Allerheiligen (01.11.21)

Allerheiligen

kath. 1. Lesung kath. 2. Lesung kath. Evangelium
Offb 7, 2-4.9-14 1 Joh 3, 1-3 Mt 5, 1-12a

 

Stellung im Kirchenjahr inmitten von europäischem Klimanotstand, schwelenden multiplen Krisen und dem Corona-Jahr 2020

Während des Vorübergangs der Osterzeit 2020, die von dem Novum leerer Kirchen und isolierter Menschen wie auch vom länger als jemals erwartet andauernden Herunterfahren der „Megamaschine“ (Fabian Scheidler) geprägt war, entstand dieser in ein tieferes Nachdenken einladende Text. In öffent­lichen Leit­medien war noch immer keine nennenswerte Reflexion über ihren Ausbeutungsgehalt und ihre Zukunfts­losigkeit angesagt - dafür aber entstand eine gesammelte Stille und in deren geistigem Bannkreis ein Bewusstsein dafür: Ostern, heilige Märtyrer und Allerheiligen gehören kirchen- und zeitgeschichtlich eng­stens zusammen[1], enger als es bürgerlichem Christ- oder verächtlichem Atheist-sein (also den Grund­einstellungen, von denen ich am meisten um­geben bin) lieb sein mag. Im wechsel­seitigen Blick aufeinander gibt sich indes eine verblüffend an­regende neue Sinnerfahrung zu erspüren, aus der wir inmitten von im Weltkirchenrat lange schon adressierten Vielfach-Krisen und heimgesucht vom Corona-Virus uns gemeint fühlen und solidarisch-praktisch, nicht minder aber strategisch neu ausgerichtet werden aufleben können.

Der scharfzüngige geistliche Schriftsteller und gelegentlich geistig abkippende Seiltänzer Tertullian hat bekanntlich betont, dass erst das Blut der Märtyrer für das Eindruck machen der neuen „religio“ und ihren breiteren Einzug in die Herzen, Köpfe und Liturgien der Menschen (lex orandi – lex credendi) entschei­dend gewesen sei. Aus dem Jahr 202 ist eine Trostschrift an die Märtyrer im Kerker von Karthago über­liefert. Der große ostkirchliche Liturg und nicht weniger als Tertullian Zeit seines Lebens hart umkämpfte Bischof Chrysostomos, der seinerseits aus sechs Jahren Einsiedler- und Mönchsleben kam, („Predigen macht mich gesund!“) bezeugt mit der ihm eigenen Ernsthaftigkeit und Reichtumskritik, dass es in Antio­chien bereits im 4. Jahrhundert ein Sammelfest für die Märtyrer gegeben habe. Aus den Märtyrern aber wurden über die Jahrhunderte – den Bedeutungshof des Wortes aufweitend - die „Prototypen der Heiligen“[2].

Es ist wichtig zu wissen und neu wieder anzueignen, dass die Christen damals diesen aufrichtig er­schauern lassenden Gedenktag nicht wie heute gegen Ende des Kirchenjahres und schon gar nicht in schaurig-klamaukig sich selbst ent­leerende Halloween-Aktionen eingekeilt, sondern am 1. Sonntag nach Pfingsten gefeiert haben. Einschlägig wurde dies schon als „Herrentag aller Heiligen“ bezeichnet. Die Ost­kirche rückte das Fest für alle ihren Glaubenstod „bewusst und gewaltlos annehmende, aber nicht aktiv suchende Märtyrer“ (Karl Rahner) – die Märtyrer waren in der Tat zunächst das, was später dann die Heiligen werden sollten - damit ganz nahe an die Osterzeit, weil sie das Martyrium ganz zu Recht inhaltlich nur im Zusammenhang mit der Osterhoffnung zu verstehen vermochte.

