Heiliger Abend und Heilige Nacht / Christvesper und Christnacht
ev. Predigttext | kath. 1. Lesung | kath. 2. Lesung | kath. Evangelium |
Hl. Abend: Hes 37,24-28 Hl. Nacht: Sach 2,14-17 |
Hl. Abend: Jes 62, 1-5 Hl. Nacht: Jes 9, 1-6 |
A.: Apg 13, 16-17.22-25 Nacht: Tit 2, 11-14 |
Abend: Mt 1, 1-25 Nacht: Lk 2, 1-14 |
Weihnachten ist das „nachhaltigste“ der christlichen Feste, gerade wenn man die unterschiedlichen Bräuche und Gewohnheiten in Europa in den Blick nimmt. Die Vielfalt ist schier unüberschaubar, und jede Familie hat ihre Traditionen, dieses Fest zu begehen. Die Gottesdienste sind (noch und teilweise schon wieder häufiger) gut gefüllt, Gänse-und Entenvieh muss in großer Zahl sein Leben für Festschmaus-Variationen aller Art lassen. Und ob Glühwein in der Innenstadt oder die Weihnachtsgeschichte unterm Tannenbaum, ob Krippenspiele oder Geschenkemarathon, alle haben unterschiedliche Zugänge und Geschichten mit dieser Zeit. Früher war mehr Lametta!
An Weihnachten scheiden sich freilich auch die Geister. Es gibt einerseits heftige Auseinandersetzungen und Abwehrhaltungen auf der einen Seite, durchaus auch und nicht zu knapp innerhalb der Kirchen selbst. Auf der anderen Seite aber leben tief verwurzelte und ernstzunehmende Gefühle auf, nicht immer rational verankert, aber für die Seele und das gemeinsame Leben von großer Bedeutung. Bis tief in die säkularisierten Gesellschaftsschichten Europas hinein lassen sich diese oder andere Symptome um Weihnachten herum beobachten.
Vulnerabilität ist das Oberthema dieses Jahres. Das trifft ins Zentrum der Geschichte von Bethlehem. Wir können uns ihr nähern, wenn wir grundsätzlich bereit sind, uns in die weihnachtliche Gefühlswelt hineinzuversetzen. Inwieweit wir uns von ihr mitnehmen lassen in die Wunder dieser Nacht und ja, auch noch staunen können über das, was uns seit alters her und konkret meistens seit unserer Kindheit begegnet, sei dahingestellt. Auf alle Fälle aber gilt es, sich den Herausforderungen, die unter und hinter dem Schönen liegen, zu stellen. Dann kann etwas Neues werden, angesichts der sehr alten und wahrscheinlich wirkmächtigsten Legende des so genannten christlichen Abendlands.
Für die Auseinandersetzung mit der Tradition wird hier im Wesentlichen auf die beiden Texte Jesaja 9 und natürlich Lukas 2 Bezug genommen, verknüpft mit den Motiven, die uns in Sacharja 2 und Jesaja 62 begegnen.
Aus dem Blickwinkel der Hirten
Ich lese Lukas 2 vor allem aus dem Blickwinkel der Hirten und stelle mir sie vor. Die Hirten werden in der einschlägigen Literatur teils als raue Burschen (es waren wohl wirklich ausschließlich Männer), teils als Vagabunden, aber auch als Gauner und Diebe bezeichnet. Sollten sie in einem festen Vertragsverhältnis gewesen sein, ist eine Bezahlung weit unter Mindestlohn anzunehmen. Die Hirten waren also arme Socken, aber auch wohl grundsätzlich kriminellen Karrieren nicht immer fern. Ihr Beruf war gefährlich. Für Verluste an Tieren mussten sie geradestehen, Mitleid hatten wohl die wenigsten mit ihnen. Sozial prekäres Umfeld heißt das heute. Oder vulnerabler Personenkreis.
Es bleibt einer der stärksten Züge der Lukas-Legende, diese Gruppe im erzählten Heilsgeschehen so in den Mittelpunkt zu rücken. Natürlich ist das theologisches Programm. Weder durch heimelige Krippenfiguren, aber auch nicht durch allzu nüchterne Exegese darf dieser Blick geschmälert werden. Ja, diese Figuren regen zu phantasievoller Nacherzählung an – und wir werden dabei rasch feststellen, wie wir mitten in den Konflikten der Gegenwart landen. Die Nachricht von Engeln an diese Außenseiter, ist an sich schon das Wunder dieser Nacht, die so vieles auf den Kopf stellt. Es gibt offenbar Influencer*innen, die wichtiges mitzuteilen haben und noch mehr in Bewegung setzen. Hätten die Hirten schon Smartphones gehabt, wer weiß, welche Wege „Engel“ gesucht hätten, um ihre „message“ zu teilen.
