27.10.24 – 22. Sonntag nach Trinitatis / 30. Sonntag im Jahreskreis

ev. Predigttext kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
Mi 6,1-8 Jer 31, 7-9 Hebr 5, 1-6 Mk 10, 46-52

Am Anfang ist das Recht

Im Micha-Text ist die Betonung des AusĂŒbens von Recht markant. Dies ist die Grundlage fĂŒr eine sozial gut funktionierende Gesellschaft, aber auch fĂŒr die friedliche Verbindung der Völker. Elend und auch Krieg entstĂŒnden aus Rechtsverletzungen. Das gibt uns angesichts der Weltlage (Stand August 23) besonders zu denken. - Die Autorin legt das Gewicht auf den Micha-Text und bindet die anderen Texte kurz ein.

Micha 6,1-8: Berge und Höhen als Geschworenengericht

Der Prophet Micha aus Moreschet-Gad (740 v. Chr. – 670 v. Chr.) tritt zeitĂŒberschneidend mit Jesaja und auch Amos und Hosea auf. Er richtet markige Worte an das untreue Volk Israel. Dazu ĂŒbernimmt er die Rolle Gottes als AnklĂ€ger. FĂŒr seinen Streitdialog zwischen Gott und Volk ruft er die Höhen und Berge als unbestechliche Zeugen auf. Vor diesem Natur-Geschworenengericht entwickelt er eine sorgfĂ€ltige BeweisfĂŒhrung: Gott habe das Volk aus Ägypten befreit („Exodus“), er habe es in der WĂŒstenzeit rettend begleitet mit Mose, dem Hohepriester Aaron und der Prophetin Mirjam. Und schliesslich sei die geplante Verfluchung des Volkes durch Balak und Bileam in eine Segnung umgewandelt worden. Das Volk antwortet einsichtig, aber erschĂŒtternd hilflos und unwissend. Es hat verinnerlicht, dass es mit Opfern Gottheiten beeinflussen und ihre priesterlichen Verwalter:innen bestechen kann. Sollen die Leute gar das erstgeborene Kind schlachten? Und dann die schlichte Antwort des „alten“ Gottes: Gut ist, Recht zu tun, GĂŒte zu lieben und besonnen mit Gott zu gehen.

Rechtsverletzungen fĂŒhren zu Konflikten und zum Krieg

Von diesen hehren GrundsĂ€tzen ist es hingegen weit entfernt. Eine Elite hat sich ungerecht Gut angeeignet, hat buchstĂ€blich mit falschem Mass und falsch eingestellter Waage gewirtschaftet; LĂŒgen, Betrug und Gewalt sind an der Tagesordnung. Im Gegensatz dazu ist „Recht tun“ in Übereinstimmung mit den geschichtlich verankerten Befreiungstaten Gottes ein gesellschaftlich loyales Handeln. Genau dies wĂŒrde auch die Völker zusammenbinden. Wie fast ĂŒberall in der Bibel, ist auch hier Krieg kein Schicksal, sondern eine Folge von Rechtsverletzungen, die besonders die kleinen Leute betreffen, die man um Land und Gut betrĂŒgt. Deshalb muss zuerst Recht ausgeĂŒbt werden, bevor „Schwerter zu Pflugscharen“ (Micha 4,15) geschmiedet werden können. Mit „ Recht ausĂŒben“, „GĂŒte zu lieben“ (SolidaritĂ€t) und „besonnen mit Gott zu gehen“ (nach der Tora leben) ist die Summe aller Gebote des Judentums zusammengefasst.

Aspekte der Nachhaltigkeit und des Friedens: Fragen zum Weiterdenken

  • Im Krieg, der in der Ukraine ausgetragen wird (Stand August 23), erkennen wir, in welch rasanter Geschwindigkeit AufrĂŒstung, Waffenlieferungen und Kriegsstrategien etabliert worden sind.
    Kriegstreibende Stimmen scheinen derzeit mehr Gewicht zu haben als jene der Friedensaktivist:innen, die grundsĂ€tzlich jegliche Waffenlieferung fĂŒr falsch halten, weil Waffen immer zerstören und töten und die Spirale der Angst und der Rechtsverletzungen endlos höherschrauben. Provokativ: Könnte man die Waffenlieferungen nicht auch als eine Art Opfern betrachten, mit denen sich die Regierungen verschiedener Nationen freikaufen wollen, weil sie den spĂ€testens seit 2014 deutlich schwelenden Konflikt Nato-Ukraine-Russland ignoriert oder gar befördert haben?
  • In den VorstĂ€dten Frankreichs sieht eine vom Staat vernachlĂ€ssigte Jugend keinen anderen Weg mehr, als mit Gewalt zu revoltieren, so wie es immer wieder in anderen europĂ€ischen und amerikanischen VorstĂ€dten Ă€hnlich aufpoppt. Die Jugendlichen sehen, wie die Milliarden so locker in diesen Krieg fliessen, wĂ€hrend sie besonders stark von sozialem Abbau betroffen sind. Wie könnte es diese Jugend anders sehen, als dass mit ungleichem Mass politisiert und ihre Zukunft von den politischen MĂ€chtigen zugunsten anderer Interessen geopfert wird?
  • Kinderopfer geschehen heute nicht mehr mit priesterlichem Hokuspokus, sondern sie entwickeln sich in politischen Entscheidungen. Je lĂ€nger ein Krieg dauert, desto mehr Kinderopfer wird es geben, nicht nur in Form von Toten, sondern von Kindern und Jugendlichen, die auf lange Zeit zukunftslos in der Ukraine und auch in Russland sein werden und eine Quelle grossen Elends, sozialer Unruhen und auch von Terror darstellen könnten.
  • Die Waffenindustrie, wieder salonfĂ€hig geworden, verdient Milliarden an einem Krieg, der Lebensgrundlagen von Dutzenden von Millionen zerstört. Wie weit sind wir – von „Recht ausĂŒben, GĂŒte leben, besonnen mit Gott gehen“ entfernt?
  • Micha klagt an, dass die LĂŒgen einer Elite das Volk vergiftet haben. – Mit LĂŒgen und Halbwahrheiten werden auch wir in einem beispielslosen Propagandakrieg von mehreren Seiten tĂ€glich konfrontiert. Wem noch glauben bei all den gefĂ€lschten Bildern und Behauptungen? Hier werden die Waagen fĂŒr die Wahrheit buchstĂ€blich so falsch tariert, dass sie uns der Wahrheit entfremden und Menschen und Völker entzweien.
  • Der Prophet Micha ruft die Fundamente der Erde als Zeugen auf. Wen könnten wir denn heute in dieser Situation als „Zeugen“ anrufen? Was ist stabil und unbestechlich genug?
  • Welche Rechtsverletzungen sind jetzt aktuell und wie wĂŒrde Recht ausĂŒben – auch zwischen den Nationen – hier aussehen können?