Inhaltlich blieb man bei den allseits bekannten Deutungsparallelen: Im Vorübergang des Todesengels, dem Auszug aus dem tota­li­tären Fleischtopf-Reich Ägyptens, einem sich exponieren in langjähriger isolierender Wüsten­wanderung und schließ­lich unter vielen Opfern, Irrungen und Wirrungen sich einfinden von durch das exemplarische Lebenszeugnis und seine „Wunder“ auf den Weg gebrachten Spähern, Kundschaftern und „Mose-Scharen“ im gelobten Land – feierte man den Nachvollzug dieses Pascha durch die Heiligen. Merke: Ohne tödliche Bedrohung und zurücklassen von Sicherheiten, ohne einen langen und windungs­reichen Durchzug durch die Wüste der Unsicherheiten, ohne die Erfahrung göttlichen Beistands und das Zahlen eines Preises und ohne einander zuspielende Rollendifferenzierungen auf den letzten Weg­abschnitten ist für das Volk Gottes kein Zugang in die aufrichtig-erschauernde Sphäre von Märtyrern und Heiligen. Abkürzungen führen zu Entstellungen. Nur so wurden diese zu populären Vermittlungen, so etwas wie Gesicht, Körper und Seelenbewegungen an­sichtig machende Wegmarken für die erlebnis­hafte Rückkehr in die als ursprünglich angesetzte Sphäre des Heiligen selbst; für Christen zu ihrem Christus.

Wenn man dennoch „verstehen“ will, kenne ich keine bessere Verankerung als die Verwurzelung in biblischen Meditatio­nen zum Werden und Wachsen des inneren Menschen[3] gepaart mit einer zur Wirklichkeit erwachenden, mutig-einschneidenden Einstellung zum vorherrschenden Kontext eines in der Tat zutiefst kranken Gesamtsystems[4], um Heiligkeit heute zeit- und klassenspezifisch relevante Be­deu­tungen generierend mitvollziehen zu können. Ohne solche Zugänge bleibt der Gehalt der Rede von heiligen Mär­tyrern im Gefolge von Ostern in der Tat rätselhaft, auf existenziell-individu­alisierende Restbestände beschränkt oder ganz unzugänglich. Dabei gibt durchaus schon der jo­hann­eische Jesus eine in Umrissen generell mitvollziehbare, auf Furcht­losig­keit und Ziel­fokussierung ab­hebende Verstehensrichtung, indem er angibt, es gäbe keine größere Liebe als wenn jemand sein Leben hingebe für seine Freunde, im Dienst an dem, was er/sie unbedingt weiter­tragen möchte. (Joh 15, 13)

Die keltisch-irischen und italienischen Traditionen verlegten jedoch das Fest Allerheiligen von Ostern weg in die Nähe des irischen Hauptfestes Samhein, in dem der Einbruch der Hinter- und Anders­welt gefeiert wurde, genauer gesagt auf den 1. November. Zur Hintergrundfolie wurde nun nicht mehr Ostern, sondern die sterbende Natur.[5] Das Festthema verlagerte sich dadurch in Richtung Sterben und (auf ein reichlich heilsegoistisch interpretierbares) Weiterleben. Die Kombination mit dem Gedenktag „Aller­seelen“ (2. November) hat diese Umorientierung auf das Phänomen „Sterben“ mit dem Focus „Sorge/Angst um das individuelle Weiterleben“ noch einmal weitergetrieben. Das wäre existenzial-anthro­pologisch per se möglicherweise noch nicht selbst­verkehrend, wiewohl die gewalt­lose Furcht­losig­keit der Märtyrer dabei doch bereits sehr in den Hintergrund tritt, gewinnt indes in nekro­phil-spät­kapitalistischen Plausibilitäten, wo man - weil in Ängsten, Selbstoptimierung und ständiger Konkurrenz­hast befangen - wenig beziehungs­reich, rollendifferenziert, göttlichen Beistand auf den vielfältigen Wegen des Lebens anerkennend und geistige Früchte bringend zu leben weiß, dafür aber umso mehr Tabus und Angst rund um das Sterben müssen kultiviert, zunehmend irritierend-paradoxe Züge.

Exegetische Anmerkungen

Wenn es an österlichen Märtyrer-Gehalten anknüpfen soll, bietet es sich für die Liturgie von Aller­heiligen 2021 an, den Lesungs-Text aus der Offenbarung des Johannes ins Zentrum zu stellen, nämlich: Offb. 7, 2-14. „Die Heiligen“ erscheinen dabei in weißen Gewändern vor einem (Opfer-)Lamm. Sie tragen in egalitär – beziehungs­reicher Anspielung auf das im der jüdischen Tradition als „heilig“ geltende Laubhütten-Pilger- und Wallfahrtsfest, das an den entbehrungsreichen und nur in klassen­übergreifender Solidarität durchzu­stehenden Durchzug durch die Wüste und die endzeit­liche Königsherrschaft Gottes erinnert, Palmzweige in ihren Händen und rufen inmitten einer als gnaden­los gewaltförmig erlebten römischen Totalität ausge­rechnet das gewaltlose Lamm Gottes, den Christus also, zum Sieger aus. Die gesamte himmlische Thron­assistenz fällt vor dem Lamm nieder und bestätigt damit den Ruf der Heiligen. Das scheint wenn auch in einer gemeinhin für heutige Verstehenswelten weit­gehend verschloss­enen Bilderwelt doch so etwas wie den Kern des Allerheiligen-Festes zu treffen.

