9. Sonntag nach Trinitatis / 17. Sonntag im Jahreskreis
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Phil 3, 7-11 (12-14) | Gen 18, 20-32 | Kol 2, 12-14 | Lk 11, 1-13 |
Lukas 11, 1-13
Die Perikope hat drei Teile: Das „Vaterunser“ (1-4), das Gleichnis „Der zudringlichen Freund“ (5-8) und „Die Kraft des Gebetes“ (9-13), so jedenfalls nach den Zwischenüberschriften der „Jerusalemer Bibel“ (in der deutschen Fassung 1965). Die Perikope enthält zentrale Botschaften Jesu. Der Text ist unausschöpflich.
Die verengte, säkulare Frage nach dem Gehalt an weltlicher „Nachhaltigkeit“ des Textes kann naturgemäß die Dimensionen des Textes nicht erfassen. Die Auslegung nach dem Prinzip der „Nachhaltigkeit“ muß sich bescheiden. Aber die Auslegung wird, auch auf ihrer Ebene, fündig. Der Text ist groß.
Alle drei Teile verbindet ein gemeinsames Wort, das in den drei verschiedenen Zusammenhängen vorkommt: das Brot. Auch das Wort „Brot“ ist im biblischen Sprachgebrauch unausschöpflich in seinem buchstäblichen, metaphorischen, symbolischen, schöpfungstheologischen, anthropologischen, eucharistischen Sinngehalt. Aber es bedeutet eben doch auch, was es vom natürlichen Ursprung her ist: die materielle Grundlage des menschlichen Lebens, die Gabe der Natur und die Frucht der menschlichen Arbeit. Hier ist denn auch der Ansatzpunkt eines „nachhaltigen“ Verständnisses der Perikope im Blick auf das irdische Leben.
Schlechthin zentral ist die Bitte im Vaterunser: „Unser tägliches Brot gib uns heute“ (3). So die liturgische Fassung im Gebet der Kirche (ökumenische Fassung, „Gotteslob“ 2013; Evangelisches Gesangbuch, Ausgabe für die Evangelische Kirche der Pfalz, 1995, Nr. 186; so auch Matth. 6, 11 nach Luther, revidierte Fassung 1984). Doch das ist der an Matth. 6,11 orientierte Wortlaut. Die Bitte bei Lukas aber lautet bereits im griechischen Urtext etwas anders, so dass auch die deutschen Übersetzungen variieren; in der „Jerusalemer Bibel“ heißt es: „Unser notwendiges Brot gib uns täglich.“, bei Luther „Unser tägliches Brot gib uns Tag für Tag.“ und, bereits mit exegetischer Tendenz, in der „Einheitsübersetzung“ (1980): „Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen.“
Woher kommt der Unterschied? Das „Vaterunser“ ist im Neuen Testament in zwei Fassungen überliefert, in Matth. 6, 9-13, und eben in Luk. 11, 2-4. Der griechische Text ist nicht identisch. Beide Fassungen gelten als gleich ursprünglich und waren in je verschiedenen Gemeinden der Urkirche im liturgischen Gebrauch (vgl. Walter Grundmann: Das Evangelium nach Lukas, 10. Aufl., Berlin 1984, S. 228/229); es sind liturgische Texte. Liturgisch durchgesetzt hat sich, auch in der Ostkirche, die Fassung nach Matthäus (Iera SunoyiV kai ta Agia Paqh, Athen 1979, S. 8). Der aramäische Ursprung wird deutlich im Gebrauch der Anrede „Vater“, aramäisch „Abba“, griechisch im Vokativ pater. „Vater“ bei Lukas, ohne das Possessiv-Pronomen „unser“, ist die Anrede, die wohl Jesus selbst originär verwendet hat (Grundmann, a.a.O., S. 229 f.).
So hat denn auch die Bitte um das „tägliche Brot“ zwei sich charakteristisch unterscheidende Fassungen. Heißt es bei Matthäus „unser tägliches Brot gib uns heute“, so heißt es bei Lukas, in der Luther-Fassung, die den Text am wörtlichsten wiedergibt, „Tag für Tag“. „Heute“ – shmeron - oder „Tag für Tag“ – kaq' hmeran -, das macht einen Unterschied. Dementsprechend steht auch das „gib“ im Griechischen bei Matthäus in der perfektiven Verbform des Imperativ Aorist (doV), bei Lukas in der reduplizierten Verbform des Imperativ Präsens (didou). Matthäus blickt auf das Hier und Jetzt, Lukas auf die Folge der Tage. Man könnte sagen: bereits.
