Verwundbarkeit ist ein komplexes Thema, besonders in globaler Perspektive und mit christlich-biblischem Hintergrund. Es gibt Vernetzungen und inhaltliche Verschachtelungen. Ăkosysteme können verletzt werden, ebenso Körper und Seele, Hoffnungen und Lebensperspektiven von Mensch und Tier.
Im ersten Beitrag werden die Themenfelder zusammengestellt, die ein VerstĂ€ndnis fĂŒr âVerwundbarkeit" in ihren vielen christlich bedeutsamen Perspektiven ermöglicht. Dazu gehören Wasserstress und MenschenwĂŒrde, Weisheit, Klima und imperiales Denken ...
Verschiedene Themenfelder zu âVerwundbarkeit"
âDie Welt im Wasserstress"
Die bei Brot fĂŒr die Welt erschienene BroschĂŒre âDie Welt im Wasserstress" orientiert sich in erster Linie am Thema ErnĂ€hrung und zeigt die globalen Spannungsfelder auf, die im Umfeld von ErnĂ€hrung entstehen. Treibende und ungebremste Faktoren sind Konsum, Klimawandel und Bevölkerungswachstum.
Ohne diese treibenden KrÀfte könnte man sich auf den Standpunkt stellen, es handele sich um ein Verteilungs- und Gerechtigkeitsproblem, also um einen VerdrÀngungswettbewerb und nicht um Verwundbarkeit. Mit Blick auf die Faktoren Konsum, Klimawandel und Wachstum der Weltbevölkerung bleibt zwar der Verteilungs- und Gerechtigkeitsaspekt vorhanden, aber die Verletzlichkeit der globalen Wasserversorgung drÀngt sich in den Vordergrund.
Die Menschheit könnte sich ihren Wasserverbrauch vielleicht noch leisten, wenn nicht auch "Klimawandel" wÀre. Risiko und Verwundbarkeit steigern sich, indem keine klaren Lösungen auf den Tisch kommen. VerdrÀngung wurde zur gesellschaftlich wenig hinterfragten Strategie.
Kippbedingungen
Unter dem Stichwort âSynergetik" wird das PhĂ€nomen beschrieben, dass es oft nur wenige Leitparameter sind, die ein komplexes, selbstorganisiertes System zum Kippen bringen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass sich die Bedingungen nicht stetig weiter verschlechtern, bis der schĂ€digende Einfluss aufhört. Das bezieht sich nicht nur auf biologische Systeme, wie etwa beim Sauerstoffgehalt von BinnengewĂ€ssern, oder auf meteorologische Systeme, wie die VerĂ€nderung von Meeresströmungen. Das PhĂ€nomen wird angesichts der Demonstrationen in Hongkong veranschaulicht, bei denen im Sommer 2019 der Gesetzesentwurf zur Auslieferung von StraftĂ€tern an China zu einem solchen Leitparameter wurde. Die Demonstrationen halten seit Monaten unverĂ€ndert an. Wenige Leitparameter entscheiden, wie sich auch zukĂŒnftig die StabilitĂ€t des Systems weiter entwickelt.
Der Bezug zum Thema "Verwundbarkeit" ergibt sich aus der benötigten Achtsamkeit! Wenn die entscheidenden Leitparameter, die das Kippen auslösen können, nicht im Detail bekannt sind, sollte eigentlich das grundsĂ€tzliche Wissen davon, dass es das PhĂ€nomen gibt, ausreichen, um die angemessene Achtsamkeit zu rechtfertigen. So scheint â als nur ein Beispiel â dem Ălpreis gegenĂŒber Achtsamkeit geboten, der entgegen anders lautenden Debatten signalisiert, es könne weitergehen wie bisher.
