23. Sonntag nach Trinitatis / 31. Sonntag im Jahreskreis (3.11.13)

23. Sonntag nach Trinitatis / 31. Sonntag im Jahreskreis

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
Mt 5, 33-37 Weish 11, 22 - 12, 2 2 Thess 1, 11 - 2, 2 Lk 19,1-10

 

Vier biblische Texte, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, unter dem Gesichtspunkt „nachhaltig" jedoch gut zusammen klingen. Ein Zeichen dafĂŒr, dass es sich bei ihnen wirklich um „Wort Gottes" handelt, das aber nur von einem „hörenden Herzen"1), wie es Salomo fĂŒr sich vom Herrn erbeten hat, wahrgenommen (als Wahrheit vernommen) wird. Wer es jeweils auf die aktuelle Lebenswirklichkeit bezieht, den fordert es zum Stellungnehmen, Reden und Handeln heraus. Die Buchstaben werden zum lebendigen, immer wieder neu Antwort gebenden Wort Gottes, offenbaren eine zwar immer nur vorlĂ€ufige, unvollkommene, aber eine fĂŒr das Jetzt gĂŒltige Wahrheit. Je mehr Menschen so hören und sehen, miteinander in Kontakt treten und sich austauschen, desto höher der GĂŒltigkeits- und Wirkungsgrad der so entstandenen Wahrheiten, die zu Wegweisern und Kraftquellen werden.

Die Weisheit: „Ins Zentrum der christlichen SpiritualitĂ€t konnte die Weisheit niemals rĂŒcken. Sie und ihre Meisterinnen und Meister blieben ein RandphĂ€nomen, verehrt, doch ohne Einfluss," schreibt Christian Heidrich2). Er vermutet, dass dies an der „weichen" Seite der Weisheit liege, „aus der sich schwer ein Dogma oder ein System schmieden" ließe. Schließlich entfalten „der weise Ausspruch, der inspirierende Rat ihre Kraft erst in einer bestimmten Situation. Sie sind auf Vertrauen und persönliche Begegnung angewiesen". Die Weisheit ist aus meditierter Erfahrung gewonnen und es ist – ich kehre das bekannte Wort Goethes vom Fluch der bösen Tat um – ihr Segen, dass sie fortzeugend Gutes muss gebĂ€ren, – grundlegendes Prinzip der Nachhaltigkeit.

Der Text aus dem Buch der Weisheit (11,22 – 12,2) liefert dazu ein solides Fundament. „Die ganze Welt ist ja vor dir wie ein StĂ€ubchen auf der Waage, wie ein Tautropfen, der am Morgen zur Erde fĂ€llt" (V 22). Zwei wunderbare Bilder, welche das VerhĂ€ltnis unserer Welt zu Gott beschreiben. Das erste bezieht sich auf die GrĂ¶ĂŸe: Die moderne Kosmologie berichtet von einem unendlich erscheinenden Weltall mit Millionen von Galaxien, die jeweils Millionen von Sonnen und Sonnensystemen beinhalten. Wollten wir es auf einem Lichtstrahl reitend durchqueren, mĂŒssten wir Millionen Jahre alt werden. Im VerhĂ€ltnis zur GrĂ¶ĂŸe Gottes ist es aber nur wie ein StĂ€ubchen auf der Wage, winzig und bedeutungslos, erst recht die Erde, ihrerseits nur ein StĂ€ubchen in dem anderen StĂ€ubchen. Das ist das Erste, was hier bestĂ€tigt wird: die unvergleichliche GrĂ¶ĂŸe Gottes.