 

Jeremia 31,7-9 Es wird einen Neuanfang geben

Anders als Micha, der die Katastrophe von der Zerstörung Jerusalems und der Deportation der Oberschicht nach Babylonien (587 v. Chr.) nicht erleben musste. erlebte dies Jeremia, der die MĂ€chtigen unermĂŒdlich und vergeblich vor der Katastrophe gewarnt hatte. Er fordert sogar dazu auf, die Babylonier zu akzeptieren, statt den Krieg zu riskieren. Er leidet selbst daran, solch unheilvolle Botschaften verkĂŒnden zu mĂŒssen und schenkt daher im Kap. 31 auch Hoffnung, dass es nach der Zerstörung einen Neuanfang geben wird: Aus allen Ecken der Welt kehren Vertriebene heim, freudig singend. Diese Gemeinschaft – auch Blinde und Lahme, schwangere Frauen, junge MĂŒtter – geht den rechten Weg, gut geleitet von ihrem Gott.

Aspekte der Nachhaltigkeit:
Was bewirken solche Hoffnungsbilder bei Menschen, die gerade Zerstörung und Vertreibung erleben? – Schon frĂŒh wĂ€hrend des Kriegs in der Ukraine wurden Aufbauhilfen versprochen und aufgegleist. Es gibt Traumatisierten eine Perspektive, dass ihr Land wieder einmal bewohnbar sein wird. Der Text Jeremias trĂ€gt aber auch die Spuren des Leids in sich: Die Blinden und Lahmen, Kriegsversehrte? Welche der jungen MĂŒtter und Schwangeren wurden Opfer von Vergewaltigungen, die in Kriegen, Deportationen und auf der Flucht alltĂ€glich sind? – Hoffnungsbilder haben nur Kraft, wenn das zu Überwindende und die Quellen des Unrechts genau benannt werden.

HebrĂ€er 5,1-6: Stellenprofil fĂŒr von Gott Eingesetzte

Der Hohepriester hatte im Judentum das höchste religiöse Amt inne. Das hier beschriebene Stellenprofil scheint wie von einer anderen Welt zu sein: er soll mitfĂŒhlend sein, auch wenn die Menschen unwissend sind und falsche Wege beschreiten. Zugleich ist er keinesfalls allmĂ€chtig und unangreifbar. Dies wird vor allem darin deutlich, dass hier der wahre Hohepriester Christus ist, der selbst Folter und Hinrichtung erlebt hat.
Aspekte der Nachhaltigkeit:
Eine Meditation fĂŒr Einflussreiche: Deine Macht soll MitgefĂŒhl sein. Von „Gott eingesetzt“ zu sein, wĂŒrde, um mit dem Micha-Text zu sprechen, heissen: Recht tun, GĂŒte leben und besonnen den Weg gehen.

Markus 10,46-52: Die Erlösung herbeischreien

Der blinde, bettelarme BartimĂ€us wartet nicht ab, bis Jesus zufĂ€llig auf ihn aufmerksam wĂŒrde. Er fordert es ein, er schreit, er will Erbarmen. Dabei steht BartimĂ€us nicht nur fĂŒr eine individuelle Person, sondern reprĂ€sentiert ein ganzes Volk, das von seiner „Blindheit“ geheilt werden und wieder sehend werden muss. Im aktiven Rufen des Blinden nach Heilung ist bereits die Rettung enthalten: „Dein Glaube hat dich gerettet!“

Aspekt der Nachhaltigkeit:
Friedensstifter:innen dĂŒrfen nicht aufhören zu rufen, um die blind gewordene „Welt“ sehend zu machen: „Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heissen.“ Mt 5,9

Sara Amanda Kocher, ZĂŒrich

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