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Sind Erdgas- oder Atom-Kraftwerke auf einmal »nachhaltig« — trotz Klimawandel und radioaktiver Abfälle, trotz der Gefahr eines Super-GAU und trotz des Kriegs in der Region um Tschernobyl in der Ukraine?
Darüber wird in der EU - seit den Präsidentschaftswahlen in Frankreich 2022 - aktuell wieder gestritten.
Eigentlich war doch längst alles klar ...!
Die EU-Verordnung 2020/852 (EU Taxonomie Verordnung) enthält Kriterien zur Bestimmung, ob eine Wirtschaftstätigkeit als ökologisch nachhaltig einzustufen ist. Sie verpflichtet die Finanzmarktteilnehmer, z. B. Investmentfonds, die ein Finanzprodukt als »ökologisch« vermarkten wollen, zum einen, über den Anteil an ökologisch nachhaltigen Investitionen im Sinne der Verordnung in ihrem Portfolio zu berichten. Zum anderen gibt sie vor, welche Investitionen in diesem Sinne als »nachhaltig« gelten. Da ökologische Investitionen in der EU begünstigt werden, verbessert sich damit die Rendite für diese Ínvestitionen. Die Verordnung soll der Neuausrichtung von Kapitalströmen mit Fokus auf nachhaltige Investitionen dienen.
In diesem Zusammenhang übt einerseits die Lobby der Rüstungsindustrie Druck aus, den Bau von Waffen als sozial nachhaltige Wirtschaftsaktivtät in die soziale Taxonomie aufzunehmen. Zum anderen soll auf diese Weise durch die Hintertür der Bau von Atomkraftwerken wieder salonfähig gemacht werden. Für Brot für die Welt und MISEREOR ist das Greenwashing im Rahmen des so genannten Green Deal: »Weder fossiles Erdgas noch Atomkraft haben in einer klimaneutralen Welt einen Platz. Von Nachhaltigkeit kann bei beiden keine Rede sein.«
»Waffen sind nicht sozial nachhaltig« / »Green-Labeling von Atomkraft und Erdgas heizt Konflikte im globalen Süden an« / »EU-Taxonomie: Atom und Gas sind nicht nachhaltig«
Weihbischof Rolf Lohmann: Kernenergie als ethische Frage (Auszug aus dem Grußwort zum Schwerpunktthema "frei - fair - handeln")
Eine Technologie, bei der die Frage nach der Gerechtigkeit gegenüber nachfolgenden Generationen eine besondere Relevanz entfaltet, ist die Atomkraft, schließlich ist die Endlagerproblematik nicht gelöst und nukleare Unfälle sind nie völlig auszuschließen. Die „Taxonomie", also das Regelwerk auf EU-Ebene zur Einordnung des Nachhaltigkeitsgrades von Investitionen, bewertet Kernenergie als eine Übergangstechnologie auf dem Weg zur Treibhausgasneutralität, aber nicht als nachhaltige Energiequelle für die Menschheit für alle Zeiten. Mir scheint es wichtig, für die eigene Sichtweise zu werben, aber auch zu respektieren, dass die Einschätzung zu dieser Technologie in anderen Ländern von der Position der deutschen Bundesregierung abweicht. In Debatten und Verhandlungen dürfen wir davon ausgehen, dass niemand solche grundlegenden Entscheidungen leichtnimmt. Wie sieht nun der richtige Weg aus? Welche Alternativen sind zu welchen Kosten möglich? Wie viel Energie brauchen wir überhaupt? Auch bei uns ist die Debatte über Chancen und Risiken der Kernenergie unter veränderten globalen Rahmenbedingungen noch nicht beendet. Festzuhalten ist, dass der Umgang mit der Kernenergie eine zutiefst ethische Frage ist, denn kaum eine andere Technologie verdeutlicht so sehr die Ambivalenz zwischen nutzbringender Leistungsfähigkeit und zerstörerischem Potential von Technik. Es war daher angemessen, dass die Bundesregierung nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011 eine Ethik-Kommission Sichere Energieversorgung eingesetzt hat. Ein zentrales Gebot der Fairness ist es vor diesem Hintergrund auch, die Endlagerfrage in Deutschland zu lösen. Dies muss gründlich geschehen, aber eben auch in absehbarer Zeit, damit diese Problematik nicht noch zusätzlich künftigen Generationen aufgelastet wird.
Timo Luthmann, Atomkraftgegner und Aktivist bei »Ausgestrahlt«: »Eine EU-Taxonomie mit fossilem Gas und Atomkraft kehrt den eigentlichen Sinn der EU-Taxonomie, nämlich Greenwashing zu verhindern und Orientierung für nachhaltige Investitionen zu schaffen, um. Sie wird selbst zum Super-Greenwashing. Wenn man sich den Vorschlag für die Taxonomie der EU-Kommission in Sachen Atomkraft hier genauer anschaut, sieht man, dass die Gewinnung des Urans mit massiven Umweltzerstörungen und Menschenrechtsverletzungen komplett ausgeblendet wird, genauso wie die Unfallgefahr dieser Risikotechnologie. Außerdem wird völlig unzureichend auf die Entsorgungsfrage eingegangen, die auf mehr als 100.000 Jahre die Generationen belastet. Dies ist weder nachhaltig, noch entspricht es dem ›Do-not-significant-Harm‹-Kriterium, der Leitidee der Taxonomie, dass die nachhaltigen Wirtschaftsaktivitäten keinen Schaden anrichten sollen.