Imperialismus
Imperiale Lebensweise und Postkolonialismus bieten vielfĂ€ltige Ansatzpunkte fĂŒr das Thema Verwundbarkeit und fĂŒr seine Sichtbarmachung. Die Silbe âpost" deutet ein âDanach" an, als ob etwas abgeschlossen ist und wir uns in einem neuen Zeitalter befinden. TatsĂ€chlich weisen die Spuren, Normen und Strukturen des Kolonialismus in Denken und Handeln weit in die Gegenwart hinein. Energiekonzerne marschieren zwar nicht mit Waffengewalt in SĂŒdamerika ein und besetzen Land. âLandgrabbing" ist in der Regel âformal" legal. Aber es folgt letztlich denselben Regeln wie im Imperialismus, nur dass sich die Waffen, also das Instrumentarium, das die Macht begrĂŒndet, verĂ€ndert haben. Der eigene Wohlstand wird höher gewertet als die Lebensbedingungen der âarmen" Bevölkerung in den ausgebeuteten LĂ€ndern â ein typisches Merkmal kolonialistischen Bewusstseins. Das Wort âarm" steht in AnfĂŒhrungszeichen, weil es bereits eine Projektion aus der Perspektive der Industrienationen ist.
Postkoloniales Denken bewirkt Verletzungen und Verwundungen durch seine selbstgerechte Verankerung, durch das âGefĂŒhl", industriell weniger weit entwickelte LĂ€nder an dem groĂen globalen Wirtschaftsprozess teilhaben zu lassen. Die Kleinbauernfamilien, die weder Geld noch Macht haben, deren Lebensperspektiven zerstört werden, erfahren am eigenen Leib, was âVerwundbarkeit" durch imperiales Denken und "Landgrabbing" bedeutet.
Die Industriestaaten und ihre Bevölkerung verhalten sich auch im Hinblick auf die gesamte Schöpfung imperial â nur ist hier kein RĂŒckzugsraum vorhanden.
Klimawandel
Der Klimawandel zeigt in besonderem MaĂe, wie verwundbar der Planet Erde, die Schöpfung Gottes ist â nur etwas mehr als hundert Jahre lang die AtmosphĂ€re mit CO2 angereichert, und schon kippt das Klima ...
Weisheit und Verwundbarkeit der Schöpfung gehen Hand in Hand. Der Mensch kann sich die Verwundbarkeit der Erde und seine eigene Verwundbarkeit, die erst die FĂŒlle seines geistigen Lebens erschlieĂt, nur leisten, wenn er die Weisheit und Klugheit, die ihm möglich sind, auch anwendet. Was das als Konsequenz fĂŒr âKirche" bedeutet, spricht die Wuppertaler ErklĂ€rung aus.
KĂŒkenschreddern
Das Schreddern mĂ€nnlicher KĂŒken gleich nach ihrer Geburt, weil sie keine Eier legen können, ist ein GrĂ€uel fĂŒr das christliche Bewusstsein. Die Verwundbarkeit der Tierwelt zeigt sich hier in Verbindung mit Ohnmacht. In der öffentlichen Diskussion erscheint dagegen unser Wirtschafts-, oder besser Wohlstandssystem als so âverwundbar", dass es sich nicht leisten kann, mĂ€nnliche KĂŒken am Leben zu lassen. An dieser Stelle macht sich die Verwundbarkeit der menschlichen Seele bemerkbar, der dieses Prinzip â wie auch die Formen der Massentierhaltung â widerstrebt. Verletzlichkeit und der Kampf gegen Abstumpfung machen das Wesen des Schwerpunkthemas 2019/20 aus, wie im folgenden Abschnitt von Barbara Janz-Spaeth anschaulich zusammengefasst wird.