Der Autor setzt sich auf apokalyptische Weise mit einer ausge­sprochen „diesseitig verorteten“ Thematik aus­einander. Dazu bedarf es der Klärung der Frage: Was bedeuten die vier Siegel und das „Öffnen der Sie­gel“ in einer populär zugänglichen, nicht primär Angst oder Verschlossenheit hervorrufenden Sprachwelt?

Viele politische Theologien und BefreiungstheologInnen sind dem in den letzten Jahrzehnten gewinn­bringend nachgegangen. Stellvertretend dafür sei Pablo Richard an dieser Stelle genutzt.[6] Er zeigt auf: Die ersten vier Siegel stellen zweifelsfrei die todbeladene Realität des römischen Imperiums dar. Sie lassen jeweils ein Pferd und einen Reiter hervortreten, mythisch-symbolische Figuren, welche vier fundamentale Dimen­sionen des römischen Imperiums darstellen. Mit ihnen eröffnet Johannes eine vielschichtige kritische Analyse der Unterdrückung, die das auf allumfassende Weise herrschende Imperium über Volk und Gemeinde verhängt. Die Zahl vier wie auch die vier Himmel­s­richtungen, aus denen dies alles kommt, symbolisieren den gesamten bekannten Erdkreis. Was mit den Pferden und Reitern aus allen Himmels­richtungen auf­taucht, symbolisiert ein weltweites Ausmaß an unentrinnbare Züge annehmender Macht und Herrschaft. Es kehrt in gewisser Weise wieder in dem in der lateinamerikanischen Befreiungs­theo­logie des ökumenischen Zentrums in Costa Rica (DIE) markant als „Hurrikan der neoliberalen Globa­lisierung“ bezeich­neten Zeitalter, das nun in seinem verwildern­den Stadium der nur noch autoritär durch­setzbaren Hyper­globalisierung die allgemein als nötig erachtete Decarbonisierung der Weltwirtschaft bis 2050 massiv erschwert und die globale Verwundbarkeit durch das Corona-Virus offenbart hat.

Exemplarisch sei eine Stelle herausgegriffen: Das dritte Pferd und sein Reiter sind rabenschwarz. Der Reiter hält eine Waage in der Hand, das Symbol für ökonomische Macht. „Ein Maß Weizen für einen Denar!“ wird ausgerufen. Ein Denar, der durch­schnitt­­liche Tageslohn von damals, hatte aber einen weit höheren Kaufwert. Mindestens drei Maß Weizen hätte man auf dem Markt dafür bekommen müssen. Das dritte Pferd steht demnach für eine dramatische ökonomische Ausplünderung durch diejenigen, welche die diesbezügliche Schaltstellen-Macht innehaben, die auffällig genug nur Weizen und Gerste betrifft, also die Nahrungsmittel des einfachen Volkes. Öl und Wein, die Luxusgüter der Reichen, sind hingegen ausdrücklich ausgenommen. Der Autor wirft dem Im­perium in seiner apo­kalyptischen theologischen Vision demnach eine menschen­verachtende, ökono­mische Unter­drückungs­- und Hungerpolitik vor, die die Kleinen - und das sind heute beispielsweise die 100 Mio. junger chinesischer Wanderarbeiterinnen als verlängerter Werkbank der Welt - bis auf Blut aus­saugt. Nutz­­nießer war damals die reiche Oberschicht; derzeit ist es die sogenannte „globale Konsumen­ten­­klasse“, welche weiterhin ungeniert von den Opfern ihrer Energie­sklaven lebend ihrem „imperialen Lebens­stil“ (Markus Wissen/Ulrich Brandt) frönen kann. Und wenn dies noch so sehr bei einigen damals wie heute nur noch verzärtelnd, bedeutungsfrei und kontextlos als Luxus und Wohlergehen daher­kommt.[7]

