die diese Menschen bedrücken, nicht nur die sogenannte spirituelle Heilung. Da hat man den Eindruck, dass sich die traditionellen Kirchen von der Wirklichkeit und konkreten Bedrängnissen dieser Menschen entfernt hat.
Im Mittelpunkt dieser Perikope steht nicht die Heilung (es gibt z.B. keine Heilungstat), sondern der Glaube des Blinden, der hier vorbildhaft dargestellt wird. “Die vielen”, die ihm zu schweigen befahlen, stehen im Text für die Hindernisse auf dem Weg des Glaubens. Hier wäre dann die Frage, inwiefern wir, als Nachfolger Christi (im Text sind sie es auch), vielleicht zum Hindernis auf dem Weg des Glaubens solcher ausgeschlossener Menschen sind. Wie oft wir, anstatt ihnen Mut zu machen, sie noch mehr erniedrigen, ihr Selbstvertrauen zerstören. Wie oft dämpfen wir ihre Stimme? Wie wirken wir als “Vermittler” zwischen Jesus/Gott und diesen ausgeschlossenen Menschen? Was heißt konkret, jemandem zu sagen: “Habe Mut, stehe auf, er ruft dich (Mk 10,49)”? Wie können wir erniedrigten, unterdrückten, ausgenutzten, ausgeschlossenen Menschen die unbedingte Zusage Gottes vermitteln? Können wir etwa das in jeglichem Menschen verborgene Potential erkennen und zum Wohl aller kanalisieren? Schließlich will kein Mensch nur von Spenden leben.
Zum Schluss wird der Blinde gefragt, was er will, dass ihm getan wird. Er wird nicht bevormundet. Vom Meister (Rabbuni, V.51) gerufen zu werden und auf derselben Ebene wie er zu stehen, verleiht ihm wieder seine wahre Würde und indem seine Stimme gehört, sein Wille respektiert wird, lässt er seinen Mantel (alles, was er zum Betteln hatte) hinter sich und folgt Jesus nach. Wenn Menschen ihre Würde, ihr Selbstvertrauen zurückgewinnen, können sie wieder auf ihren eigenen Füßen stehen. Wie steht es mit unserer Hilfspolitik? Gerade im Hinblick auf brennende Fragen wie Migration, (finanzielle) Rettungspakete, Verhandlungen über die Beendigung des Syrien-Kriegs usw.? Wird die Würde oder der Wille des anderen respektiert oder gar berücksichtigt?
Claudia Fontana und Leandro Fontana, Porto Alegre