Aber die Welt, die Erde ist vor Gott auch „wie ein Tautropfen, der am Morgen zur Erde fĂ€llt", schön anzusehen, ersehnt und geliebt, lebendig und Leben spendend, bedeutsam und geschĂ€tzt. Wir denken an den blauen Stern Erde, wie ihn die Raumfahrer schildern, wir denken an die Erde als Gaia, als lebendigen Organismus, als Subjekt mit WĂŒrde und Rechten, wie sie indianische und afrikanische Religionen achten und verehren.
„Du liebst alles, was ist" (V 24), und, alles ist „dein Eigentum" (V 26) bestĂ€tigt diese WertschĂ€tzung. Das ist der feste Grund auf dem wir stehen: mit dem ganzen Kosmos sind wir eingebettet in die Kraft und das Wohlwollen Gottes. Hier sind wir absolut sicher und gut aufgehoben – Wurzel des Grundvertrauens der Menschheit. Zu beachten ist, dass jeweils von allem die Rede ist: die ganze Welt, alles was ist, alles, in allem. Es gibt keine AusschlĂŒsse oder Ausnahmen. Auch die StratosphĂ€re, der Regenwald, jede einzelne Henne in den Millionen Legebatterien, die Billionen von Kleinstlebewesen im Boden, all dies ist mitgemeint, wenn es heißt, „Du liebst alles, was ist".

Das ist das VerstĂ€ndnis der Bibel: Der unermesslich große und starke Gott, hat die Welt erschaffen, sie ist gut und schön; er liebt sie und kĂŒmmert sich um sie vom Jenseits her. Und er hat Weisung gegeben, unĂŒberbietbar durch seinen Mensch gewordenen Sohn Jesus Christus, wie sich die Menschen verhalten sollen, damit das Leben auf dem „Tautropfen" Erde gelingt, damit Friede, Schalom herrscht, gutes Leben fĂŒr alle und alles. In diesem VerstĂ€ndnis stehen Gott und Welt, Diesseits und Jenseits, Transzendenz und Immanenz einander gegenĂŒber. Im Zuge der AufklĂ€rung trennen die Naturwissenschaften diese Bereiche so weit, dass fĂŒr den einen die Wissenschaft, fĂŒr den anderen – soweit er ĂŒberhaupt als vorhanden anerkannt wird – die Religion zustĂ€ndig ist, so als ob sich beide mit total unterschiedlichen Dingen beschĂ€ftigten, die nichts miteinander zu tun hĂ€tten. Mittlerweile erkennen aber beide Seiten ihre Grenzen und die Notwendigkeit des produktiven Dialogs und der gegenseitigen ErgĂ€nzung.

Das enorme, rapid zunehmende Wissen einerseits und die Erfahrung, dass sich andererseits mit jedem Wissensfortschritt neue unbekannte RĂ€ume des Nichtwissens in den Makro- und Mikrobereich hinein auftun, macht stolz und bescheiden zugleich: stolz, in die GesetzmĂ€ĂŸigkeiten der Natur immer tiefer einzudringen und bescheiden vor der GrĂ¶ĂŸe dessen, was sich da auftut. Das „scio me nescire" des alten Sokrates lebt wieder auf, eine Ahnung von der Weisheit, die das Universum in Gang gesetzt hat, es trĂ€gt, sich kreativ entfalten und gleichzeitig zusammenwachsen lĂ€sst. Man denke an die beiden Prinzipien der immer grĂ¶ĂŸer werdenden Differenzierung und gleichzeitigen Kommunikation, wie sie Teilhard de Chardin beschrieben hat, mit dem Zielpunkt Punkt Omega, in dem alles aufs höchste differenziert und vereint ist. Eine Vorstellung von „Himmel", in dem alles aufgehoben ist und mit allem interagiert, Leben in Höchstform.