âVulnerabilitĂ€t" â was ist das?! (eine EinfĂŒhrung von Barbara Janz-Spaeth, Bistum Rottenburg-Stuttgart)
Das Thema VulnerabilitĂ€t ist grundlegend im entwicklungspolitischen Kontext angesiedelt. Nicht nur, dass VulnerabilitĂ€t im Diskurs von Armut und Reichtum seinen Ursprung hat â und nach vielen Jahren nun auch endlich im theologisch-kirchlichen Diskurs aufgenommen wird, sondern auch, weil es eine Verstehens- und Deutungsperspektive im globalen und individuellen Denken und Handeln einbringt und in Verbindung mit der Theologie auch Zukunftsperspektiven fĂŒr Kirche und Gesellschaft einbringen kann. So hat das Thema VulnerabilitĂ€t eine groĂe Bedeutung, wenn es um Kolonialismus und Postkolonialismus, um Ausbeutung von Ressourcen damals und heute, um âIch zuerst-Haltungen" geht. Dies gilt genauso fĂŒr den Themenkomplex der Geschlechtergerechtigkeit und die Aufarbeitung der Folgen der Rassentrennung. Bedeutung bekommt VulnerabilitĂ€t aber auch in innerkirchlichen Diskussionen, wenn Religionspraktiken ausgrenzend und ĂŒbergriffig ausgeĂŒbt wurden und werden.
VulnerabilitÀt darf nicht ein individuelles Problem bleiben. Auch ganze Völker, StÀmme, Gemeinschaften erfahren Verletzungen, die nur durch die ganze (Völker-) Gemeinschaft so aufgearbeitet werden können, dass daraus konstruktive Wege in eine gemeinsame Zukunft gefunden werden können.
Das grundlegende christliche Glaubensbekenntnis, dass Gott in seiner Menschwerdung sich selbst der Verletzbarkeit aussetzt und in Jesus Christus am Kreuz gĂ€nzlich sich der Verwundbarkeit hingab, wird im befreiungstheologischen Denken als der SolidaritĂ€tsakt Gottes mit den notleidenden Völkern und Menschen verstanden und geglaubt. FĂŒr nicht wenige Menschen ist dies die Hoffnung schlechthin, unter unmenschlichen Bedingungen nicht zu kapitulieren, sondern Verwundungen in Kauf zu nehmen, damit die Welt besser wird â so wie Gott es selbst getan hat und stets aufs neue tut.
Wenn "nachhaltig predigen" das Thema VulnerabilitĂ€t als Schwerpunktthema aufnimmt, dann geht es darum, dass vorhandene Verletzungen offen und ehrlich benannt werden â im individuellen und globalen Kontext â und dass Menschen mithilfe der christlichen Botschaft ein konstruktiver Umgang mit erlittenen Verletzungen ermöglicht wird. VulnerabilitĂ€t wehrt sich gegen Sicherungssyteme, die scheinbar Verletzungen verhindern mit dem Preis, dass noch mehr Menschen verletzt werden. Mauern und GrenzzĂ€une dienen dazu, sich scheinbar unverletzbar zu machen â und die, die an diesen GrenzzĂ€unen stehen, ganz und gar aus dem Blick zu verlieren. Das aber ist grundlegender Auftrag der Kirche: die SolidaritĂ€t und konkrete UnterstĂŒtzung von Menschen, die niemand mehr an-sieht. Kirchliche Hilfswerke wie "Brot fĂŒr die Welt" und "Misereor" sind hier beispielhaft und vorbildlich unterwegs und deshalb in einer Welt, die rĂŒcksichtslos den eigenen Vorteil und die eigene Unverwundbarkeit sichern will, nötiger denn je, damit Hilfeschreie der Menschen nicht verstummen.
âVulnerabilitĂ€tsdiskurs" und weitere Einblicke
Das Thema Verwundbarkeit oder VulnerabilitÀt ist im christlich-theologischen Diskurs weiter verbreitet und tiefer verankert als man im gesellschaftlichen Alltag vermutet.
Vertiefende Einblicke vermittelt u. a. das Portal https://vulnerabilitÀtsdiskurs.de der Theologin und Religionswissenschaftlerin Prof. Dr. Hildegund Keul.
Eine EinfĂŒhrung in die Begrifflichkeit und zur theologischen Verankerung des Themas enthĂ€lt die Dissertation âVerwundbarkeit gestalten" von Dr. Miriam Leidinger.