Die Gesamtbotschaft des Textes lautet: Wir stehen all dem eben nicht auf uns alleine gestellt, hilflos, hoffnungslos unterlegen, ja handlungsunfähig gemacht gegenüber. Populärer ausgedrückt: Johannes unternimmt eine Analyse der damaligen Gesellschaftsgeschichte und zwar mittels apokalyptischer Aus­drucks­­weise. Das heißt, er berücksichtigt nicht nur die empirische Wirklichkeit, sondern auch die geistigen Potenziale und Realitäten, die in ein und derselben Wirklichkeit unserer Geschichte wirksam präsent sind. Mit dieser „Methode“ kommt er zu dem Schluss, dass die heute noch so unangefochten trium­phierende Zeit des Imperiums[8] ablaufen wird und ein ganz anderer und in dessen Gefolge ganz anderes sich durchsetzen wird. Das aber soll Mut, Hoffnung und Richtung zum Widerstehen geben.

Die erste Texthälfte spricht sodann jedoch von einer „Aufschiebung der vernichtenden Katastrophe“, die der ganzen Erde bevorsteht. Zweck dieser Aufschiebung ist die „Versiegelung der Knechte unseres Gottes“. Das Siegel drückt Eigentum aus. Die „Knechte“ sind Eigentum Gottes und stehen deshalb unter seinem besonderen Schutz. Das ist bedeutungsvoll im Blick auf die Etymologie des Wortfeldes „heilig“, das zunächst einen ausgegrenzten, dem weltlichen Rest vorenthaltenen Bereich bezeichnet; einen unum­kehr­baren Kontrast gegenüber der Logik dieser Welt aufmachend. Und zudem wichtig im Blick auf die im Rahmen jener Logik bevorstehenden menschengemachten Katastrophen. Was Gott gehört, darf nämlich nicht in das drohende Unheil und in den Untergang mit hineingezogen werden. Die Szene erinnert offen­kundig an den Exodus aus Ägypten. An dieser Stelle sei die exegetisierende Erläuterung unter­brochen, um diese später in der Predigtanwendung an geeigneter Stelle noch einmal zuspitzend wieder aufnehmen zu können.

Wer aber gehört Gott, wie empfängt man sein Siegel – und vor allem: Welche Arten von Heiligkeit trägt das dann aus? Als eingängig und zugleich antwortbereit auf diese Fragen erweist sich die 2. Lesung aus dem 1. Johannes­brief. Der ganze 1. Johannesbrief, der, als wäre es ein Fingerzeig für den inhaltlich wieder­zugewinnenden Bedeutungszusammenhang an den Ostersonntagen der katholischen Reihe B gelesen wird, hat eine ganz erdennahe und ebenfalls völlig diesseitige Gemeindethematik im Blick. „Die Welt“ erkennt hier die „Kinder Gottes“ nicht, wohl weil sie die sich selbst annehmende und dann tatsäch­lich auch hinzugeben bereite Märtyrer-Liebe wie sie sich in Jesus gezeigt hat, nicht verstehend mitvollziehen kann. Gott-ähnlich werden (dahinter stehen Gerechtigkeit und Bruderliebe) und Heiligung als Antwort auf die unverdienbare Liebe Gottes werden als Ausweis der Christen dargestellt. Das reichte wohl um den später lehramtlich fixierten, wenngleich historisch dramatisch-fatalen Hass auf den Glauben („odium fidei“) abzubekommen. In der sich ähnlich machenden Hoffnung auf das endgültige offenbar werden dessen, dass Gottes Liebe einmal alles in allem sein will, geschieht wirklich Heiligung. Wer aber Jesus ähnlich ist, dem ist das heilig, was ihm heilig war: das volle, nicht von trennender Abkehr gekennzeich­nete Leben der Menschen in mystisch zu ergreifender „purer Präsenz“ (Richard Rohr). Denn dadurch erwacht das Gefühl für Leben in Fülle inmitten von Gottes reichem Schöpfungsgarten.