Die Prozesstheologie bringt dies mit einer neuen, im Dialog mit den Naturwissenschaften erarbeiteten Begrifflichkeit zur Sprache. So wird die theologische Behauptung des Weisheitstextes „in allem ist dein unvergĂ€nglicher Geist" (V. 2,1), in prozesstheologische Sprache ĂŒbersetzt, sehr attraktiv und bringt neue Dimensionen in unser Gottesbild. Gott bleibt nicht, nachdem er die Welt erschaffen hat, außerhalb und lĂ€sst sie als Maschine selbstĂ€ndig laufen, wie der Deismus behauptet. Er steht ihr auch nicht aus der Transzendenz vom Jenseits her gegenĂŒber und greift bei Bedarf oder auf Bitten hin mit oder gegen die Naturgesetze in das Geschehen ein. Vielmehr transzendiert er den Kosmos in seiner Tiefe, indem „sein unvergĂ€nglicher Geist in allem ist". Gott ist nicht nur Schöpfer der Welt vor aller Zeit, sondern der Geist, die Kraft, die Energie, die Intelligenz, die Weisheit, welche in allen Gebilden des Kosmos inwendig wirkt, sie miteinander verbindet und ihre kreative Entfaltung ermöglicht. Alles Existierende ist in stĂ€ndiger Bewegung, in stĂ€ndiger VerĂ€nderung und in stĂ€ndiger Beziehung zu allem anderen (RelationalitĂ€t).
Die naturwissenschaftliche Betrachtung macht offenkundig, dass der Kosmos mit jedem seiner Teile ein unermesslicher Prozess ist; es gibt nichts Statisches in der Welt, alle Dinge und Lebewesen, auch Gott erweisen sich als Ereignisse. Die Wirklichkeit hat „Werde- und Ereignischarakter", sie ist ein „ewig schöpferisches Werden"3) und Gott ist ihr Poet, konstitutiv in allem aktiv und gleichzeitig ĂŒber alles unendlich und unfassbar hinausreichend. Bewegung, Interaktion, RelationalitĂ€t, also Prozesshaftigkeit sind Kennzeichen auch seines Wesens. These und Antithese von Immanenz und Transzendenz werden hier in einer neuen Synthese aufgehoben.

Weil die AufklĂ€rung diese Synthese nicht geleistet hat, verstiegen sich die Naturwissenschaften in die Forderung nach „Wertfreiheit" ihrer Forschung, und bemerkten nicht, dass dieser Wert allen anderen Werten die GĂŒltigkeit raubt. Die Folgen dieser Abkoppelung werden heute ĂŒberdeutlich: Die Menschheit steuert ökologisch und ökonomisch auf eine Katastrophe zu, wofĂŒr der Tanz auf der Titanic ein Symbol wĂ€re.
In einer Rede beim deutschen Katholikentag 2012 in Mannheim gebrauchte der bekannte Sozialethiker FRIEDHELM HENGSBACH deutliche Worte: „Finanzakteure (...) treiben die Staaten vor sich her. Und die Staaten bringen nicht die Kraft auf, eine strikte Regelung der FinanzmĂ€rkte durchzusetzen".4) Die aktuellen Spardiktate und öffentlichen Haushaltssperren „treiben die schwĂ€cheren Bevölkerungsgruppen in bittere Armut, Ausbeutung und Rechtlosigkeit" nicht nur in der sog. Dritten Welt, sondern jetzt auch bei uns. Die Kluft der Einkommen und Vermögen zwischen den Reichen und Armen in der Welt wird immer grĂ¶ĂŸer, weil der Reichtum der Wenigen nicht Folge ihrer TĂŒchtigkeit ist, sondern auf der Ausbeutung der Vielen und der Zerstörung der Lebenskraft der Erde beruht.

„ERNST ULRICH VON WEIZSÄCKER hat bereits vor mehr als zehn Jahren erklĂ€rt, dass die Umweltfrage die soziale Frage des 21. Jahrhunderts sei. Die Probleme Smog in den GroßstĂ€dten, saurer Regen, Waldsterben, Luftverschmutzung, Verunreinigung der FlĂŒsse, Seen und StrĂ€nde haben sich zu noch grĂ¶ĂŸeren Problemen wie Klimawandel, ErderwĂ€rmung und globale Bodenerosion bis hin zu großflĂ€chigem Landkauf (Landgrabbing) und Privatisierung des Allgemeingutes Wasser ausgeweitet.
Auf den Umweltkonferenzen wird um das politische Ziel gerungen, die ErderwĂ€rmung auf zusĂ€tzliche 2 Grad bis zum Jahr 2050 zu begrenzen. Aber die Bereitschaft, Produktions- und Konsumverhalten zu verĂ€ndern, ist nicht sehr ausgeprĂ€gt. Der von HANS JONAS5) bereits 1976 proklamierte Imperativ: „Handle so, dass die Folgen deines Handelns das echte Überleben der Menschheit auf Erden gewĂ€hrleisten", bleibt weiter unbefolgt.
Es wird weiterhin die LĂŒge verbreitet und geglaubt, das alles beherrschende (und alles ruinierende!) System des uneingeschrĂ€nkten Kapitalismus sei alternativlos. Richtig, zum Erhalt des Status der Profiteure ist es alternativlos, fĂŒr die immer grĂ¶ĂŸer werdende Anzahl von Hungernden und Leidenden aber todbringend. Trotzdem versprechen seine Hohenpriester in Banken, Forschungsinstituten und auch in der Politik den Armen, auch fĂŒr sie kĂ€me das Paradies. In der Werbung wird es als schon gegenwĂ€rtig dargestellt, als brĂ€uchte jeder nur zuzugreifen, um es zu erleben. Der „Tag des Herrn" sei sozusagen schon da.