Die Nachricht von der Geburt eines Retters hätte ja ebenso als Fake-News durchgehen können. Aber gerade in diesen nach außen oft nicht gerade zimperlichen Gesellen regt sich Neugier und Zielstrebigkeit. Klar, die Erzählung fährt dick auf, die ganze Heerschar von Engeln, ganz großes Kino sozusagen. Doch all das mündet in eine nur noch zärtlich zu nennende Szene, in ihrer Knappheit unüberbietbar zugespitzt.
Alles wird auf den Kopf gestellt
Wie bei den Hirten wird an den weiteren Elementen der Weihnachtslegende deutlich, auf welche Weise alles Gewohnte und Selbstverständliche in dieser Geschichte auf den Kopf gestellt wird. Der Retter, von dem Heerscharen an Engeln singen, liegt in Windeln in einer Futterkrippe, weil alle anderen, die durch die Volkszählung der römischen Machthaber in Schwierigkeiten waren, Vorrang hatten vor einem schwangeren jungen Mädchen und seinem Begleiter/Verlobten. Das arme Kaff Bethlehem wird zum Mittelpunkt des Weltgeschehens, natürlich aus theologischen Gründen. Hirten werden zu den ersten Boten der neuen Zeit, die in dieser Nacht anbricht. Sie, die wohl eher nicht lesen und schreiben können, mit denen niemand zu tun haben will, erzählen anderen von „allem, was ihnen von diesem Kinde gesagt wurde(!)“.
Und der Gesang der Engel auf den Feldern (gerade nicht im Tempel!) ist schon die Vorwegnahme der endgültigen Präsenz Gottes in der Welt, die sich selbst verloren glaubt, aus der er, Gott, aber nie mehr wegzudenken ist. Das legt im Übrigen auch die Perikope Jesaja 9 nahe.
Zu suchen und zu retten, was verloren ist
Ich möchte in diesem Zusammenhang den Gedanken des Verlorenen bzw. des Schwachen noch weiterspinnen, weil es in der Lukaserzählung so stark angelegt ist. Nimmt man die erwähnte Passage aus Jesaja 9 hinzu, dann wird deutlich: So wie das Volk, das im Dunkeln lebt, zu neuer Freiheit und Freude geführt wird (denn der Gesalbte des Herrn wird dort sein Königreich haben – Friedefürst wird er genannt!), so wird Christus seine eigentliche Mission genau so bezeichnen: Ich bin gekommen, zu suchen und zu retten, was verloren ist. (Lukas 19,10)
Genau damit ist aber zugleich die Rolle der Nachfolgenden dieses Königs für immer definiert. Die Kirche war und ist einem großen und unentschuldbaren Irrtum unterlegen, indem sie sich als eine starke Institution, über die Zeiten hinweg sogar als weltliche Macht gegenüber der staatlichen behaupten wollte. Die Worte zu Weihnachten machen sehr deutlich, wie die Kirche alle ihre Kraft und Stärke zu allen Zeiten ausschließlich dieser nicht endenden Bewegung Gottes in die Welt und in der Welt verdankt.
Darum musste sich fast zwangsläufig die immer wieder behauptete Allmacht[1] des Gottes Israels in einem elenden Stall in Bethlehem zeigen[2]. Wir haben wahrscheinlich die (Selbst-)Begrenzung dieser Macht des ewigen Gottes noch gar nicht recht erfasst und die Kirche ist und war sich ihrer diesbezüglichen Hirtenrolle wohl eher in Ausnahmefällen als in der Regel bewusst.
Gottes Gegenwart in der größten Katastrophe
Ich habe jahrelang im Ostkongo in Zentralafrika gearbeitet und bin seitdem immer wieder mit der Frage konfrontiert, wie Menschen in dieser Region der Welt, durch den ruandischen Genozid von 1994 und die folgenden Kriege schwer traumatisiert, mit dieser ständigen Gewalterfahrung leben können. Bei allem was man über traumatherapeutische Ansätze wissen kann – die meisten erhalten keine Hilfe dieser Art. Es wächst eine Generation auf, die nie etwas anderes als Angst und Gewalt erlebt hat.
Glaubenssätze erstarren hier zu Floskeln, und doch ist in der ganzen Verletzlichkeit der Seelen ein Lebenswille sichtbar und spürbar, an den ich in diesem Zusammenhang denken muss. Ist Gottes Gegenwart von Bethlehem nach Zentralafrika gewandert, zu dem Volk, das wahrlich im Dunkeln lebt? Welches große Licht sehen sie?
