Reminiszere / 2. Fastensonntag
ev. Predigttext | kath. 1. Lesung | kath. 2. Lesung | kath. Evangelium |
Mt 26,36-46 | Gen 15, 5-12.17-18 | Phil 3, 17 - 4, 1 oder: Phil 3, 20 - 4, 1 |
Lk 9, 28b-36 |
Ich schreibe diese Gedanken im Juni 2021. Für Predigten in der Fastenzeit 2022. Es fällt mir schwer. Zu turbulent waren die letzten beiden Jahre mit der Pandemie, den Veränderungen, Einschränkungen und Verwerfungen. Auch und gerade für das gottesdienstliche Leben der beiden großen Kirchen in Deutschland. Und wie wird es sein, in neun Monaten? Wie wird die „neue Normalität“ aussehen? Der Weg zurück ist verschlossen, der Weg in die Zukunft – unklar. Zu viel hat sich verändert, oder anders gesagt, es hat sich an vielen Stellen in unserem persönlichen wie gemeinschaftlichen Leben mehr oder weniger viel verändert. Wie sich das alles im Zusammenspiel auswirken wird? In Arbeitswelt und Wirtschaft sind viele unruhig und schauen mit Bangen nach vorn. Planen, investieren auf Jahre hinaus, wer wagt das?
Corona hat die Klimakrise nur wenig in den Hintergrund treten gelassen, nach und nach kommt sie wieder verstärkt ins Bewusstsein. Die EU-Kommission hat ihren „Green new Deal“ auf den Weg gebracht, im September sind Bundestagswahlen, wer wird Deutschland in der Fastenzeit 2022 regieren und mit welchem Programm? Mit wie viel nachhaltigem Profil? Und wie weit stellen sich die beiden Kirchen in ihren Organisationen hier neu auf? Fastenzeit, eine Zeit des Innehaltens. „Sieben Woche ohne…“ heißt es in dieser Zeit in evangelischen Kirche, das Motto für 2022 steht noch nicht fest.
Mt 26,36-46
Jesus betet im Garten Gethsemane. Eine dunkle Nacht, er fühlt sich allein gelassen. Ob er in seiner Angst die Schönheit des nächtlichen Gartens wahrgenommen hat? Die Dunkelheit und die Schatten, vielleicht das Zirpen von Grillen, das Rascheln der Blätter oder von kleinen Tieren, die im Schutz der Nacht unterwegs sind? Den harten Boden, das weiche Gras, die Rinde des Baumstamms? Hat er in seiner Angst den Schmerz und die Wehmut des Abschieds in dieser Umgebung noch fühlen können? Die funkelnden Sterne, den Mond, die Dämmerung des kommenden Morgens? Oder war all das überlagert von dem Gedanken an den morgigen Tag, von der Angst vor Folter und Tod? Menschen nehmen oftmals in Krisenzeiten ihre Umgebung intensiver wahr. Warum ging Jesus in dieser Nacht in einen Garten, mitten in der Stadt? Warum verbrachte er die Nacht nicht in einem Haus oder verließ Jerusalem noch einmal? Die Schönheit der Schöpfung, die Nähe zum Schöpfer und zu seinen Geschöpfen nehmen Menschen in einem Garten besonders wahr. Erinnerung an den Paradiesgarten? An die wohlgeordnete Natur, an eine Natur, mit der ich hier im Einklang lebe? Es macht so oft Sinn, den Kontext einer Begebenheit, eines Textes, einer Geschichte mit in den Blick zu nehmen. Ein nächtlicher Garten in der Großstadt ist der Ort, den Jesus für die letzte Nacht seines Lebens wählt. Warum?