Da muss an Vers 2,2 der Lesung aus dem zweiten Thessalonicherbrief erinnert werden: „Lasst euch nicht so schnell aus der Fassung bringen, wenn (...) behauptet wird, der Tag des Herrn6) sei schon da". Klaus Berger ĂŒbersetzt: „Lasst euch durch nichts und niemanden tĂ€uschen" , besonders nicht von den allgegenwĂ€rtigen LĂŒgen. Was aber ist der Tag des Herrn und wann kommt er? Gut biblisch kann man antworten: Tag des Herrn ist jeder Tag, an dem hier auf Erden im Sinne des Reiches Gottes gearbeitet wird. Er beginnt mit jedem Heute und Jetzt; vollendet wird er am Ende der Zeit. Lassen wir uns also durch nichts und niemand tĂ€uschen, nicht durch die Hohen Priester des Mammon, nicht durch die VerfĂŒhrungen in ihren Kauftempeln, nicht durch ihre auf Hochglanzpapier oder elektronisch verbreiteten LĂŒgen.
Attac benennt und demaskiert sieben solcher LĂŒgen – neoliberale Dogmen bzw. Standardmythen –, von denen die ersten fĂŒnf mit jeweiliger Entgegnung aufgefĂŒhrt seien:

1. Der Staat und seine Schulden sind unser grĂ¶ĂŸtes Problem.
- Die Neoliberalen verachten nur den Sozialstaat, den MilitĂ€rstaat schĂ€tzen sie sehr hoch, und gestatten ihm auch, exorbitante Schulden zu machen z.B. fĂŒr LuxusgĂŒter und Waffen, nicht aber fĂŒr Sozialleistungen und allen zugĂ€ngliche Bildungseinrichtungen.

2. Privatisierungen sind ein Allheilmittel und Segen fĂŒr die Menschen.
- Privatisierungen großer Unternehmen haben zu Oligopolen mit unermesslichem Reichtum weniger auf Kosten der Ausbeutung von Umwelt und Arbeit vieler gefĂŒhrt.

3. Die Deregulierung der Arbeits- und FinanzmĂ€rkte fĂŒhrt zu Wohlstand fĂŒr alle.
- In Deutschland haben wir mittlerweile ein Millionenheer von Taglöhnern; bereits 20% der BeschĂ€ftigten erzielen nur Minimallöhne und haben eine gebrochene BeschĂ€ftigungsbiographie, was zu absolut unzureichenden Renten, zu Altersarmut fĂŒhrt.

4. Zu hohe Steuern treiben die Reichen und ihr Geld aus dem Land.
- Selbst in Deutschland betragen die vermögensbezogenen Steuern 0,9 Prozent vom BIP In der Schweiz, in Japan und in Italien 2,5 Prozent, in Frankreich, Kanada, USA rund 3 Prozent und in Großbritannien ĂŒber 4 Prozent.

5. Die Reichen und Topmanager sind die eigentlichen LeistungstrĂ€ger, ihre EinkĂŒnfte sind zu gering.
- Nicht wenige der sogenannten LeistungstrĂ€ger sind Leistungsvernichter und werden dafĂŒr noch fĂŒrstlich honoriert. Deutsche Manager von Großbetrieben erhalten im Schnitt 540.000 Euro pro Jahr, manche einen Ă€hnlichen Betrag monatlich.