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem zeit- und herrschaftskritischen Gehalt der Botschaft des Evan­geliums­­textes. Es handelt sich um den Auftakt zur Bergpredigt, die Seligkeitsrufe. Die Heiligen, so sagen die Texte im Zusammen­hang mit unserem Fest heute, waren „Menschen solchen Kalibers“. Die Bergpredigt fügt dabei den Akzent einer Ein­ladung in eine total alternative Gesellschaftsformation hinzu, die unter der Herrschaft Gottes in die Lage versetzt (sein) wird, sich gewaltfrei und anteilnehmend um andere zu kümmern, sozusagen aus einem reinen Herz der unmittelbar zugänglichen Gotteskindschaft heraus Lebens­kunst zu entwickeln; und zwar trotz dessen, dass um der Gerechtigkeit und um Jesu willen Ver­folgung und vielfältige Verleum­dung einen erwarten. Es handelt sich sozusagen um das vorausschauende Bild eines auch für säkulare Ohren durch­aus zu­gäng­lichen Märtyrer-Ideals: Umsonst habt ihr empfangen – umsonst sollt ihr weiter­schenken. Aber nicht umsonst soll diese Lebensform gewesen sein; selbst wenn sie in den Augen der Welt vergeblich enden sollte. Hier wird eine diametral quer zum im römischen Weltreich historisch Vorhan­denen gezeichnete gesellschaftliche Existenz ansichtig, in der die edleren An­teile des Mensch-seins in auffallend einladend einfachen Worten auf­leben und etwas für das gesamte Gewebe des Lebens Heilbringendes hervorbringen können. Natürlich geht es auch bei diesem Text nicht um eine Anfechtungen und Kipp-Punkten entzogene „himmlische“ Existenz. Ganz im Gegenteil! Das „Reich-Gottes-Format“ ist für jetzt und hier gedacht. Es soll der an Machtversessenheit, Unterjochung und Mitläufer­tum heillos erkrankten Welt einen Weg zur Gesundung, zum ganz werden, zum bleiben können in Gottes gutem Willen aufzeigen. An diesem Werk allerdings waren die Heiligen und ihre Vorläufer die Märtyrer in der Zeit ihres Lebens intensiv beteiligt. Deshalb lohnt es sich tatsäch­lich zeitlebens auf sie zu blicken.

Predigtanregungen

Es wurde viel geschrieben und be­dauert damals, dass diese Ostertage 2020 so anders gewesen seien. Dass wir etwas vermisst haben, nicht "feiern" haben können wie sonst. Und doch hatten wir auch etwas mitgenommen an Lern­erfahrungen, neuen Fähig­keiten und neuer Wertschätzung aus diesem erzwungenen zurückgeworfen-sein auf unsere lokalen Nah­räume und die Innenwelten unseres geistigen Mensch-seins. Die Vor­bereitungs­zeit und der Vorübergang von Ostern fühlten sich stimmiger an als sonst. Wahrhaftiger. Der Verzicht, die spürbare Wandlung, das Aushalten des Nichtwissens, das Schwanken zwischen Zuversicht und Ängsten. Das Pendeln zwischen Licht und Schatten. Wir entschlossen uns, uns mehr einzusetzen und mehr auszusetzen, koste es, was es wolle. Da erst transformierte es uns. Es umströmte uns ein länger anhaltendes Feld des Chaos solange bis neue Strukturen reif wurden.

In der Folgezeit galt es unsere je eigenen „Ernte­dank­feste“ zu gestalten und zu organisieren mit mehr Offen­heit, Liebe, Wehrlosigkeit, Verletzlichkeit, sinnlicher Bedürftigkeit, Selbst­preisgabe, Hingabe als jemals zuvor - und informiert durch gewaltfreie Kommunikation. Dann erst konnte Allerheiligen bei uns an­kommen. Die Heiligen wurden ehrlich eingeladen und gemeinschaftlich angerufen, uns zu helfen, in jenem noch immer andauernden lauten Chaos aus ver­öffent­lichten Stimmen, weitestgehend unbefragten staatlich garantierten Ausbeutungsverhältnissen, Grundrechtsabbau, Autoritätsgläubigkeit, unbereinigten Gefühlen und allerlei Ungereimt­heiten das vom Geist Gottes her gemeinte, herauszufiltern. Und in all dem begegneten wir un­versehens auch der großen Stille und dem Gebet. Und darin dem Vertrauen, der Arglosigkeit und Wehrlosigkeit - und wir lernten, demjenigen zu trauen, was wirklich wert hat, den Selig­preisungen. Vieles musste sterben, damit etwas wirklich Neues entstehen konnte. Zeitansagen aufrichtig-apoka­lyptischer Natur stellen sich nicht von selbst ein.