Man muss das im Einzelnen immer wieder durchbuchstabieren. Dort, wo Kriege und extrem brutale Vergewaltigungen, als Kriegswaffe eingesetzt, Familien und Sozialstrukturen zerstören (wo auch der diesjährige Friedensnobelpreisträger herkommt), muss sich der Blick zwangsläufig auf die Opfer richten. Es geht nicht an, dass wir ungefragt unsere Mobiltelefone nutzen und nicht einmal fragen, woher die Rohstoffe für die Geräte kommen. Auch die Frage unserer „sauberen Elektromobilität“ geht einher mit sehr schmutziger und auch tödlicher Ausbeutung von Kindern in ungesicherten Minen und Abbaugebieten.
Das alles hängt zusammen und wird in den kommenden Jahren immer mehr Thema sein. Weihnachten ist auch in diesen Minen und an den Orten, wo Frauen, die an Leib und Seele für immer zerstört wurden, wieder ins Leben finden wollen und können. Wo Kinder ihr Leben lassen, damit bei uns Kinder mit in Zukunft wohl elektrischen SUVs zum Kindergarten oder zur Schule gebracht werden.
Weihnachten schärft den Blick für die Zärtlichkeit Gottes, der in diesen Kindern und Frauen zur Welt kommt. Zugleich fordert es uns massiv heraus, den Schwächsten dort beizustehen und für sie einzutreten. Politisch nennt man das Lobbyarbeit, geistlich ist es wohl das Suchen und Retten dessen, was verloren ist, mit aller unsere Kraft angesichts der Proklamation von Bethlehem.
Geflüchtete als Völker unterwegs zu einem Gott (Sacharja 2)
Wir müssen schließlich auch in diesem Jahr über Geflüchtete reden. Sie gehören ja sozusagen zum inneren Kreis der Weihnachtserzählungen. Diese Menschen haben schon lange keine Lobby mehr. Sie werden durchgehend schikaniert, als unerwünscht gebrandmarkt (ein Besuch bei einer beliebigen Ausländerbehörde reicht aus, um das zu untermauern), mit unüberwindbaren Hürden daran gehindert sich einzubringen und im Krankheitsfall mit bürokratischen Maßnahmen belegt, die jedenfalls nicht zur Heilung beitragen. Wer das Mittelmeer überlebt hat, muss in Deutschland jederzeit damit rechnen, beschimpft, ausgegrenzt und unterdrückt zu werden. Inzwischen ist die Hemmschwelle auch im bürgerlichen Milieu so niedrig, dass es auch unter so genannten Gebildeten schwer geworden ist, für Achtung und Menschenwürde auf diesem Feld zu werben bzw. überhaupt noch Verständnis zu finden[3].
Es ändert sich eben alles, wenn wir die Bewegung der Weihnachtserzählungen hier aufnehmen. Menschen werden sichtbar mit ihrer Geschichte, mit dem was sie sind, was sie erzählen und auch beitragen können. Die „Fremden“ werden zu einem Motor des Neuen. Ja, ihre Geschichten zu hören und sie als eigenständige, mit Würde und allerlei Begabungen ausgestattete Bürgerinnen und Bürger zu sehen, hilft uns doch am Ende auch, uns selbst besser zu verstehen. Die Frage, wie die vielen Völker sich um den einen Gott versammeln werden (Sacharja 2), ist eben noch längst nicht ausgemacht. Es könnte ja sein, dass die Menschen, die zu uns kommen, in Gottes Augen schon längst Teil dieser Bewegung sind, wenn wir in ihnen das Ebenbild unseres Gottes erkennen. Das ändert alles.
Weihnachten bleibt eine große Ermutigung und Herausforderung zugleich: Wir dürfen und sollen Gott genau dort verorten, wo die Finsternis am größten ist. Eine schlichte und zugleich weitreichende Behauptung. Doch über den Feldern von Bethlehem hat eben das begonnen, was nie aufhören darf, damit am Ende der Lobgesang der himmlischen Heerscharen zu seinem Recht kommt. Friede auf Erden – den Menschen seines Wohlgefallens. Den Schwächsten zuerst, überall und für immer.
Martin Domke, Herne
[1] Allmacht ist und bleibt eine problematische Kategorie. Das bedarf in der Tat einer eigenen Diskussion. Gerade angesichts des Themas „Vulnerabilität“ ist dies in vielschichtiger Weise zu bedenken.
[2] Selbst die immer wieder aufgeführte Genealogie des „Stammbaums Jesu“ deutet in diese Richtung. Das wäre eine eigene Untersuchung bzw. Meditation wert.
[3] Ich meine damit nicht, dass Geflüchtete per se „Opfer“ geschweige denn „gut“ sind. Es bleibt gefährlich, Menschen von vornherein in eine Kategorie zu zwängen. Die Naivität war 2015 sicherlich auch groß. Es muss eben auch klar sein: Wer als Gast das Gesetz übertritt, muss auch mit der Härte des Gesetzes zur Rechenschaft gezogen werden. Aber der Wertekanon, auf dem unser Zusammenleben beruht, ist eben nicht beliebig zu verschieben, sondern bleibt die Herausforderung in dieser Zeit.