FRIEDHELM HENGSBACH beklagt drei Wunden der sozialen Gerechtigkeit:

„– die blutende Wunde einer Weltgesellschaft, die sich um eine Wachstumsbeschleunigung sorgt, ohne zu berĂŒcksichtigen, dass die Wohlstandsdynamik einer kapitalistischen Wirtschaft auf der grenzenlosen Geld- und Kreditschöpfungsmacht des Bankensystems und der rĂŒcksichtlosen Ausbeutung natĂŒrlicher Ressourcen beruht;
– die blutende Wunde der deutschen Gesellschaft, die sich in einem Jobwunder sonnt, ĂŒber dem sich der dunkle Schatten miserabler und unzumutbarer ArbeitsverhĂ€ltnisse ausbreitet;
– die blutende Wunde eines einzigen Planeten, den die Menschheit hat, auf dem militĂ€rische Konflikte um die Anteile an einer intakten natĂŒrlichen Umwelt drohen."7)

Wir haben uns an unseren Lebensstandard so gewöhnt, dass er uns unproblematisch erscheint, obwohl Übereinkunft darĂŒber besteht, dass er nicht verallgemeinerbar, letztlich sogar tödlich ist. ERICH FRIED8) meint: „Wir dĂŒrfen uns nicht an das gewöhnen, was wir tun" und er fĂŒhrt dazu eines seiner Gedichte an, das auch heute noch sehr bedenkenswert ist:

Ich soll nicht morden
ich soll nicht verraten
Das weiß ich.
Ich muss noch ein Drittes lernen:
Ich soll mich nicht gewöhnen
Denn wenn ich mich gewöhne
verrate ich
die die sich nicht gewöhnen
Denn wenn ich mich gewöhne
morde ich
die die sich nicht gewöhnen
an das Verraten
und an das Morden
und an das Sich-gewöhnen.
Wenn ich mich auch nur an den Anfang gewöhne
fang ich an mich an das Ende zu gewöhnen

Der Abschnitt aus dem Thessalonicherbrief fordert auch uns heutige auf, unserer Berufung wĂŒrdig zu leben, allen Willen zum Guten zu haben und jedes Werk des Glaubens zu tun. Was die Werke des Glaubens sind, hat Jesus vorgelebt. Erich Fried hat seine Rede anlĂ€sslich der Verleihung des Georg-BĂŒchner-Preises 1987 mit einer Überschrift versehen, die wir treffend auf Jesus beziehen könnten: „Von der Nachfolge dieses jungen Menschen, der nie mehr alt wird"9) Ich zitiere daraus und habe den Namen Georg BĂŒttner durch ER (Jesus)ersetzt:

„Ich Alter sehe mich selbst und [alle], die hier jedes Jahr den Schatten dieses jungen Menschen beschwören, der nie mehr alt wird, von SEINEN Schatten in den Schatten gestellt. Weil dieser Schatten hier ist, in dessen Namen wir uns versammeln, (...) will ich ein wenig mithelfen, dass SEIN Schatten ein helles Licht wirft auf einiges Dunkel unserer von den ersten Atomexplosionen so herrlich erleuchteten Zeit. Wenn wir hier nicht nur ein gewissenloses unverbindliches Schattenspiel veranstalten wollen, dann kommen wir um die Frage nicht herum, was ER heute sagen und schreiben und tun wĂŒrde. (...)Aber wenn wir schweigen, wo er gesprochen hĂ€tte, dann machen wir unserem Namen Schande und nennen seinen Namen zum Falschen und Nichtigen!"

„So soll der Name Jesu, unseres Herrn, in euch verherrlicht werden und ihr in ihm". Bischof IrenĂ€us von Lyon hat die Verherrlichung Gottes prĂ€gnant in drei Worten formuliert: „gloria dei homo vivens", in freier Übersetzung: Gott wird dadurch gerĂŒhmt und geehrt, dass wir uns effektiv um ein gutes Leben der Menschen kĂŒmmern. An der Seite der Armen lebend haben die Befreiungstheologen es prĂ€zisiert in „gloria dei pauper vivens" und in jĂŒngster Zeit zu „gloria dei terra vivens" erweitert, da weltweite soziale Gerechtigkeit ohne ökologische Gerechtigkeit nicht möglich ist.