Identisch freilich ist das unübersetzbare und doch bei Luther so unvergleichlich und stilbildend mit „täglich“ wiedergegebene Schlüsselwort „epiousion“ – am ehesten das „Zukommende“ (zur Etymologie und der vielfachen Deutung Walter Bauer: Griechisch-Deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der übrigen urchristlichen Literatur, 5. Aufl., Berlin – New York 1971, Sp. 587/588). Gemeint ist in der Tat, und hier tritt der Sitz des Evangeliums mitten im Leben überdeutlich zu Tage, das Brot als elementares Lebensmittel für den täglichen Verzehr durch die Menschen. Das elementare Bedürfnis des Menschen erfüllt sich in der Bitte um das Brot und in dessen Gabe aus der Hand Gottes. Es ist beides, und das ist das Evangelium: Der Mensch lebt als Naturwesen in dieser Welt und hat elementare materielle Bedürfnisse, und es ist Gott, der die Gabe schenkt, denn „Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft.“ (Matth. 6,32), aber auch vor dem weiteren Horizont: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ (Luk. 4, 4). Aber es geht um das „tägliche“ Brot, dessen der Mensch je und je bedürftig ist und um das er immer wieder betet und das ihm immer wieder, so deutlich bei Lukas, geschenkt wird. Matthäus stellt die Bitte um Brot vor einen eschatologischen Hintergrund: Die Sorge um das „tägliche Brot“ soll sich auch im Tag erfüllen, ein weiterer Zeithorizont erübrigt sich: „Sorget euch also nicht um den morgigen Tag“ (Matth. 6, 34; zuvor 25-32). Bei Lukas fehlt dieser Bezug. Es scheint, als ginge es ihm um das Leben in der Zeit.
Aber was gleich bleibt, ist eben dieses „epiousion“, das dem Menschen Zukommende. Dem Brot ist von vorneherein ein Maß gegeben. Es geht nicht um einen Überfluss, aber auch nicht um einen Mangel. Das, was der Mensch braucht, ist das ihm in dieser Welt Gemäße, kein Zuviel, kein Zuwenig, Tag für Tag, in der Zeit. Selbstverständlich ist das „Brot“ Ergebnis menschlicher Arbeit, menschlicher Wirtschaft unter den Bedingungen dieser Welt. Die Erzeugung von Lebensmitteln ist Bedingung menschlichen Lebens, und der Mensch setzt alle seine Fähigkeiten ein, das „Brot“ zu erzeugen: Landwirtschaft, Viehzucht und alle technischen Mittel der Moderne. Das ist legitim und obendrein sittlich geboten, insofern das Bedürfnis der wachsenden Menschheit nach „Brot“ ins Unermessliche wächst. Das „tägliche“ Brot steht allen zu, der Hunger in der Welt ist, wie auch Papst Franziskus nicht müde wird anzuprangern, ein Skandal dieser Zeit. Das „tägliche“ Brot nimmt caritative Gestalt an als „Brot für die Welt“ und als Gebot an die Weltwirtschaft, die Lebensmittel „nachhaltig“ zu erwirtschaften, und das heißt, durch schonende Landwirtschaft alle Menschen zu ernähren und die Lebensbedingungen auch künftiger Generationen zu bewahren. Denn das „tägliche“ Brot ist nicht für einen gegenwärtigen Luxus-Verbrauch weniger Menschen oder für die Verschwendung da, sondern kommt allen Menschen zu. Das „tägliche“ Brot setzt den Erzeugungsmethoden und dem Konsum das Maß. –
Vom „Brot“ ist auch im Gleichnis vom „zudringlichen Freund“ die Rede, von Mangel und von Genüge: Jesus nimmt im Gleichnis das elementare Bedürfnis eines Menschen, in einer bestimmten Lebenssituation über „Brot“ verfügen zu müssen, zum Anlass, den sittlichen Wert des Teilens hervorzuheben und um zu verkünden, um wie viel mehr Gott selbst Urheber gütigen Teilens ist. Wenn schon der Mensch aus opportunen Gründen zum Teilen bereit ist, um wie viel mehr ist es Gott der Vater selbst! Doch das Gleichnis bleibt in der Lebensmitte, bis in die wirklichkeitsnahen Einzelheiten hinein (ausgemalt bei Grundmann, a.a.O., S. 234); der eine braucht etwas, der andere hat es; wer hat, teilt und gibt darüberhinaus. Was gilt – und das ist das Besondere – ist die caritative Tat, nicht das Motiv. Mangel und Maß – das sind die Kategorien des Lebens im Einklang mit seinen Bedingungen. –
Im dritten Teil vollendet Jesus die Botschaft von der Liebe und Fürsorge Gottes. Vom Gebet geht alle Kraft aus, es ist der Anfang erfüllten, auch irdisch erfüllten Lebens. Dann aber ist die Erfüllung der elementaren Bedürfnisse des Menschen dabei Sache des Menschen selbst; in einfacher, selbstverständlicher Menschlichkeit wird er das „Brot“ austeilen, das er zuvor erwirtschaftet hat; es gilt die Tat, die dadurch bereits für sich allein zum Wert wird: eine Autonomie menschlichen Handelns und Wirtschaftens wird freigesetzt; der Mensch darf die ihm verfügbaren Mittel für die Erfüllung seiner Bedürfnisse einsetzen, und an diesem weltlichen Handeln darf sich auch der Christ beteiligen – bewahrt er nur das nachhaltige Maß, das ihm durch die Bitte nach „Brot“ gesetzt ist, und weiß er sich sowohl im Überfluss wie im Mangel in Gottes Hand.
Dr. Frank Hennecke