Gen 15, 5-12.17-18
Gott schließt einen Bund mit Abraham und seinem Volk, verspricht ihm zahlreiche Nachkommen. Die Hoffnung auf eine gute Zukunft für die eigenen Nachkommen hat Menschen immer bewegt. Vielfach war sie auch Antrieb – nicht nur das eigene Leben sollte leichter, schöner, angenehmer werden, sondern auch das der Kinder und Kindeskinder. Der Drang nach Fortschritt hatte auch hierin einen wesentlichen Antrieb. In den letzten Jahrzehnten ist diese Hoffnung nach und nach brüchig geworden. „Ihr sollt es einmal besser haben als wir!“, diesen Satz habe ich oft von meinen Eltern gehört, er war ihnen wesentlich und wichtig in den sechziger Jahren. Sie selbst hatten zwar keine wirtschaftlichen Sorgen, aber sie litten beide darunter, dass sie nicht studieren konnten. Ihre Söhne sollten es besser haben, Abitur war Pflicht, Studium ihr sehnlicher Wunsch. Mein Bruder und ich haben dies verwirklicht, die Dringlichkeit in den Worten unserer Eltern haben wir erst später erkannt und verstanden. Ich wäre aber nie auf die Idee gekommen, diesen Satz meinen Kindern zu sagen. Zu sehr war das Erfolgsmodell Wirtschaftswachstum schon in die Krise gekommen. Und heute? Die Initiative „Für unsere Enkel“ von dem mittlerweile pensionierten Pfarrer und ehemaligem Staatssekretär Ulrich Kasparick ist etwas in den Hintergrund geraten, da bei Fridays für future viele Großeltern wie selbstverständlich mit laufen. Heute steht die Hoffnung auf zahlreiche Nachkommen nicht im Vordergrund, aber die Hoffnung ist lebendig, dass es – verbunden mit der schmerzlichen Erkenntnis, dass wir schuldhaft verwoben sind in das System – überhaupt „gut“ weitergehen möge. Die Zusage Gottes an Abraham höre ich so: „Ich stehe zu meinem Bund, aber ich nehme euch eure Verantwortung nicht ab!“ Ich werde im September, wenn alles gut geht, erstmals Großvater. Mein Enkel hat gute Chancen, dass 22. Jahrhundert zu erleben. Mir wird mulmig bei dem Gedanken daran, aber ich vertraue auf Gottes Nähe.
Phil 3, 20 - 4, 1
Zu diesem Text fällt mir ein, dass die Folgen des Verhältnisses Glaube/Unglaube (um die es hier geht), eventuell an Themen von Nachhaltigkeit verdeutlicht werden kann. Insbesondere klingt dies in Vers 21 an, der eine Anspielung auf Gen 1,28 zumindest in der deutschen Übersetzung nahelegt: mir alle Dinge untertan machen können wird hier auf Jesus Christus bezogen, ER kann uns verwandeln, so dass wir die Kraft erhalten, uns „alles“ untertan machen zu können. Im Status des Unglaubens, der Sünde führt dies in die Irre. Von hier aus könnte präzise beschrieben werden, welches Weltverhältnis der Glaube impliziert und welche Folgen Sünde bzw. Unglaube haben. Das mag in der Trias: Ernüchterung, Entlastung und Ermutigung aufgehen.
Lk 9, 28b-36
Hier scheint mir ein möglicher Bezug zur Nachhaltigkeit ähnlich wie bei der Nacht im Garten Gethsemane im räumlichen Kontext zu liegen. Ein Berg ist der Ort dieser Begebenheit. Ein Ort, von dem aus ich weit schauen kann. Ein Ort, den ich nur mit körperlicher Anstrengung erreiche. Ein Ort, der häufig das Alltägliche klein und weit weg erscheinen lässt. Ein Ort, nahe am Himmel. Kein Wunder, dass die Jünger hier bleiben wollen, hier oben mit Jesus allein, nachdem sie ihn so sehen, wie er ist. Ob die Abgeschiedenheit, die Entfernung zum normalen Leben der Grund war, dass ihnen Jesus so klar, so ver-klärt erschien? Der Berg, ein Rückzugsort, ein guter Ort fürs Fasten. Welche Orte können noch geeignet sein für solche Gotteserfahrungen? Dem könnte die Predigt nachspüren. Und zugleich deutlich machen, dass der Alltag meines, unseres Lebens „dort unten“ in der Ebene, im Tal stattfindet. Jesus weist das Ansinnen der drei Jünger ab, nicht der Rückzugsort ist der Bewährungsort des Glaubens, sondern der Kontext meines Alltags. Aber solche Bergerlebnisse tun gut und hier spiegelt sich in der Schönheit und Größe der Natur sowohl auch ihre Verletzlichkeit als auch ihre Fähigkeit, die Brücke zum Himmel zu schlagen, stets neu und nie ein für allemal.
Dr. Matthias Jung, Hannover