Die Logik des kapitalistischen Wirtschaftens gehorcht der unerbittlichen Logik, möglichst hohen Gewinn bei möglichst niedrigen Kosten zu erzielen, was zur Ausbeutung und Vernichtung der menschlichen und ökologischen Ressourcen fĂŒhrt. Kapitalismus und ökologische Gerechtigkeit schließen sich gegenseitig aus, weil die Gewinner im Kapitalismus notwendigerweise Verlierer erzeugen. Die Einsicht ALBERT EINSTEINS, dass das Denken, welche eine Krise hervorgerufen hat, nicht zugleich das Denken sein kann, welches aus dieser Krise befreit, behĂ€lt gegen alles verdummende GeschwĂ€tz von Alternativlosigkeit ihre GĂŒltigkeit. Wir brauchen ein anderes Denken, und mĂŒssen ein anderes System entwickeln, in dem nicht die Akkumulation von Geld und Macht der orientierende Wert ist, sondern ein gutes Leben fĂŒr alle.

Wenn 20 Prozent der Menschen 80 Prozent aller ReichtĂŒmer der Erde verzehren, wenn dem weitaus grĂ¶ĂŸten Teil der Menschheit gerade noch die SpielrĂ€ume zum Überleben bleiben, kann man nicht weitermachen wie bisher. Unter diesem Gesichtpunkt lohnt es sich die Geschichte vom Oberzöllner ZachĂ€us aus dem LUKASEVANGELIUM zu betrachten. Durch seinen Posten als oberster ZollpĂ€chter war er sehr reich geworden und zĂ€hlte zur kleinen Oberschicht. Aber offenkundig schlug in ihm irgendwie das „hörende Herz" der Weisheit. Sicher hatte er schon einiges ĂŒber Jesus gehört – und im stillen auch bedacht –, sonst hĂ€tte er sich nicht so intensiv bemĂŒht, diesen Mann Jesus wenigstens einmal mit eigenen Augen zu sehen. NatĂŒrlich wusste er, dass sein berufliches Tun legal war, nicht gegen das geltende Römische Recht verstieß. Als empfindsamem und intelligentem Menschen war ihm aber wohl – gerade in seinem Beruf – auch klar geworden, dass das herrschende Recht das Recht der Herrschenden war. Schließlich erlebte er tagtĂ€glich, wie viel seinen Landsleuten fĂŒr die Besatzungsmacht abgenommen wurde, was bei schlechter Ernte oder Krankheit allein schon in die extreme Armut oder zum Verkauf von Frau oder Kindern in die Sklaverei fĂŒhren konnte. Obendrein durften die ZollpĂ€chter aber ihre Klienten auch noch zu ihrer eigenen Bereicherung schröpfen, was den „Reiz" dieses Amtes ausmachte. Er selbst war ja sehr reich geworden – seine jĂŒdischen BrĂŒder dagegen mit ihren Familien immer Ă€rmer. Das hat ZachĂ€us offenkundig gesehen (– im Gegensatz zu den meisten Superreichen von heute, die weit weg von den Baracken ihrer Opfer in bestens abgeschirmten Villenvierteln wohnen).
Dieser Mann wird von Jesus angesprochen: „ZachĂ€us, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein!" Eilends soll er zu Jesus kommen, denn Jesus „muss" in seinem Hause zu Gast sein. Warum „muss" Jesus bei ihm einkehren? Aus dem gleichen Grund, aus dem er heute bei unseren Reichen und bei uns Reichen einkehren muss, und zwar heute noch, umgehend, schnellstmöglich: Die Folgen unseres Wirtschaftens und Konsumierens sind so entsetzlich, so unertrĂ€glich fĂŒr die