Wolfgang Kessler, Ökonom und Publizist, war von 1999 bis 2019 Chefredakteur der christlichen Zeitschrift Publik-Forum
Wachsen, aber anders
Wir sind Gäste auf dieser Erde und strapazieren Gottes Gastfreundschaft aufs Äußerste: Die Klimaerwärmung und die weltweite Umweltzerstörung führen uns täglich die Grenzen der Erde vor Augen. Und doch wollen die Menschen, will die Wirtschaft immer mehr von allem, mehr Rohstoffe, mehr Energie, mehr Konsumgüter, mehr Raum. Doch wer Wachstum in Frage stellt, rüttelt an einem Tabu.
Der Begriff Wachstum ist positiv besetzt. Persönlich und wirtschaftlich. Ein Kind freut sich über jeden Zentimeter, den es gewachsen ist. Erwachsene freuen sich, wenn sie ihre Persönlichkeit entfalten können, wenn sie an ihren Aufgaben, an der Welt wachsen. Gleichzeitig fordert auch unser Wirtschaftssystem Wachstum – und alle können gewinnen. Unternehmen sollen am Ende des Jahres mehr Geld in der Kasse haben als am Anfang. Dann jubeln die Eigentümer. Es sichert aber auch Arbeitsplätze: Die Steuereinnahmen wachsen, die Löhne können steigen. Die Kommunen haben mehr Geld für ihre Bürger, die Menschen können mehr kaufen. Mehr arbeiten, mehr produzieren, mehr kaufen – das ist das Lebenselixier der Wirtschaft und vieler Verbraucher.
Doch die Kosten des wirtschaftlichen Wachstums sind hoch. Es benötigt mehr Ressourcen, Regenwälder werden abgeholzt, Arten sterben aus, Plastik sammelt sich an Meeren und an den Stränden, das Klima wird wärmer. Der Drang zum Immer Mehr hilft die Schöpfung zu gestalten, er bedroht sie aber auch. Würden alle Menschen so leben wie in Deutschland, dann bräuchten wir drei Erden. Wir missbrauchen unsere Gastfreundschaft und benehmen uns unfair gegenüber unseren Gästen.
Doch es geht auch anders, wenn wir uns trauen, an diesem Tabu zu rütteln. Es gibt Alternativen zum „Immer Mehr“. Manche Kritiker empfehlen ein weniger an Konsum, ein Schrumpfen der Wirtschaft. Das ist nicht falsch, aber zu pauschal. Die Armen könnten leiden, denn sie haben schon jetzt wenig. Zudem: Wollen wir wirklich von allem weniger, auch von Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Kindergärten, erneuerbaren Energien und Kreislaufwirtschaft. Was so einleuchtend klingt, kann auf einen bedrohlichen Pfad führen, den Extremisten für ihre Zwecke ausnutzen können.
Versuchen wir es anders. Nämlich mit jener Frage, die Marie Langer, die Chefin des Familienunternehmens EOS mit 1250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, so formuliert: „Wir sollten uns genau überlegen: Was wollen wir möglichst nachhaltig produzieren. Welche Produkte brauchen wir und welche nicht?“
Diese Fragen sind mutig, weil unbequem. Klar ist jedoch: In Zeiten knapper Ressourcen und hoher Umweltbelastung wird die Gesellschaft entscheiden müssen: Mehr Bahnen und Busse oder mehr Autos; immer mehr neue Konsumgüter oder mehr Reparaturen, Secondhand und Teilen; mehr nachhaltige Investitionen oder mehr schnelllebige Spekulationen; mehr Getreide und Gemüse oder mehr Fleisch; gerechtere Preise für die Menschen im Süden oder ausbeuterische Billigprodukte, mehr Arbeit oder mehr Zeit, mehr von dem oder mehr von jenem? Da Politiker Konflikte, Unternehmer Absatzrückgänge und wir Verbraucher Bevormundung fürchten, reagieren wir auf diese Fragen gerne mit einem salomonischen „und“.
Wenn wir unsere Gastfreundschaft auf der Erde ernst nehmen wollen, werden wir den Mut zu einem „oder“ haben müssen.
Klar, als Einzelner können wir die Wirtschaft alleine nicht auf ein neues Gleis führen. Aber auch wir müssen entscheiden, ob das Streben nach Immer Mehr auch künftig unser Leben bestimmen soll oder ob wir auch anders wachsen können: nachhaltiger im Konsum, toleranter im Alltag, gelassener im Leben, freundlicher zu den Mitmenschen, spiritueller im Denken und Handeln. Das wäre ein anderes Wachstum, eines, mit dem wir die Schöpfung ebenso respektieren würden wie die Gastfreundschaft.
Wolfgang Kessler schrieb das Buch »Das Ende des billigen Wohlstands. Wege zu einer Wirtschaft, die nicht zerstört.« Publik-Forum Verlag, Juni 2023.