Die Zeit­umstände luden uns indes nachdrück­lich ein, uns dem Schmerz, den Ängsten, den Menschen um uns und dem inneren Kind in uns zuzuwenden, sodass sich einige „Mose-Scharen“ dem nicht länger entziehen konnten, um in der Stille auch all das in liebevoller Annahme zu sehen, was noch in totalisieren­der imperialer Herrschaft, traumatischem Aufruhr, Kriegen, ökonomischer Überausbeutung und Un­frie­den war. Ja, die Stille hielt uns geborgen in ihren Armen. Sie warf uns auf die Orientierungskraft der zehn Gebote zurück und gab uns Raum, um zu fühlen, was gefühlt werden wollte und um praktische Solidarität im Nah- und zunehmend auch im Fernbereich, die bereit­gestellt und organi­siert werden wollte, in die Welt zu bringen. Hier und da kehrte sogar Reife in uns ein. Vielfach durften wir jedenfalls etwas loslassen: Überzeugungen, Glaubenssätze, Verstrickungen. Es fühlte sich auch immer öfter an wie sterben; und so kamen uns auch Märtyrer wieder nah; mindestens aber fühlten viele, dass etwas in ihnen und um sie herum sterben durfte. Hier und da stellte sich die Qualität von Hingabe ein. Und es machte uns nicht mehr so viel Angst. Vor allem aber hatten wir kein Erschrecken mehr vor den sich vor unseren Augen zuziehenden Schlingen falscher Herrschaft auf Kosten von anderen. Einige zogen sich zurück in Räume der Stille. Daraus wieder hervortretend begegneten wir einander neu und ohne allzu viele Verpanzerungen - alles Unliebsame wollte gesehen und erlöst werden.

Daraufhin konnte auch die neue apokalyptische Literatur geboren werden. Jedenfalls solange sie sich als Beitrag zum herabsteigen in die Wirklichkeit und ihrer Bewältigung ausweisen konnte und nicht alles in einen Rausch des Verurteilens hineinzog, sondern aufrichtig-verstän­digungs­­orientiert ausgerichtet war, in tätige Hoffnung und aufbauende Widerständigkeit hineinführte. Und universale, freiwillig eingegangene, aber bindend eingerichtete Solidarität freisetzte. Apokalyptisches verarbeiten dessen, dass wir weit über die globalen ökologischen Leitplanken hinausgegangen waren, Herrschaft und Unterjochung produzierten und Sklaven an ungeahnten Enden der globalen Wertschöpfgunsketten - und noch viele Ausbeutungs­verhältnisse mehr am anderen Ende der Welt für den Reichtum von wenigen arbeiten ließen[9] - und unsere Herzen einander darüber nicht mehr fanden.

Zeit- und herrschaftskritische Ansagen gegenüber dem fälschlicher­weise Bestehenden und post­kapitalistische Wideraufbau-Initiativen aus dem Geist der Märtyrer und Heiligen – diese Puzzleteile passten auf einmal zusammen.[10] Entscheidender noch war, was sich dahinter abspielte: Wir entdeckten, wie wir die Antriebskräfte finden und neu aussprechen könnten für Gottes neue Welt - und wie wir sie gegenseitig im engen Austausch unter Verbündeten wie auch in der großen (Makro-)Ökumene der Religionen ein Stück rein erhalten können. Wer jetzt eine feste Haltung bildete, ließ sich wandeln und hielt stand. Der Glaube machte offenkundig so waghalsig, so abenteuerlich und verwegen.

Und das brauchte es auch: Denn damals wie heute nahm die Menge hintergründige Trends und Entwicklungen in Politik, Gesellschaft und Religionsgeschichte nicht wahr. Erregungs- und Erschöpfungs­zustände aber sind allgegenwärtig. Das Leben scheint von vielen Seiten her bedroht.

Jon Sobrino vermag jedenfalls gut zu verdeutlichen, worum es hintergründig und sehr handfest dabei geht: „Über Christus wird viel geredet und gesungen. Von Jesus von Nazareth, der die Armen des Volkes in Schutz nahm, Kaiphas und Pilatus gegenüberstand, am Kreuz starb als Opfer der Sünden der Mächtigen und dem Gott Gerechtigkeit verschaffte durch die Auferstehung – von ihm hört man wenig. Diesen Jesus (und alle seine Märtyrer, P.S.