Menschen und fĂŒr die Erde, dass die MentalitĂ€t und SpiritualitĂ€t Jesu, sein Geist, seine Weisheit einkehren mĂŒssen, um den herrschenden Ungeist der Konsum- und Verschwendungsunkultur zu vertreiben. Wenn wir als aufgeklĂ€rte BĂŒrger und glĂ€ubige Christen wirklich davon ĂŒberzeugt sind, dass alle Menschen Schwestern und BrĂŒder sind, dann mĂŒssen wir dem Leben einen höheren Stellenwert einrĂ€umen als dem Profit und das Gemeinwohl höher schĂ€tzen als den individuellen Vorteil. Wer sich die aktuelle soziale und ökologische Wirklichkeit vergegenwĂ€rtigt, wird die zeitliche und sachliche Dringlichkeit fĂŒr unabweisbar halten; die ZustĂ€nde dulden keinen Aufschub, sollen die SchĂ€den nicht irreparabel werden. Albert Einstein behĂ€lt recht: ein neues Denken, Metanoia ist notwendig.
„Da stieg er schnell herunter und nahm Jesus freudig bei sich auf." ZachĂ€us weiß sehr wohl um die Dringlichkeit, Jesus in seinem Haus einkehren zu lassen. Denn so kann es nicht weitergehen, nicht im Haus Israel, nicht im Römerreich, nicht im 21. Jahrhundert. Die Weisheit und Weisung seiner Heiligen Schrift, von Jesus mit ĂŒberzeugender AutoritĂ€t ausgelegt und gelebt, muss als Orientierung gelten und nicht die Maxime der Profitmaximierung. Das biblische „Du sollst den Herrn deinen Gott lieben und deinen NĂ€chsten wie dich selbst", vom Bischof IRENÄUS ĂŒbersetzt in „gloria dei homo vivens", von der AufklĂ€rung in das Dreigestirn „libertĂ©, Ă©galitĂ©, fraternitĂ©" ĂŒbertragen und heute als „soziale und ökologische Gerechtigkeit" buchstabiert, muss an die Stelle des sogenannten „Neoliberalismus" treten, der Freiheit propagiert, aber Gewaltherrschaft bringt.
ZachĂ€us macht einen ersten großen Schritt in die neue Richtung: „Die HĂ€lfte von meinem Hab und Gut, Herr, gebe ich den Armen Und wenn ich jemanden ausgebeutet habe, gebe ich es vierfach zurĂŒck."10) Das ist gewaltig, was ZachĂ€us tut, obwohl wir davon ausgehen können, dass auch die HĂ€lfte seines Vermögens noch ausreichte, um ein ordentliches Leben zu fĂŒhren. Welch großartiges Muster wĂ€re das fĂŒr uns heute, den Anteil unseres Einkommens und unserer EinkĂ€ufe, der auf Ausbeutung beruht, den Ausgebeuteten zurĂŒckzugeben: den Indios, deren UrwĂ€lder abgeholzt werden; den Kleinbauern, deren Felder enteignet, den Fischern, deren Meere leer gefischt werden, um Viehfutter fĂŒr unseren ĂŒbermĂ€ĂŸigen Fleischkonsum herzustellen; den ausgelaugten NĂ€herinnen unserer billigen Jeans und Sportartikel; den Arbeitern und Arbeiterinnen in fernöstlichen Fabriken, wo ein Großteil unserer Massengebrauchs- und Konsumartikel unter menschenunwĂŒrdigen und in höchstem Maß gesundheitsschĂ€dlichen Zeit- und Arbeitsbedingungen und mit Hungerlöhnen hergestellt werden. Die Reihe wĂ€re schier unendlich fortzufĂŒhren, und wir vergegenwĂ€rtigen uns nicht, dass es immer unsere mit gleicher MenschenwĂŒrde und gleichen Menschenrechten ausgestatten BrĂŒder und Schwestern sind, an deren Ausbeutung wir uns beteiligen.