Es ist wichtig, das nun Bürger*innen, die Zivilgesellschaft und die Kirchen sich an die Europa-Abgeordneten wenden, die als letzte diese strategische Fehlentscheidung aufhalten können! Nur so kann verhindert werden, das mit Hilfe der EU-Taxonomie gigantischen Fehlinvestitionen in Atomkraft und fossiler Infrastruktur getätigt und gleichzeitig die erneuerbaren Energien ausgebremst werden.«
Leitbild »Nachhaltige Entwicklung« (Brundtland-Bericht 1987): »Sustainable development meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.« Das heißt: Nachhaltig ist eine Entwicklung, »die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen«.
Aus einer Stellungnahme des Rates für Nachhaltige Entwicklung vom 30.05.2022: »Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in Wirtschaft, Politik und Verwaltung müssen sich für Neues öffnen und den Willen und Mut zum erforderlichen Kurswechsel aufbringen. Eine Aufbruchsstimmung ist notwendig. Es dürfen keine Innovationen gefördert werden, die den Zielen einer sozial-ökologischen Transformation zuwiderlaufen.«
Zitat aus der »Energiedepesche« 1/2022 (Monatszeitschrift des Bunds der Energieverbraucher e.V.): »EU beschließt Etikettenschwindel - ... Die EU-Kommission unter dem Vorsitz Ursula von der Leyens habe die von den Wissenschaftlern erarbeiteten Regelungen ins Gegenteil verkehrt, beschwert sich Professor Andreas Hoepner, einer der ... Experten. ›Das ist so, als würde man Pommes als Salat bezeichnen!‹« (S. 6)
Auch EU-Ausschüsse lehnen den Vorschlag der EU-Kommission ab: Die EU-Parlamentarier des Umwelt- und des Wirtschaftsausschusses haben am 14.06.22 den Vorschlag der EU-Kommission abgelehnt. Atomkraft und fossiles Gas würden die vorgesehenen Standards die Kriterien für ökologisch nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten der Taxonomieverordnung nicht einhalten. Dennoch hat das EU-Parlament am 6.07.22 gegen die Empfehlung der beiden Ausschüsse entschieden. Österreich und Luxemburg haben Klage gegen den Beschluss angekündigt.
Leonore Gewessler, Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie in Österreich, hat »nachhaltig predigen« dazu am 8.07.2022 folgendes Statement übermittelt: »Gerade vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine darf es kein Greenwashing-Programm für Investitionen in Atomkraft und fossiles Gas geben. Klar ist: Atomkraft und Erdgas sind kein Beitrag zum Klimaschutz.
2050 wird Europa der erste klimaneutrale Kontinent unserer Erde. Die heutige Entscheidung zur Taxonomie-Verordnung wird dem Green Deal und den europäischen Bemühungen für eine gute und klimafreundliche Zukunft nicht gerecht. Sie ist weder glaubwürdig, ambitioniert noch wissensbasiert, gefährdet unsere Zukunft und ist mehr als verantwortungslos. Österreich wird, sobald dieses Greenwashing-Programm in Kraft tritt, die bereits vorbereitete Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV beim Europäischen Gerichtshof einbringen.
Wir haben uns in den letzten Wochen und Monaten bereits intensiv auf diesen Fall vorbereitet und werden unsere Klage im Rahmen der dafür vorgesehenen Frist einreichen. Luxemburg hat bereits zugesagt, sich an einer Klage zu beteiligen. Wir werden die nächsten Wochen und Monate weiter dazu nützen, weitere Verbündete zu gewinnen. Denn eine breite Kritik an der Aufnahme der Kernenergie und fossilem Gas in die Taxonomie-Verordnung gibt es mit gewichteten Stimmen auch aus anderen EU-Staaten.« (Bild: ©BMK/Cajetan Perwein)
Klage eingereicht: Am 10.10.2022 gab die Österreichische Bundesregierung bekannt, dass Österreich beim Europäischen Gerichtshof Klage gegen die Taxonomie-Verordnung eingereicht habe.
(zum Bericht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung)
Handlungsansätze vor Ort: Diskussion in der Gemeinde (Erwachsenenbildung, Jugendarbeit): Greenwashing von nicht zukunftsfähigen Technologien nicht länger hinnehmen, das Gespräch mit den lokalen (EU- / Bundestags- / Landtags-) Abgeordneten aufnehmen, in die Kirchengemeinde einladen: Wie sollen Abgeordnete die Interessen der Menschen in ihrem Wahlkreis vertreten, wenn sie deren Interessen und Wünsche nicht kennen, sondern immer nur von Lobby-VertreterInnen aufgesucht werden?!