 

OSCAR ROMERO spricht diesbezĂŒglich von „Strukturen der SĂŒnde, die SĂŒnde sind, weil sie die FrĂŒchte der SĂŒnde hervorbringen, den Tod der Menschen". Obwohl unsere Wirtschafts- und Konsumart heute sogar die ĂŒberlebensnotwendige BiosphĂ€re der Erde zerstört, kommen keine international verbindlichen Abkommen zustande, um dies zu beenden. Der Tanz auf der Titanic – ein Albtraum. Die Geschichte von ZachĂ€us dagegen erscheint uns als Traum, der an Helder Camaras berĂŒhmtes Wort erinnert: „Wenn jemand alleine trĂ€umt, dann ist das nur ein Traum. Wenn wir aber zusammen trĂ€umen, dann ist das der Beginn der Wirklichkeit". Erich Fried meint das Gleiche wenn er sagt. „Der Geist wird Macht, wenn er die Massen ergreift." Leider gilt dies auch fĂŒr den Ungeist.

Beachtenswert ist, dass Lukas unmittelbar auf die Geschichte von ZachĂ€us das sogenannte Minengleichnis11) folgen lĂ€sst, in dem einer der Untergebenen sich dem kapitalistischen System verweigert. Der Herr, der „abhebt, wo er nicht hingelegt hat und, erntet, was er nicht gesĂ€t hat", gibt Befehl, seine Feinde niederzumachen und diesem Knecht alles wegzunehmen. Ein Gleichnis, welches drastisch das damalige System beschreibt, und den Preis, den Aussteiger, Gegner und Kritiker bezahlen. Darauf folgt im Lukasevangelium der Bericht ĂŒber die letzten Tage Jesu in Jerusalem. Ich verstehe diese Anordnung im Lukasevangelium als Hinweis darauf, wie hoch der Preis der Verweigerung und Umkehr sein kann.
Trotzdem und weil es um so viel geht, bleiben wir aufgefordert, ein eindeutiges Nein zum aktuellen System des Todes zu sagen und ein entschlossenes Ja zum Leben, zum Leben von allen und allem. „Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein; alles andere stammt vom Bösen" (Mt 55,37). Am Ende steht die Auferweckung, unsere Hoffnung, dass nicht der Tod, sondern das Leben siegt. Schließlich ist Gott ein „Freund des Lebens" und „in allem ist sein unvergĂ€nglicher Geist", die sicherste Garantie fĂŒr Nachhaltigkeit. Wir mĂŒssen uns in die „Nachfolge dieses jungen Menschen, der niemals alt wird", begeben und „ein wenig mithelfen, dass SEIN Schatten ein helles Licht wirft auf unser Dunkel" – nachhaltig.

„In allem ist dein unvergĂ€nglicher Geist", ein Beispiel:

WildgĂ€nse fliegen im V-Verband und gewinnen dadurch einen 71-prozentigen Zuwachs ihrer Flugeffizienz gegenĂŒber dem Einzelflug. Die hinteren GĂ€nse feuern die vorderen durch ihr Schreien an. Wenn sie mĂŒde wird, reiht sich die FĂŒhrungsgans in den Verband ein und wird durch eine andere ersetzt. Und: wenn eine Gans aus dem Verband zu schwach oder krank wird und aussteigt, wird sie von einer oder zweien zur Erde begleitet. Diese bleiben bei ihr bis sie gestorben ist oder sich erholt hat. Dann reihen sie sich in einen anderen Verband ein.12)

Prof. Hans Kirsch

Fußnoten:

1) 1 Kön 3,9
2) in Nr. 34/2012 von Christ in der Gegenwart
3) Vgl. Heraklits „panta rhei“
4) Friedhelm Hengsbach, Rede am Katholikentag 2012 in Mannheim
5) Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung
6) Der Tag des Herrn ist jeder Tag, an dem im Sinne des Reiches Gottes gearbeitet wird; vollendet wird er am Ende unserer Zeit. Er ist heute schon da und wird am Ende aller Zeit vollendet (Punkt Omega)
7) Friedhelm Hengsbach, Rede am Katholikentag 2012 in Mannheim
8) Erich Fried, Gedanken in und an Deutschland, Wien-ZĂŒrich, 1988, S. 183
9) Erich Fried, Gedanken in und an Deutschland, Wien-ZĂŒrich, 1988, S. 271ff, 277, 278
10) Übersetzung von Friedolin Stier
11) Lk 19, 11-27
12) Bericht des Deutschlandfunks am 30. 08.2012